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# taz.de -- Debatte Individualismus im Jahr 2018: Die Rebellion läuft nicht au…
> 50 Jahre nach 68 gibt es kaum noch gesellschaftliche Tabus. Die
> Individualisten folgen blind der Masse. Dabei ist eine echte Rebellion
> nötiger denn je.
Bild: Die echte Rebellion wird ohne Filter ablaufen
Das Jahr 68 wird 50. Deshalb sprechen im Moment alle wieder über die
Studentenbewegung. Und dabei wird auch oft die Frage gestellt, was man
später über die 2018er sagen wird. Wollen junge Deutsche von heute
überhaupt etwas verändern? Und [1][gibt es unter ihnen eigentlich noch
Individualisten], so wie damals, die es für den Anstoß einer jeden
Rebellion braucht?
Man muss [2][nicht alles] an den 68ern mögen. Wahrscheinlich waren sie auch
gar nicht so liberal und tolerant, wie sie heute beschrieben werden. Aber
sie rebellierten. Sie war ja damals auch noch herrlich leicht, die
Rebellion. Gegen die Alten und das Alte. Sich in den
Nachkriegsgesellschaften in Westeuropa und den USA gegen den Mainstream zu
stellen bedeutete, sich von herkömmlichen Wertvorstellungen und
Vorschriften zu lösen. Es war nicht nur genau definiert, wie man sich als
Mann und als Frau zu verhalten hatte, sondern auch wie man aussehen sollte.
Ließ man sich als Mann die Haare lang wachsen, galt das als Provokation.
Denn die Rebellion begann bereits beim Erscheinungsbild.
Und heute? In der neuen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Quarterly geht
es um die Mode der Generation Z. Die Leiter des Magazins finden, der
Kleidungsstil junger Leute hätte wieder etwas Rebellisches. „Weil in
unserer visuellen Kultur genau da die Unterschiede zuerst und vielleicht am
deutlichsten sichtbar werden. Und weil wir hier schon genau erkennen
können, wie groß die Macht der Veränderung für uns alle ist und noch sein
wird, die von den Nachwachsenden ausgeht!“, heißt es euphorisch im
Editorial.
Wirklich? Die Models und Modedesigner, die in der Zeitschrift vorgestellt
werden und angeblich die Mode derzeit weltweit verändern, tragen
hochwertige Kleidung. Satinhemden, Blusen, Anzüge. Alles sehr puristisch,
schön fotografiert, die Protagonisten sehen alle ziemlich gut und
stilbewusst aus. Und doch fehlt es ihnen irgendwie an Charakter, niemand
sticht wirklich hervor. Alles kommt einem schon beim zweiten Hinschauen
bekannt vor. Von dem im F.A.Q.-Editorial angedeuteten revolutionären
Potenzial ist auf den Bildern nicht viel zu erkennen.
## Nachmachen ist heute leichter denn je
Im Gegenteil: Sie spiegeln eher das wider, was sich in Europa seit einigen
Jahren beobachten lässt. Nonkonformisten sind momentan nicht nur in der
Unterzahl, sie sind am Aussterben. Und gerade die, die so tun, als seien
sie besonders individualistisch, sind es am wenigsten. So wie sich der
Nonkonformismus der 68er auch in ihrer Kleidung ausdrückte, fällt heute die
Uniformität der 2018er als Erstes an ihrer Mode auf. Ein scheinbar
alternativer Kleidungsstil ist mittlerweile nicht mehr alternativ, sondern
unoriginell und längst Mainstream.
Nachmachen ist heute leichter denn je. Ein Klick reicht, um Ideen für neue
Outfits zu bekommen. In jeder freien Minute kann man sich mit anderen
vergleichen, kann sehen, welcher Stil besonders gefeiert wird, und sich
dementsprechend kleiden. Dadurch wird keine Individualität gefördert,
sondern endlose optische Uniformität.
Wodurch zeichnen sich die vermeintlichen Individualisten heute aus? Zum
Beispiel durch das Tragen eines Vokuhilas, durch kleine
Vintage-Handtaschen aus Secondhandläden, extra schmale Sonnenbrillen im
Matrix-Style und die „Tabi-Boots“ von Maison Margiela, die aussehen wie
Kamelhufe. Sie lassen die Mode der 2000er Jahre wieder aufleben, wofür
Frauen sich gerne an früheren Looks von Paris Hilton orientieren.
Die sozialen Netzwerke sind Spielplätze moderner Pseudoindividualisten. Am
liebsten tummeln die sich bei Instagram, wo sie der Welt zeigen können, wie
egal es ihnen ist, was andere über sie denken. Fotos werden auf keinen Fall
bearbeitet, als Ausdruck ihrer Authentizität. Absurde Posen, wie das
Strecken eines Beins in die Luft oder das Bohren in der Nase, sind eine Art
Rechtfertigung für die unnatürliche Selbstdarstellung. Es soll zeigen: „Wir
machen keine ernsthaften Selfies, denn das wäre peinlich. Wir meinen das
alles gar nicht ernst.“ Sie selbst empfinden sich als extrem cool und
nonkonformistisch, was sich oft in ihrer Ignoranz ausdrückt. Sie stellen
sich einem gerne fünfmal vor, obwohl man sich längst kennt, und lieben
substanzlose Gespräche über ihre Instagram-Accounts und Followerzahlen.
## Eine Schar von Dogmatikern
Sie können einem eigentlich nur leidtun, die unoriginellen
Pseudoindividualisten. Denn sie merken gar nicht, dass ihre geliebte
Social-Media-Scheinwelt nicht authentisch ist, sondern einzig und allein
Schauplatz maßloser Inszenierung. Und in ihrem Eifer, anders und cool
auszusehen, merken sie auch nicht, dass sie immer mehr aussehen wie
Papageien anstatt wie Tiger.
Diejenigen, die jetzt stöhnen, die sagen, Kleidung sei nicht wichtig,
liegen falsch. Wer individuell sein will, kann nicht aussehen wie jeder.
Kleidung ist nonverbale Kommunikation, eine Möglichkeit, zu zeigen, wie man
sich fühlt und mit welchen sozialen Gruppen und Milieus man assoziiert
werden möchte.
Aber es ist tatsächlich nicht nur die Mode, in der sich die Monotonie der
jungen Menschen zurzeit widerspiegelt. Es sind auch ihre Gedanken. Wer nach
nonvisueller Uniformität sucht, der braucht nur an eine deutsche
Universität zu gehen. Am besten an das Otto-Suhr-Institut für
Politikwissenschaften in Berlin, das zu den Urzellen der 68er-Bewegung
gehört. Mittlerweile ist es zum Zentrum eines linken Konformismus geworden
und einer pseudopolitischen Parallelwelt, in der alle glauben, sie wären
besser und anders, weil sie korrekt gendern, über das böse kapitalistische
Amerika herziehen und hin und wieder in überheblichen E-Mails die Besetzung
von Lehrräumen fordern. Sie folgen blind der Masse, denken zu oft nicht
eigenständig nach und werden so zu einer Schar von Dogmatikern.
Woher kommt die langweilige Herdenhaftigkeit der vermeintlich
individualistischen Generation Y oder Z? Es scheint paradox. Schließlich
kann jeder, der heute in einer westlichen Demokratie aufwächst, sein, wer
er will, und denken, was er will. Frauenrechte und sexuelle Freiheit sind
Selbstverständlichkeiten. Herkunft und Hautfarbe spielen keine Rolle.
Diversität wird so stark gelobt und befürwortet wie nie zuvor, zu keiner
Zeit war es so in Ordnung, anders zu sein.
## Das Dilemma? Es gibt kaum noch Tabus
Wahrscheinlich ist das das Dilemma. Um heute zu rebellieren, reicht es
nicht mehr, gesellschaftliche Tabus zu brechen, weil es kaum noch
gesellschaftliche Tabus gibt. Einfach anders zu sein reicht nicht mehr für
Individualität. Denn diese Individualität wird von der Gesellschaft nicht
nur gefördert, sie wird sogar verlangt. In Werbeslogans und politischen
Ansprachen. Nach dem Motto: Wer nicht von der Norm abweicht, ist nicht
besonders. Man kann nicht mehr einfach das Gegenteil von dem tun, was von
einem erwartet wird, um sich von den anderen abzugrenzen, denn das wäre
rückwärtsgewandt.
Es scheint geradezu unmöglich geworden zu sein, der breiten Masse zu
entkommen. Wir stehen vor dem Problem des Konformismus der Andersartigkeit:
Alle wollen anders sein und sind dadurch gleich. Der äußere Druck, anders
sein zu müssen, führt offensichtlich nicht zu Individualität, sondern zu
Vereinheitlichung.
Aber wo liegt eigentlich das Problem? Brauchen wir überhaupt noch Rebellion
in liberalen Demokratien, in denen es kaum noch gesellschaftliche Zwänge
gibt und Pluralismus gefördert wird?
Natürlich brauchen wir sie. Weil wir in einer Zeit leben, in der
Rechtspopulisten gerade in Europa zu viel Resonanz finden.
Wir brauchen endlich eine Protestbewegung in Deutschland – genauso wie in
Österreich, Frankreich oder England –, die von jungen, unangepassten
Individualisten ausgeht. Sie müssen jung sein, weil die Jungen für die
Zukunft stehen. Sie sind heute jung, das heißt, dass sie in ein paar Jahren
das Sagen haben werden. Und deshalb haben ihre Ansichten mehr Gewicht, sind
vehement und bedeutsam genug, um wirklich etwas zu verändern. Wie die 68er.
## Echte Rebellion findet in den USA statt
Anstatt mit blinder politischer Korrektheit in den Universitäten und
vermeintlich alternativen Klamotten auf Instagram eine Pseudorevolution zu
führen, könnten sich junge Menschen in Deutschland ein Beispiel an den
Protesten gegen Waffengewalt in den USA nehmen, und die sozialen Medien für
die Verbreitung einer wirklichen Rebellion nutzen. Eine Rebellion gegen die
Reaktionäre, durch die die offene und liberale Demokratie, die wir zu oft
als selbstverständlich empfinden, zurzeit stärker gefährdet ist, als vielen
bewusst zu sein scheint.
Zelda Biller, 20, studiert Geschichte und Politologie in Berlin und postet
selbst ab und zu auf Instagram. Sie ist gerade Praktikantin bei der taz am
wochenende.
14 Apr 2018
## LINKS
[1] /Was-die-68er-Bewegung-heute-bedeutet/!5494455
[2] /Dramaturgin-ueber-Maenner-und-68/!5494341
## AUTOREN
Zelda Biller
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