# taz.de -- 68er-Proteste in Mexiko: „Die Schläge haben mich politisiert“ | |
> Vor der Olympiade 1968 sah man Demos der Studierenden in Mexiko als | |
> imageschädigend an. Polizei und Militär schlugen sie brutal nieder. | |
Bild: Brutal gingen die Polizisten in Mexiko-Stadt gegen Demonstranten vor | |
Ob sie schon mal in Kuba oder der Sowjetunion gewesen sei? Warum sie Marx | |
und Lenin lese? Ana Ignacia Rodríguez war erstaunt über die Fragen, die ihr | |
die Beamten des Innenministeriums stellten. Es war das erste von vielen | |
Verhören, das die Mexikanerin über sich ergehen lassen musste. Man | |
bezeichnete sie und die anderen Studierenden der 68er-Bewegung schlicht als | |
Marionetten Moskaus. | |
„Das kommunistische Komplott war eine Erfindung der Regierung“, sagt sie. | |
Nie sei sie Kommunistin gewesen. Dann zählt sie auf, was ihr tatsächlich | |
wichtig war: Freiheit, Demokratie und die Freilassung der gefangenen | |
Studenten. „Es war die Zeit des Vietnamkriegs, der Hippies und der | |
sexuellen Revolution“, sagt die 72-Jährige. Ein Spruch machte damals unter | |
ihren Mitstreiterinnen die Runde: „Jungfräulichkeit verursacht Krebs.“ | |
Rodríguez kommt aus dem ländlichen Bundesstaat Guerrero nach Mexiko-Stadt, | |
um an der Nationalen Autonomen Universität Jura zu studieren. Als „braves | |
Mädchen aus der Provinz“, wie sie sagt, erlebt sie, wie Polizisten im Juli | |
1968 brutal gegen ihre demonstrierenden Kommilitonen vorgehen. Diese | |
Angriffe sind der Auslöser für vier intensive Monate, in denen die | |
Studentinnen und Studenten Geschichte schreiben. Und sie sind der Auslöser | |
für Rodríguez, sich der Bewegung anzuschließen: „Die Schläge haben mich | |
politisiert.“ | |
Die Aufmärsche eskalieren, werden Straßenschlachten. Bei einer | |
Demonstration werden 500 Menschen verletzt. Rodríguez und die anderen | |
Studenten ihrer Uni treten in den Streik, landesweit schließen sich 70 | |
Hochschulen an. Sie ist immer mittendrin, beteiligt sich an „Brigaden“, die | |
der Bevölkerung die Ziele der Bewegung vermitteln sollen. Mit Flugblättern, | |
Wandzeitungen und Straßentheater machen sie mobil. | |
Die Bewegung wird zunehmend zur Bedrohung für das autoritäre Regime der | |
seit über 40 Jahren regierenden Einheitspartei PRI. Im Oktober soll hier | |
die Olympiade stattfinden, und die Regierung will Mexiko als modern | |
präsentieren. Präsident Gustavo Díaz Ordaz versucht zu verhindern, dass die | |
Proteste dieses Image beschädigen. | |
## Protest in Tlatelolco | |
Das Batallón Olimpia wird gegründet, eine Truppe aus Militärs und | |
Geheimdienstlern. Nachdem immer mehr Menschen in Mexiko-Stadt auf die | |
Straße gehen, räumen die Streitkräfte im September die beiden großen | |
Universitäten. Molotowcocktails fliegen, Gewehre kommen zum Einsatz, einige | |
Menschen sterben. | |
Dann kommt der Tag, der Rodríguez’ Leben für immer zeichnen wird. Am 2. | |
Oktober geht sie zum Platz der drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco, um | |
gegen die Repression zu protestieren. Soldaten säumen das Gelände, Panzer | |
stehen bereit. Plötzlich wird aus einem Militärhubschrauber bengalisches | |
Feuer abgeworfen. Mitglieder des Batallón Olimpia, die sich unter die | |
Demonstranten gemischt haben, schießen in die Menge. Auch die Soldaten | |
feuern auf die Studenten. 300 Menschen sterben, etwa 5.000 werden | |
festgenommen. | |
Rodríguez kann flüchten. Doch einen Tag später wird sie gefasst. Als sie | |
nach zwei Wochen freikommt, zieht sie sich aufs Land zu ihrer Familie | |
zurück. Kaum wieder in der Stadt, wird sie im Januar 1969 erneut verhaftet. | |
So wie drei weitere führende Aktivistinnen bleibt sie zwei Jahre im | |
Gefängnis. Der Vorwurf: Aufhetzung zur Rebellion. Danach kämpft die Mutter | |
zweier Töchter im Comité 68 dafür, dass die Verantwortlichen des | |
Massenmordes zur Rechenschaft gezogen werden. Bis heute. Und sie wehrt sich | |
gegen eine Geschichtsschreibung, die die Frauen der Bewegung in den | |
Hintergrund stellt. | |
Das Massaker von Tlatelolco beendet die kurze Rebellion. Guerillagruppen, | |
kommunistische Parteien und undogmatische Initiativen entstehen. Es folgt | |
die Zeit des „schmutzigen Krieges“, in dem die Regierung brutal gegen | |
bewaffnete Gruppen vorgeht. Zugleich öffnet sich das Land, das vorher wie | |
eine Blase existiert hat, isoliert vom Rest der Welt. Die 68er setzen | |
wichtige Impulse für die feministische Bewegung in Mexiko und für die | |
Aufweichung des autoritären Einparteienregimes. Auch in den | |
basisdemokratischen Stadtteilbewegungen der 1980er Jahre spielen ihre | |
emanzipatorischen Ansätze eine Rolle. | |
Und wenn im Juli 2018 ein Kandidat der linken Partei Morena zum Präsidenten | |
gewählt wird, ist das nicht zuletzt das Verdienst der Studenten und | |
Studentinnen, die sich immer für eine Alternative zur PRI eingesetzt haben. | |
Für Ana Ignacia Rodríguez ist klar: „Außer der mexikanischen Revolution hat | |
keine Bewegung das Land so nachhaltig verändert wie wir 68er.“ | |
6 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Wolf-Dieter Vogel | |
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