Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Was die 68er-Bewegung heute bedeutet: Magie der Träume
> Occupy Wallstreet oder Nuit debout – aktuelle Bewegungen knüpfen an die
> 68er an. Sie glauben daran, dass „eine andere Welt“ möglich ist.
Bild: Auch er träumte – vom Ende des Vietnamkriegs
Kulturell erfolgreich, aber politisch gescheitert. So lautet ein weit
verbreitetes Urteil über die „Rebellion“ von 1968. Bestimmt wird es von der
Erinnerungspolitik derjenigen Akteure, die das Scheitern, das sie im
Zerfallsprozess der 68er-Bewegung erlebten, vor allem in den dogmatischen
K-Gruppen, auf die gesamte Bewegung übertragen. Wurden die politischen
„Ideen von 1968“ tatsächlich vom Winde verweht? Bleibt am Ende nur der
Abgesang auf die „Megaphantasien“ und das Bekenntnis „Wir haben verloren …
Gott sei Dank“ oder der Verweis auf die RAF?
Das wäre eine Blickverengung. Was von „1968“ innovativ weiterwirkt,
entstammt nicht der Endphase, sondern der Formierungs- und
Mobilisierungsphase der 68er-Bewegungen, die in allen westlichen
Industrieländern von einer Neuen Linken geprägt worden sind.
Sie formierte sich Ende der 1950er Jahre im Umkreis von Zeitschriften wie
Socialisme ou Barbarie, Arguments, Internationale Situationniste, die in
Frankreich erschienen, oder der New Left Review in Großbritannien. Die Neue
Linke grenzt sich von der alten Linken, den sozialdemokratischen und den
kommunistischen Parteien gleichermaßen ab.
Sozialismus kann und soll sich nicht erschöpfen in der Eroberung der
politischen Macht (politische Revolution) und der Verstaatlichung der
Produktionsmittel (soziale Revolution). Die Neue Linke weist diese
Strategie der zwei Schritte in eine andere Gesellschaft zurück. Nicht
Machteroberung, sondern die Veränderung von Machtstrukturen, der Abbau von
Herrschaft und Hierarchien ist ihr Ziel. Die Neue Linke ist antiautoritär.
Ins Zentrum ihrer Kritik rückt die Entfremdung in der Lebens- wie in der
Arbeitswelt, nicht die Ausbeutung.
Der politischen und sozialen Transformation müssen, so ihre Prämisse,
kulturelle Veränderungen vorausgehen. Neue Kulturideale, Kommunikations-
und Lebensformen sollen antizipatorisch entfaltet und in Subkulturen oder
als „Gegenmacht“, „Gegenöffentlichkeit“, „Gegenkultur“ innerhalb
bestehender Institutionen erprobt werden. Gegenkulturellen Räumen wird eine
produktive Negativität zugeschrieben. Kernelemente der zukünftigen Ordnung
sollen so ausgelotet, die Zukunft soll in die Gegenwart geholt werden. Die
Ideen der Neuen Linken gewinnen Handlungsmacht, als eine studentische
Bewegung sie in den 60-er-Jahren in die Praxis zu überführen beginnt.
## Selbstverwaltung und Selbstverwirklichung
Die studentische Neue Linke facht in allen westlichen Industrieländern
einen Mobilisierungsprozess an. Sie verfolgt zwei Leitideen zur
Transformation der Gesellschaft: generalisierte Selbstverwaltung und
Selbstverwirklichung. „Autogestion“ heißt die magische Formel, die im Mai
68 in Frankreich Studenten und Arbeiter im größten Generalstreik der
Nachkriegszeit zusammenführt. Allein in Paris entstehen 400
Stadtteilkomitees.
In den USA propagieren die „Students for a democratic society“ (SDS)
„Participatory democracy“ als Maxime. Verbunden mit beiden Konzepten ist
die Erwartung, durch Teilhabe- und Mitgestaltungschancen von Individuen und
Gruppen Apathie und Indifferenz in der Gesellschaft aufbrechen zu können
und über die Veränderung von Entscheidungsprozessen einen Wandel
gesellschaftlicher Strukturen – zwischenmenschlich wie auch institutionell
– einzuleiten.
Auch der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) verfolgt diese
Transformationsstrategie, wenngleich ihm das magische Schlüsselwort fehlt.
Er fordert eine Demokratisierung aller Teilbereiche der Gesellschaft.
Repräsentanten des antiautoritären Flügels setzten sich für den Aufbau
rätedemokratischer Strukturen nach dem Vorbild der Pariser Kommune von 1871
ein. Deliberative, direkte Demokratie lautet auch in der Bundesrepublik die
Alternative, mit der die Neue Linke 1968 die repräsentative Demokratie
konfrontiert.
Im Zentrum von 1968 steht aber etwas, was man mit Herbert Marcuse und
Pierre Bourdieu Revolution der Wahrnehmung nennen kann. Die 68er-Bewegungen
in den USA, Frankreich und in Westdeutschland erneuern mit ihren
Protestformen und -zielen die Kritik an der Gesellschaft, so die These der
französischen Sozialwissenschaftler Luc Boltanski und Ève Chiapello. 2003
klassifizieren sie diese Innovation in ihrem Buch „Der neue Geist des
Kapitalismus“ als Übergang von der „Sozialkritik“ zur „Künstlerkritik…
Dazu gehört auch die Strategie der „Konstruktion von Situationen“. Das
Konzept ist der künstlerischen Avantgarde entlehnt.
„Wer Situationen konstruiert“, so ist schon 1959 in der Situationistischen
Internationale zu lesen, „wandelt, indem er durch seine Bewegung auf die
äußere Natur wirkt und sie umwandelt, zugleich seine eigene Natur um“. Die
Experimente der Situationisten schlossen die Sprache ein: das „Entwenden“
und die Umdeutung von Begriffen, um über den Moment der dadurch ausgelösten
Entfremdung eine neue Sicht auf gesellschaftliche Zusammenhänge
herbeizuführen. Der antiautoritäre Flügel des SDS setzte es 1966 in der
Plakataktion „Erhard und die Bonner Parteien unterstützen Mord“ ein. Er
übertrug den Strafrechtsbegriff auf Regierungshandeln und provozierte damit
die Öffentlichkeit und den SDS.
## Das Politische vom Staat lösen
Das Konzept setzt auf Revolutionierung der Köpfe durch Aktion. Das ist auch
das Ziel der „direkten Aktion“, die, dem Anarchismus entlehnt, unter
anderem zur Besetzung von Theatern, Plätzen, Parks eingesetzt wird, um
„autonome Räume“ für eine kritische Aussprache über die
Gegenwartsgesellschaft zu ermöglichen, an der sich alle beteiligen können.
Im Mai 68 „das Wort ergriffen“ zu haben, wird in Paris der „Eroberung der
Bastille 1789“ gleichgesetzt.
Seit den 1990er-Jahren knüpfen globalisierungskritische Bewegungen an die
Strategien der Neuen Linken an. Erneut wird auf die Schaffung von autonomen
Räumen gesetzt, um direkt-demokratische, horizontale Kommunikations- und
Beziehungsformen zu erproben. Die Zapatisten in Mexiko (1994), Occupy
Wallstreet und die Indignados in Spanien (2011) sowie die Bewegung Nuit
debout in Frankreich (2016) sind illustrative Beispiele dafür. Mit den
68er-Bewegungen teilen sie die Überzeugung, dass „eine andere Welt“ mögli…
ist und ohne die Eroberung der politischen Macht im Staat erreicht werden
kann.
Der Politikbegriff der Neuen Linken, der das Politische vom Staat löst,
wird ebenso weitergeführt wie das Selbstverständnis, eine transnationale
Bewegung zu sein, und die Opposition gegen Gegner auch außerhalb der
nationalen Grenzen (supranationale Organisationen, transnationale Konzerne,
globale Machtsphären).
Die Bewegungen verfolgen zwei Pfade: den Aufbau von „Erfahrungsräumen“, die
den Anspruch erheben, sich der Logik des globalen Marktes zu entziehen,
sowie die Schaffung von „Expertisenräumen“, in denen sich Intellektuelle
verbinden, um eine Gegenmacht gegen den hegemonialen neoliberalen Diskurs
zu etablieren. Einen Moment, in dem der Funke des Protests wie 1968 in alle
Teilbereiche der Gesellschaft springt, haben sie noch nicht erreicht.
Hoffnung auf die Motorik des sozial Imaginären der 68er-Bewegung taucht
gegenwärtig in der jungen Intelligenz auf. Die französische Historikerin
Ludivine Bantigny widmet ihre Habilitationsschrift „1968. De grands soirs
en petits matins“ (2018) „denjenigen, die den ‚Mai gemacht‘ haben, für
ihren Mut und ihre Träume, die uns weiterhin tragen“. Die Ökonomisierung
aller Teilbereiche unserer Gesellschaft sowie die sozialen und ökologischen
Folgen einer Globalisierung im Geist des Neoliberalismus fordern erneut –
wie 1968 – zur Wortergreifung und Revolution der Wahrnehmung heraus.
5 Apr 2018
## AUTOREN
Ingrid Gilcher-Holtey
## TAGS
Nuit debout
Schwerpunkt Occupy-Bewegung
Schwerpunkt 1968
Politisches Buch
Karl Marx
Schwerpunkt Utopie nach Corona
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt 1968
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt 1968
Schwerpunkt 1968
Schwerpunkt 1968
Schwerpunkt 1968
Schwerpunkt 1968
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt 1968
## ARTIKEL ZUM THEMA
68er-Buch „Der gläserne Sarg“: Deutsche Kulturrevolutionäre
Die Ikone Mao wirkte sehr anziehend: Willi Jasper, Mitgründer der KPD/AO,
legt mit „Der gläserne Sarg“ ein selbstkritisches 68er-Buch vor.
Betrachtungen zum Charakter des 1. Mai: Aus der Umlaufbahn geworfen
Was ist Revolution? Die autonome Neudefinition von Regeln? Zum
bevorstehenden internationalen „Kampftag der Arbeiterklasse“ lohnt der
Rückblick.
Schriften zu Anarchie und freier Liebe: Herr Rossi sucht das Glück
Giovanni Rossi gründete 1890 in Brasilien die Kolonie Cecilia. Seine
Berichte erzählen von einer Utopie, die ein schillerndes Experiment wurde.
Proteste in Frankreich: Staatsmacht gegen freies Leben
Im westfranzösischen Notre Dame des Landes kommt es zu heftigen
Zusammenstößen zwischen Polizisten und Alternativen.
Debatte Individualismus im Jahr 2018: Die Rebellion läuft nicht auf Instagram
50 Jahre nach 68 gibt es kaum noch gesellschaftliche Tabus. Die
Individualisten folgen blind der Masse. Dabei ist eine echte Rebellion
nötiger denn je.
Das italienische 20. Jahrhundert: Historische Rückversicherung
Italien spürt in einer Reihe von Ausstellungen seiner Vergangenheit nach.
In Florenz geht es um die Kunst der Nachkriegs-Avantgarde.
Eskalation bei Protesten in Frankreich: Polizei geht gegen Studenten vor
Nach den Ereignissen vom Mai 1968 galt es als Tabu, die Staatsgewalt zu
rufen, wenn Studierende protestieren. Jetzt greifen Unis wieder zur Härte.
68er-Proteste in Spanien: Der Keim für eine radikale Linke
Jaime Pastor war einer der wichtigsten Studentenführer jener Zeit. Auch
wenn der Kontext ein anderer ist, sagt er, habe Podemos heute viel mit 1968
gemein.
68er-Proteste in Japan: Ausufernde Gewalt auf allen Seiten
Wer in Japan zum Studieren in die Städte zieht, muss enge Unterkünfte und
volle Hörsäle ertragen. 1968/69 entlud sich die Wut darüber in der Revolte.
Dramaturgin über Männer und 68: „Ich wollte kein Freiwild sein“
Brigitte Landes hat 68 mittendrin erlebt, aber sie hielt auch Distanz,
vieles war ihr nicht geheuer. Ein Gespräch mit der Dramaturgin über falsche
Autoritäten.
68er-Proteste in Mexiko: „Die Schläge haben mich politisiert“
Vor der Olympiade 1968 sah man Demos der Studierenden in Mexiko als
imageschädigend an. Polizei und Militär schlugen sie brutal nieder.
Quiz zur Gesellschaft der 1960er: Das Leben vor 50 Jahren
Alle reden über 1968. Aber wie war die Gesellschaft damals? Welche
Ereignisse haben die Studentenbewegung beeinflusst? Testen Sie Ihr Wissen.
Kommentar Rassismus in den USA: Rassismus überleben
Auch 50 Jahre nach der Ermordung Martin Luther Kings ist Rassismus in den
USA überall präsent. Nur die Praxis hat sich verändert.
Die 68er-Bewegung: Aufrührerisch, schamlos, frech …
… und doch auch ganz anders: Die 68er wollten Spaß und Freiheit. Vor allem
wollten sie alles Autoritäre zur Seite fegen – nicht nur an den
Hochschulen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.