| # taz.de -- Erschütternde Polizeigewalt: Gewaltmonopol geht nur mit Gewalt | |
| > Viele Menschen sind schockiert, wenn sie die Staatsgewalt zum ersten Mal | |
| > selbst erfahren. Dabei macht die Polizei oft nur genau das, wofür sie da | |
| > ist. | |
| Bild: Es ist keine schöne Erfahrung, die Polizei bei ihrer Arbeit zu erleben | |
| Erinnern Sie sich an die Wut, die in Ihnen aufsteigt? An das Gefühl von | |
| Machtlosigkeit und Ausgeliefertsein gegenüber dem Staat, wenn Sie mit dem | |
| Fahrrad in eine Lichtkontrolle geraten? Das Gefühl, wenn es klopft, weil | |
| Sie zu laut gefeiert haben, oder wenn der Brief vom Finanzamt eintrudelt, | |
| der eine Nachzahlung verlangt? Oder wenn Sie mal wieder auf dem Weg von der | |
| Arbeit als einzige aus einer Menschenmenge herausgepickt und durchsucht | |
| werden? Letzteres kennen Sie vermutlich nur, wenn Sie keine Kartoffel sind. | |
| Obwohl nicht üblich verdächtig, hatte Julian Reichelt vor ein paar Tagen | |
| Ärger mit der Polizei. [1][Der Spiegel berichtete] über seinen erzwungenen | |
| Besuch auf einer Polizeiwache, weil der geschasste Bild-Chefredakteur zu | |
| seinem Onlineticket in der Bahn keinen der anerkannten Identitätsnachweise | |
| vorlegen konnte. Reichelt stellt es etwas anders dar, sei aus Bremen | |
| gekommen und nicht aus München, bekundete auf Twitter noch seine Liebe zur | |
| Antiterroreinheit GSG9, etwas kontextlos, weil in seinem Fall zum Glück ja | |
| gar nicht nötig. | |
| Dass er aber überhaupt belästigt wurde, das regte ihn schon auf: | |
| „Angesichts zahlreicher Klaubanden in und direkt vor dem Bahnhof und | |
| unzähliger Menschen, die ohne Papiere bei uns ankommen, frage ich mich, ob | |
| vollzahlende Erste-Klasse-Kunden wirklich die höchste polizeitaktische | |
| Priorität haben sollten“, schrieb Reichelt. | |
| ## Gewalterfahrung als Klassenfrage | |
| Die Erfahrung mit der Staatsmacht, die Realisierung von Herrschaft, fällt | |
| unterschiedlich aus, je nachdem ob Sie reich oder arm sind, zur | |
| Mehrheitsgesellschaft gehören oder nicht. Offiziell sollte das nicht so | |
| sein, praktisch ist es wahr. Für Julian Reichelt ging es glimpflich aus. | |
| Wer keinen Aufenthaltstitel hat oder die Strafe für Schwarzfahren nicht | |
| bezahlen kann, den könnte [2][die gleiche Situation] über den Rand des | |
| sozialen Abgrunds ziehen. | |
| Gerade in den letzten Jahren mehrten sich Begegnung mit der Polizei für | |
| Menschen, die darin bis dato keine Erfahrung hatten: Auf Querdenker-Demos | |
| reagierten die wütenden BürgerInnen besonders entrückt, wenn die Beamten | |
| Ihnen mal Grenzen setzten. Viele kannten das einfach nicht. | |
| Ich selbst bin mit Gewalt der Polizei von linken Demonstrationen vertraut. | |
| Sie überrascht mich nicht mehr, wenn ich Videos von Festnahmen sehe oder | |
| Bilder von knüppelschwingenden Uniformierten [3][beim Einsatz gegen den | |
| Klimaprotest in Lützerath]. Spontane Empörung steigt dann auch in mir auf. | |
| Gleichwohl bewerte ich das Verhalten meist als legal. Dass PolizistInnen | |
| für den Staat kontrollieren, regeln, schlagen und verletzen, ist nicht nur | |
| alltäglich: Es ist ihr Job. Eine Verharmlosung? Im Gegenteil. Nicht nur | |
| illegale Ausschläge im Polizeialltag – rassistische Kontrollen oder | |
| ungerechtfertigte Brutalität – müssen wir kritisieren, sondern die | |
| Beschaffenheit der Institution an sich. | |
| Doch: Warum sind so viele Menschen von legaler Gewalt überrascht, wenn sie | |
| ihnen erstmals begegnet? | |
| ## Anruf beim Experten | |
| Anruf bei Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie und Strafrecht in | |
| Frankfurt. Gewalt, so erklärt er, werde in unserer Gesellschaft zunehmend | |
| geächtet. „Umso erstaunter sind Menschen, wenn sie sie sehen und ihr | |
| undifferenziert positives Bild von der Polizei erschüttert wird.“ Ob nun | |
| unrechtmäßig oder juristisch in Ordnung: „Polizei ist auf Legitimität | |
| angewiesen und darauf, dass sie in der Gesellschaft anerkannt wird.“ | |
| Wenn ihre Gewaltausübung heute nicht mehr so akzeptiert wird, bedürfe es | |
| einer Anpassung. Gesellschaftsbilder gerieten partiell ins Wanken, „wenn | |
| die Leute mit den Widersprüchen zwischen ihrer Sicht auf die Polizei und | |
| den erlebten Erfahrungen konfrontiert sind“. | |
| Außer, man ist eben ein autoritärer Charakter und kanalisiert seine Wut | |
| weiterhin nicht nach oben, sondern schimpft auf die Bahn, die Schaffnerin | |
| oder auf Flüchtlinge. | |
| 17 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/julian-reichelt-und-der-vorfa… | |
| [2] https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/wp-content/uploads/2020/04/Haubner-St… | |
| [3] /Polizeigewalt-in-Luetzerath/!5906671 | |
| ## AUTOREN | |
| Jean-Philipp Baeck | |
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