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# taz.de -- Das italienische 20. Jahrhundert: Historische Rückversicherung
> Italien spürt in einer Reihe von Ausstellungen seiner Vergangenheit nach.
> In Florenz geht es um die Kunst der Nachkriegs-Avantgarde.
Bild: Ausschnitt aus Giulio Turcato, „Comizio (Politische Kundgebung)“, 1950
Zu allen Zeiten war Italien das Land unserer Sehnsüchte. Wir wissen es, ob
von Goethe oder Peter Schneider. Nach 1945 allerdings hatte der Blick nach
Italien für die Deutschen besondere Bedeutung, war das Land doch wie
Deutschland ein Verlierer des Zweiten Weltkriegs − wenn auch die Resistenza
gegen Mussolinis Brigate nere und die deutsche Wehrmacht ihren Teil zu
seiner Befreiung beigetragen hatte.
Das Bild vom Ansturm deutscher Touristenmassen auf Italiens Strände mag die
Erinnerung verschüttet haben, wie prägend die Erfahrung des
neorealistischen italienischen Films für die deutsche Nachkriegskultur war.
Es zeigte sich, dass Italien nach dem Desaster über ganz andere
intellektuelle und künstlerische Ressourcen verfügte als Deutschland.
Jederzeit konnte das italienische Kino gegenüber Hollywood und Nouvelle
Vague bestehen, noch bis zu Bernardo Bertolucci.
Und als wir Anfang der 1970er Jahre in dessen Filme gingen, gab es in
Italien eine kommunistische Partei, die sich − entgegen den
orthodox-marxistischen Kaderparteien hinter und vor dem Eisernen Vorhang −
gerade auf den berühmten „Dritten Weg“ des Eurokommunismus gemacht hatte.
Erneut bedeutete Italien eine intellektuelle Herausforderung – die noch im
Jahr 2000 in Antonio Negri und Michael Hardts Bestseller „Empire – Die neue
Weltordnung“ und dem Begriff der Multitude wieder auflebte.
International wollten Fußballer in italienischen Clubs spielen und Ferrari
fahren. Studio Alchemia, das sich auf die radikale Bewegung der 1960er
Jahre bezog, machte italienisches Design wieder diskursfähig und Giorgio
Armani, Gianni Versace und das damalige Mitglied der Kommunistischen
Partei, Miuccia Prada, die Mode. Wer wollte noch nach Paris? Wo es nun
Mailand gab? Doch dann haben wir, ohne es groß zu bemerken, Italien aus den
Augen verloren.
## Die Rückkehr des großen Schuhmachers
Auch Italien selbst meint offenbar, den Kontakt mit sich selbst verloren zu
haben – denn gleich eine ganze Reihe von Ausstellungen versucht der eigenen
Vergangenheit im 20. Jahrhundert noch einmal neu auf die Spur zu kommen.
Mit „1927. Il Ritorno in Italia“ nimmt etwa das Museo Salvatore Ferragamo
die Rückkehr des großen Schuhmachers aus Hollywood nach Florenz zum Anlass
eines objektgesättigten Ausblicks auf die Wiedergeburt Italiens nach dem
Ersten Weltkrieg und will dadurch, wie man erklärt, die Gegenwart besser
verstehen.
Wie stellte sich das Land damals in seiner Kunst dar? Dieser Frage geht −
anhand der wichtigsten Ausstellungen in der Zeit zwischen 1918 bis 1943 −
Italiens Überkurator Germano Celant in Miuccias Kultur-Outlet, der
Fondazione Prada in Mailand, nach. Und wieder in Florenz, unweit von
Fergamos Palazzo Spini Feroni, nimmt Kurator Luca Massimo Barbero im
Palazzo Strozzi mit „Nascita di una Nazione“ die Kunst der Jahre 1950 bis
1968 in Augenschein.
Ihn interessieren dabei nicht die vom offiziellen italienischen
Kunstbetrieb der Zeit geschätzten Werke, also illustrative Figuration und
ein Realismus, der einerseits das ideologische Bekenntnis meinte wie bei
Renato Guttuso und andererseits das literarische Zitat wie bei de Chirico.
„Nascita di una Nazione“ konzentriert sich vielmehr auf Positionen, die in
Galerien und Museen schlicht nicht vorkamen, geschweige, dass sie an
Sammler oder Händler zu verkaufen gewesen wären.
Und dennoch, sagt Barbero, müssen diese künstlerischen Konzepte und
Praktiken im Zusammenhang mit dem Entstehen einer neuen kulturellen
Identität Italiens gesehen werden, während das Land erneut als
(Wirtschaftwunder-)Nation zusammenkommt. Was die Filmeinspielungen zeigen,
die das zentrale Eröffnungsbild der Schau, Renato Guttusos „Schlacht an der
Brücke von Ammiraglio“ (1951–55) flankierten.
## Bekenntnisse zu Konsum – und zu Solidarität
Da gibt es den Massenstart des neuen Fiat 600 oder den Pulk Jugendlicher zu
sehen, die sich vor einem angesagten Club drängen, die Mädchen mit schicken
Gucci Handtaschen, und schließlich die Arbeiterproteste in Mailand:
Bekenntnisse zu Konsum und Unterhaltung, aber auch zu Solidarität und dem
Kampf um Arbeiterrechte. Ein Bekenntnis, zum sozialistischen Realismus, ist
auch Guttusos Gemälde von der siegreichen Schlacht der Garibaldianer im Mai
1860, die zur Befreiung des bourbonischen Sizilien und schließlich der
Vereinigung Italiens führte.
Jahrzehntelang hing es im Istituto Palmiro Togliatti, der Kaderschmiede der
PCI. Erkenntlich aktualisiert − unter den Kämpfenden sind Genossen aus der
PCI wie auch Guttuso selbst zu erkennen – soll das Gemälde den politischen
Kampf der Linken symbolisieren. Zu ihr zählte sich auch der ehemalige
Widerstandskämpfer Giulio Turcato, dessen „Comizio (Politische Kundgebung)“
von 1950 allerdings eine ziemlich abstrakte Angelegenheit ist und damit
unter Togliattis Verdikt gegen die Abstraktion und den sogenannten
Formalismus fiel.
Mit Arbeiten von Turcato, Enrico Bej, Mimmo Rotella steigt man also ein in
den Streit um die rechte Lehre und die darauf folgenden, mehr oder minder
dramatischen Abschiede, die sich in den weiteren sieben Räumen abspielen.
Einer gilt der spezifisch europäischen Spielart der Abstraktion, dem
Informel, das mit Emilio Vedova, Alberto Burri oder Fontana den zweiten
Raum beherrscht.
Burri, der seine flächigen Geometrien aus Holzfurnier oder Sackleinwand
konstruiert („Sacco e bianco“, 1953), könnte man fälschlicherweise fast
schon der Arte Povera zurechnen. Und entsprechend seinem 1947
veröffentlichten Manifesto dello Spazialismo schlitzt Lucio Fontana eine
Kupferblechplatte in langen vertikalen (Sky-Scraper-)Linien auf („Concetto
spaziale. New York 10“, 1962).
## Der Einstieg in den sogenannten Ausstieg aus dem Bild
Dieser Akt, der das Bild in die Dreidimensionalität öffnet, radikalisiert
sich noch auf der weißen Leinwand („Concetto spaziale. Attesa“, 1965). Denn
wie im dritten, durchgehend gleißend weißen Raum mit Arbeiten von Salvatre
Scarpitta, Piero Manzoni, Enrico Castellani oder Dadamaino (Eduarda Emilia
Maino) deutlich wird, ist das Monochrom der Einstieg in den sogenannten
Ausstieg aus dem Bild, das nun Konzept und Objekt wird. Und, erstaunlich
genug, auch schon partizipatives Projekt.
Alberto Biasi lädt die BetrachterInnen von „Eco“ (1964–74) ein, durch
Berührung der fotosensitiven monochromen Leinwand dort temporär ihr eigenes
Bild aufscheinen zu lassen. Koordinieren sie sich dabei, können sie ein
ganzes Schattenspiel choreografieren. So kommt die Figuration wieder ins
Spiel. Sergio Lombardo stellt in seinen großformatigen Leinwänden sowohl
„Krusciov“ (1962) wie „Kennedy“ (1963) gerade so dar, als ob sie ihre G…
beziehungsweise Rednergeste vor Biasis „Eco“ aufgeführt hätten: als
schwarz-weiße Scherenschnitte auf weißem Grund.
Die Figuration ist nicht die der Pop-Art, die die italienischen Künstler
selbstverständlich kennen, schließlich agieren die avantgardistischen
Künstlernetzwerke global. Die Künstlerin Giosetta Fioroni besteht bei ihrer
Fotoübermalung „La modella inglese“ (1969) darauf, dass sie das Silberemail
emotional einsetzt, konträr zu Warhols seriellen Silbersiebdrucken.
Die italienische Figuration optiert also nicht für Coolness und
Désinvolture. Sie thematisiert vielmehr zeitgenössische linke Solidarität
wie in den Gruppenporträts „Sulla giusta soluzione delle contraddizioni in
seno alla società“ (1968) und „Compagni compagnie“ (1968) von Mario
Schifano, der auch als Filmemacher und Musiker international unterwegs ist.
## Neue Spieler auf dem Feld von Politik und Gesellschaft
Im Austausch der Künstler entstehen neue mögliche Geografien. Sie sind
Thema des vorletzten Raums, wo Luciano Fabro „L’italia“ (1968) in Form
einer Landkarte am Fuß aufhängt (was daran erinnert, wie einst in Mailand
die Leichen von Mussolini und Konsorten kopfüber vom Dach einer Tankstelle
hingen).
Im Jahr darauf lässt sein kuscheliges „L’italia di pelo“, also Italien im
Pelz, an Sacher-Masochs „Venus im Pelz“ denken. Den Prozess einer Reifung,
den der Roman beschwört, vollzog Italien 1957 als Gründungsmitglied der
Europäischen Union mit seiner Öffnung für eine mögliche übernationale
Geografie.
Neue Spieler treten auf das Feld von Politik und Gesellschaft, die ihre
Forderungen nach Teilhabe und Veränderung auf irritierend neue Art
artikulieren. Allenthalben tauchen rote Fahnen, Hammer und Sichel auf und
die Leinwand, die Franco Angeli mit eben diesem Emblem und Sternen
überschüttet, und zwar auf eine an Graffiti erinnernde Art von
Schablonentechnik („Stelle“, 1961) ist dann doch purer Pop.
Afghanische Frauen sticken mit an der neuen Kunst: Alighiero Boetti
eröffnet in Kabul sein „One Hotel“ und beauftragt sie mit seinen
wandfüllenden Weltkarten. Mit „Mappa“ (1971–72) gelangt man schon ans En…
der Ausstellung, wo es heißt: Die Phantasie an die Macht. Doch dieses Ende,
1968, ist nur aus Gründen des 50-jährigen Jubiläums schlüssig. Zur
Entfaltung kommen die vorgestellten ästhetischen und
gesellschaftspolitischen Konzepte erst in den 1970er, teils sogar 1980er
Jahren.
## Auch Deutschland hat sich intellektuell etwas erholt
Immerhin kommt jetzt schon postmoderne Ironie ins Spiel: Sie bewegt Pier
Paolo Calzolaris elektrische, mit der Roten Fahne bestückte
Modelllokomotive, die in „Senza titolo“ (1968) unentwegt im Kreis um eine
monolithgleiche Leinwand fährt. Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden
zeigen Aktionen von Giovanni Anselmo, Alighiero Boetti, Pier Paolo
Calzolari, Gino de Dominicis, Mario Merz und Gilberto Zorio aus Gerry
Schums Film „Identifications“ (1970).
Auch Deutschland hat sich zwischenzeitlich intellektuell etwas erholt: Das
öffentlich-rechtliche Fernsehen produziert Schums „Fernsehgalerie“, aus der
„Identifications“ resultiert. Der Film zeigt zwanzig Künstler aus sechs
Ländern, wobei Italien mit sechs Künstlern das größte Kontingent stellt,
noch vor den USA mit fünf Künstlern. Welche anerkannte Größe Italien in der
damaligen zeitgenössischen Kunst ist, wird im Land selbst erst später
bekannt.
12 Apr 2018
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
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