| # taz.de -- Kunstschau mit Trampelpfad in Berlin: Sommer ist nur einmal im Jahr | |
| > Goldgelbe Gräser zwischen grauem Beton: Im Kunstraum goeben berlin feiert | |
| > der Bildhauer Martin Kähler voll Akribie die Magie der Vergänglichkeit. | |
| Bild: Das Gras, die Kunst: Martin Kähler mit „Campo“ bei goeben berlin | |
| Berlin taz | Schönes ist viel zu oft vergänglich, manchmal sucht man es an | |
| gewissen Orten sogar verzweifelt. Die Schöneberger Goebenstraße ist eine | |
| weite, vierspurige und graue Erscheinung. Wenn man sich auf den | |
| Mittelstreifen zwischen die vorbeirasenden Autos und Busse stellt, blickt | |
| man in Zentralperspektive auf die Pallasstraße – dunkel empfängt einen am | |
| Horizont der vierstöckige Hochbunker, neben dem sich der Betonbau | |
| Pallasseum erhebt und alle umliegenden Häuser überragt. | |
| Die einst blühenden Gräser jedoch, die sonst den Mittelstreifen vor der | |
| Goebenstraße 22 schmücken und von der aus man auf den Wohnblock blickt, | |
| wurden verschoben. Die Abgase der letzten Nacht kleben noch immer an ihnen, | |
| trotzdem leuchten sie goldgelb durch das große Ladenfenster des | |
| [1][Ausstellungsraums goeben berlin] an dieser Adresse. | |
| Die genaue Breite dieses Raums wurde hierfür aus dem Mittelstreifen | |
| zwischen den zwei Fahrspuren abgemäht und auf den 65 Quadratmetern | |
| gegenüber platziert. | |
| „Campo“, aus dem Italienischen zu übersetzen mit Feld, heißt die | |
| Ausstellung die der italodeutsche Bildhauer Martin Kähler bei goeben berlin | |
| zeigt. Es handelt sich um eine einnehmende Installation auf dem Boden des | |
| Raums, die sich gleichzeitig als Gegenentwurf zu einer käuflichen | |
| Ausstellung präsentiert. Erst vergangenen Monat hatte goeben berlin zu | |
| einer kommerziellen Auktion aufgerufen und somit den Bestand der Räume | |
| sichern können. | |
| Jedenfalls kann man durch dieses aufgestellte Feld auch laufen – auf dem | |
| Boden hat sich ein Trampelpfad gebildet, um den Wildwuchs durchdringen zu | |
| können. Es ist eine Expedition, eine Erkundungstour, auf die sich jeder | |
| einzelne Besucher einlässt. Gleichzeitig hinterlässt jedes Erforschen auch | |
| immer Spuren: Je mehr Besucher sich auf eine Wanderung begeben werden, | |
| desto mehr werden sich die fragilen Pflanzen unter dem Trampelpfad | |
| auflösen. Der Träger des Feldes ist aber nicht etwa Erdboden, sondern | |
| Styropor. Das Material gibt sich nur vermeintlich solide, denn auch hier | |
| gilt: Je mehr Besucher auf den Platten laufen werden, desto poröser werden | |
| diese. Kleine, weiße Kügelchen vermischen sich mit eingefädelter Natur. | |
| Kähler schafft mit „Campo“ auf diese Weise einen temporären, einen | |
| ephemeren, also einen vergänglichen Moment. Der Künstler arbeitet sich ab | |
| an der Zeit, er sucht nach Möglichkeiten, um sie visualisieren zu können. | |
| Es sind vielmehr Augenblicke, die in flüchtigen Situationen entstanden und | |
| die bereits im nächsten Moment verschwunden sein könnten. | |
| ## Eine Art Arte Povera | |
| Kähler bedient sich vor allem organischer Materialien, weil sie nie gleich | |
| bleiben, sich verwandeln, zersetzen, verschwinden. Seine Kunst nähert sich | |
| an die Arte Povera an, einer Kunstrichtung aus dem Italien der 1960er | |
| Jahre. Diese widmet sich der Rückkehr zu einfachen Objekten und | |
| Materialitäten, in der das Alltägliche wieder an Bedeutung gewinnt. | |
| So untersucht der Künstler die Eigendynamiken eines Kunstwerks und die | |
| Reaktionen von einzelnen Körpern mit ihm. Kähler erforscht Orte, Bereiche | |
| und Flächen, sowie ihre Umgebung und Assoziationen. Auch in „Campo“ ist die | |
| Installation distinkt verortet im Raum und wird so zum Ort der Begegnung. | |
| Wenn man im Feld in der Goebenstraße 22 steht, erkennt man erst im Moment | |
| des Drinstehens, dass die unzähligen Gräser einzeln in den Styropor | |
| gesteckt wurden. Oder, dass die Gräser vorsichtig mit der Sichel händisch | |
| vom Erdboden abgetrennt wurden. Beides sind Handlungen endloser Repetition | |
| und körperlicher Anstrengung. Diese akribische Arbeit offenbart sich eher | |
| beiläufig und ist Kern von Kählers künstlerischer Praxis. | |
| Der Begriff „Sprezzatura“ wird als die Fähigkeit beschrieben, auch | |
| anstrengende Taten leicht und mühelos erscheinen zu lassen. Der Bildhauer | |
| nutzt die Wandelbarkeit und Substanz dieses Begriffs und erweitert ihn in | |
| seiner Ausstellung um den wertvollen Moment der Umgestaltung von Realität. | |
| Umringt von Schöneberger Beton hebt er das hervor, was im Bewusstsein des | |
| Augenblicks oft verloren geht: Plötzlich geschieht mit dem vernachlässigten | |
| Mittelstreifen der Goebenstraße, dem grauen Beton, der vierspurigen Straße | |
| etwas Magisches. Inmitten eines Feldes, bestehend aus Mischgräsern, Disteln | |
| und Berliner Vorstadt wird alles Umgebende wild gewachsener Dschungel oder | |
| eine romantische und blühende Wiese – Sommer ist schließlich nur einmal im | |
| Jahr. | |
| 2 Aug 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://goeben.berlin/ | |
| ## AUTOREN | |
| Marlene Schenk | |
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