# taz.de -- Die 68er-Bewegung: Aufrührerisch, schamlos, frech … | |
> … und doch auch ganz anders: Die 68er wollten Spaß und Freiheit. Vor | |
> allem wollten sie alles Autoritäre zur Seite fegen – nicht nur an den | |
> Hochschulen. | |
Bild: So sah es dann nach 1968 aus: Abkühlung bei einer Anti-Vietnamkrieg-Demo… | |
Längst schon erwachsen, erinnert sie sich an Kinder- und Jugendjahre, Hilde | |
Huckebrinker, Tochter eines Farbenhändlerpaares im Ruhrpott. Es waren die | |
sechziger Jahre. Die Wolken über ihrem Haus, so sagt sie, kamen direkt aus | |
den Schornsteinen der Industriebetriebe. | |
Ihr Bett stand im Schlafzimmer der Eltern, so hört sie sie eines Abends | |
sprechen: „Die Hilde, die hat Fantasie.“ Es klang wie eine Sorge, wie der | |
Kummer darüber, dass die Bäume ihrer Tochter in den Himmel wachsen könnten. | |
Das durfte nicht sein, das sollte bei fast allen Kindern und Jugendlichen | |
damals nicht sein: Erziehung, das gemeinsame Leben in der Familie, das | |
bedeutete, den Kindern zeitig die „Flügel stutzen“, wie es hieß, die | |
Träumerei nicht „ausarten“ zu lassen. Schule, das war Einübung auf die | |
nötigsten Kulturtechniken, auf Gehorsam, für Mädchen besonders aufs | |
Bravsein. | |
So erfahren wir es in der 2007 ausgestrahlten TV-Dokumentation „Unsere 60er | |
Jahre. Wie wir wurden, was wir sind“. Allein dieser Sechsteiler reicht aus, | |
um die Frage zu beantworten: Kann man Jüngeren die Bedeutung einer | |
Jahreszahl nahebringen, die wie keine andere gerade aus der Sicht von | |
rechten Politiker*innen, etwa denen der AfD, für Zerstörung und Zersetzung | |
steht: 1968? Und für Millionen andere, eben auch für die später unbeirrbar | |
ihren eigenen Lebensweg gehende Hilde Huckebrinker, eine Dekade der | |
Möglichkeiten, des Aufbruchs und der Zurückweisung falscher Autoritäten. | |
Also 1968. War da wirklich was? Und wenn ja – wann genau? Und durch wen? | |
Allein die ersten beiden Aprilwochen vor 50 Jahren zeigten, mit welcher | |
Wucht der stürmische – und bisweilen gewalttätig irrige – | |
Liberalisierungsdrang mit dem nicht weniger entschlossenen Bewahrertum | |
zusammenprallte: die späteren RAF-Terrorist*innen Andreas Baader und | |
Gudrun Ensslin setzten ein Frankfurter Kaufhaus in Brand – sie gaben dies | |
als revolutionären Akt aus und waren nur antiemanzipatorische Desperados; | |
in den USA wird der Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet – eine Woche | |
später der Studentenführer Rudi Dutschke in Berlin auf offener Straße | |
angeschossen. | |
Dabei waren es nicht allein Studenten und Studentinnen, die, obwohl es | |
damals viel weniger gab als heutzutage, einen gigantischen Relaunch in den | |
universitären Apparaten anstrebten. Ja, es stimmt, dieses 68 war allem | |
voran ein akademischer Relaunch derer, die damals öffentlich beachtet in | |
der dritten Reihe standen – und zugleich viel mehr. | |
68 war, die in London lehrende Historikerin Christina von Hodenberg hat | |
dies in ihrem aktuellen Buch „Das andere Achtundsechzig“ akribisch aus den | |
Quellen jener Jahre destilliert, in puncto Sozialismushoffnungen und | |
Kommunismussehnsüchten nicht einmal gut gequirlter Unsinn. Was es war, | |
sollte sich erst in den siebziger Jahren mit Macht zeigen – das war | |
tatsächlich die Erosion, Konservative würden sagen: Zerstörung der | |
Verhältnisse des Zusammenlebens. Frauen nahmen sich nicht mehr als Rippen | |
ihrer Adame wahr, sondern als eigenständige, selbstbestimmte Personen. | |
## Schlagen erlaubt, abtreiben nicht | |
Was sie bis dahin dominierte: als Frau allein nichts zu gelten, viel zu | |
früh Mutter zu werden, Sexualität zu wollen und gleich schwanger zu werden, | |
das hieß nämlich, aus allem, was Berufstätigkeit bedeuten könnte, | |
hinausgeworfen werden zu können. Eine unerwünschte Schwangerschaft war | |
strikt verboten, Adressen von hilfsbereiten Ärzt*innen wurden heimlich | |
weitergegeben – und wer keine hatte, suchte das Problem oft mit | |
Stricknadeln und kochend heißen Beckenbädern aus der Welt zu schaffen. | |
68 – das ist eine Chiffre, die dafür steht, was damals ein Laboratorium in | |
der Zeit war. In Deutschland galt das Schlagen von Kindern als | |
Strafmaßnahme bis weit in linksliberale Kreise hinein als normal, Gewalt | |
gegen Frauen, Gattinnen, als nötig. Die Doppelziffer 68 symbolisiert einen | |
Rausch der Möglichkeiten; der Historiker Detlef Siegfried hat über diese | |
Zeit der Jugendrevolten das Buch „Time Is On My Side“ geschrieben, eine | |
korrekte Skizze jener Jahre, die nicht nur in der Bundesrepublik eine des | |
Aufruhrs, der Verstörungen bei Rechten und bei Konservativen war: Der | |
Titel, nicht im Original, aber am durchsetzungsstärksten von den „Rolling | |
Stones“ gesungen, sagt fast alles: Die Zeit der Antiautoriären war auf | |
ihrer Seite. Oder wie die Chronistin Katharina Rutschky es einmal | |
formulierte: „Wir wollten gegen die knöchernen Verhältnisse anrennen, | |
liefen aber mit unseren Anliegen durch offene Türen.“ | |
Das alte Regime, die noch junge, demokratieunerprobte Bundesrepublik war | |
durchsetzt von alten Nazis, vor allem an den Schalthebeln der Behörden und | |
Ministerien, nur ausnahmsweise öffentlich sichtbar – und doch vermochten | |
sie nicht, die antiautoritären Impulse, die aus den USA herüberwehten, | |
abzuwehren. 68 – das ist eine Zahl, die für Demokratisierung, für ein | |
besseres Leben überhaupt steht. Die jungen Lebensstile waren zwar durchweg | |
angloamerikanisch geprägt, man trank Coca-Cola und begann als cooles | |
Beinkleid die Jeans zu entdecken, ließ, Reverenz an die Hippie- und | |
Beatkultur, die Haare wachsen, weil ein Fassonschnitt oder Bürstenlook nach | |
Ordnung und Ruhe oder gar Militär aussah. | |
In den USA lieferten afroamerikanische Künstler*innen die wichtigsten | |
ästhetischen Angebote für die neue Zeit, tanzbar wie Motown mit Diana Ross | |
& den Supremes, Sam Cook, Otis Redding und die gewaltige Aretha Franklin | |
mit „Respect“, worunter vieles verstanden werden konnte, der Respekt der | |
Macker oder der vor den Ansprüchen des Neuen. Muhammad Ali, | |
US-Box-Olympiasieger 1960 in Rom, war Weltmeister aller Klasse, der beste | |
unter allen bis heute. Und riskierte durch einen selbstbewussten Spruch | |
einen Karrierebruch. | |
Reporter fragten, wie er zum Vietnamkrieg und zur Kriegsdiensteinberufung | |
stehe. Und er sagte: „Ich habe kein Problem mit dem Vietcong“, der schimpfe | |
ihn jedenfalls nicht „Nigger“. Ein Skandal, dass es nur so krachte – | |
unerhört, was der Mann sich herausnahm. In der Bundesrepublik wurden diese | |
Nachrichten überliefert, aufgegriffen und richtig verstanden: Es sollten | |
noch viel mehr Leute es ihm nachtun und schamlose Fragen zurückweisen. Und | |
Wünsche wachsen lassen, dass die Bäume doch in den Himmel wachsen, mit | |
aller Fantasie, auf dass sie nicht gestutzt werden können. | |
## Frau war nur, wer in einer Ehe lebte | |
Junge Leute wurden beschimpft auf der Straße. Männer mit Bärten und langen | |
Haaren, Frauen im Minirock, endlich mal nicht ihr gewünschtes Selbst in | |
züchtigen, antierotischen Klamotten verstecken müssend: Gammler, Pinscher, | |
Uhus, echauffierte sich schon Kanzler Ludwig Erhard (1963–66), der die Welt | |
auch nicht mehr verstand. | |
Noch galt der Kuppeleiparagraf, nach dem sich strafbar machte, wer Zimmer | |
an Unverheiratete vermietete. Homosexualität war strafgesetzlich verboten, | |
die christlichen Kader hatten die Nazifassung des § 175 einfach | |
weitergelten lassen, und das, um ihn auch wirken zu lassen, einschüchternd, | |
kontrollierend, knastbedrohlich. Wehrdienstverweigerer mussten sich einer | |
peinlichen Prüfung unterziehen, im Fall des Erfolgs musste ein junger Mann | |
dann „Ersatzdienst“ leisten. Unverehelichte Frauen wurden „Fräulein“ | |
genannt, eine Frau war nur, wer in einer Ehe lebte. | |
68 war eine in die Tiefe gehende Renovierung dessen, was die SPD in den | |
frühen Siebzigern „Modell Deutschland“ nennen sollte – und doch von den | |
Millionen Protagonist*innen der Aufräumarbeiten nicht so verstanden wurde. | |
Um „Deutschland“ ging es nicht, man war ja Teil eines internationalen | |
Protests: Nicht nur die Universitäten mussten den neuen, nicht mehr so sehr | |
elitären Bildungschancen angepasst werden. | |
Viel mehr noch: Der Strafvollzug wurde heftiger Kritik unterzogen, die | |
Unterbringung von Kindern und Jugendlichen, die als gefährlich erkannt | |
wurden, in Heimen empfand man als skandalös, und jene, die das mit der | |
TV-Dokumentation „Bambule“ am besten schaffte, war die spätere | |
RAF-Terroristin Ulrike Meinhof. Psychiatrien, Krankenhäusern, Schulen – | |
überall moderte noch der Modus der Verwahrung, des Autoritären und der | |
Gewalt. Es herrschte weithin ein Ton von Befehl und Gehorsam: Seit den | |
sechziger Jahren wurde nichts von diesen Apparaten in Ruhe gelassen. | |
Doch der Aufbruch zeichnete sich ja schon lange ab, er blieb nur in der | |
Minderheit, bis das passierte, was heutzutage als 68 verstanden wird. Kunst | |
und Kultur waren schon in den fünfziger Jahren am Entschlacken ihres | |
Naziballasts; die erste Documenta in Kassel fand schon 1955 statt. In den | |
schon damals hoch subventionierten Theatern herrschte Experimentierlust. | |
## The Beatles meet Michael Holm | |
Auf der Burg Waldeck in Rheinland-Pfalz fanden seit 1964 | |
Liedermacherfestivals statt, auf denen sich später prominente Künstler (in | |
erster Linie männliche) für eine andere, nicht schunkelselige Musik | |
engagierten: Reinhard Mey, Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader – man | |
wollte auch wie in den USA Künstler haben wie Joan Baez, Phil Ochs, Bob | |
Dylan and you name it … | |
In der populären Musik aber, in den Charts und Hitparaden, spiegelte sich | |
die Ambivalenz jener Jahre. In ihren Chroniken wird sichtbar, dass der | |
Aufbruch nicht widerspruchslos hingenommen wurde. Einerseits Songs der | |
Beatles, der Stones und des Beats überhaupt, Soul von Aretha Franklin, Otis | |
Redding oder Smokey Robinson – und obendrein eine deutsche Sängerin, die | |
für das bessere deutsche Liedgut stand, Alexandra, die etwa mit | |
Taigamelancholie und einem Lied wie „Sehnsucht“ so etwas wie der | |
aussöhnliche Kommentar zur Ostpolitik der Ära Willy Brandts werden sollte. | |
Unter den Sängern gab es auch einen wie Michael Holm, in den Siebzigern | |
eine Art Idol begehrender Mauerblümchen („Tränen lügen nicht“), der sich | |
ausdrücklich als 68er verstand, aber, so sagte er, „mit den russischen | |
Panzern in Prag 1968 war es vorbei, ich wollte mit diesen Sozialisten nicht | |
mehr zu tun haben“. | |
Aber zugleich auch gab es, ob sie dies wollten oder nicht, deutsche | |
Seligkeit nach den Mustern von Peter Alexander, Karel Gott und einem kaum | |
pubertierenden Jungen aus den Niederlanden, Heintje, der eine gefühlte | |
Ewigkeit die Topposition mit seinem Lied „Mama“ blockierte: Es gab unter | |
uns Heranwachsenden buchstäblich niemanden, der dieses Monstrum an | |
jüngelchenhafter Gestriegeltheit, an präkastrierter Sinnlosigkeit nicht | |
voller Faszination gehasst hat: He was the real smiling evil! | |
Die Kräfteverhältnisse waren prekär: Time was on their sides – aber die | |
anderen, die Gegner hatten nur eine Schwächephase, sie sollten | |
wiederkommen. Der Kulturkampf um das, wofür 68 steht, war noch lange nicht | |
gewonnen. Aber damals bekam die Chose Wind unter die Flügel, und sei es in | |
den akademischen Milieus, aber eben nicht hauptsächlich unter diesen, um | |
die autoritären Charaktere zur Seite zu fegen: Sie hatten moralisch ihre | |
Legitimität verloren – sie konnten immer nur „Betreten des Rasens verboten… | |
lallen und andere Tut-man-nicht-Formeln. Das Wichtigste aber war: Autorität | |
musste begründet werden, sie konnte nicht mehr sprachlos akzeptiert werden. | |
2 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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