# taz.de -- Zum Dutschke-Attentat vor 50 Jahren: Rudi Dutschke, Frau Ridder und… | |
> Wie das Leben 68 in Berlin war: Über Dutschke, druckende Revolutionäre, | |
> die Liebe eines 14-Jährigen und eine Begegnung mit dem Tod. | |
Bild: Familie Richter überquert die Berliner Nestorstraße, Anfang der 1970er … | |
Sie war 25 und träumte von der Weltrevolution. | |
Ich war 14 und träumte von Frau Ridder. | |
Dorothea Ridder, die da oben in der Dachgeschosswohnung wohnte? Früher | |
hätte ich das mit einem „Nein“ beantwortet. Heute sagt man das Nein | |
verschleiernd gern „nicht wirklich“. Nun zur „Wirklichkeit“ des Jahres … | |
Frau Ridder wohnte zu der Zeit in Wirklichkeit am Kurfürstendamm im selben | |
Haus wie Dutschkes. Also mit Rudi und Gretchen. | |
Oft kam Dorothea von ihrem Bardamenjob dementsprechend früh nach Haus. So | |
traf sie nicht selten und übermüdet auf Rudi. Er war Frühaufsteher. Früh | |
links erwachen hieß bei ihm aber nicht rechts am Wegesrand sexuell alles | |
„mitnehmen“. Rudi hatte Gretchen (Theologie-Studentin aus den USA). | |
Genossin Dorothea liebte Revolutionäre. Aber schön mussten sie sein. Ob zu | |
zweien oder allein. Sie schlief nicht mit Rudi und prinzipiell selten in | |
der Nestorstraße. Auch wenn an der Türklingel Ridder stand. Denn so mancher | |
Wohnungsinhaber ahnte anno 67 nichts von linken Aktivisten als Untermieter. | |
Auch Uwe Johnson, der zu dieser Zeit in Amerika lebte, hatte seine Wohnung | |
in Friedenau untervermietet; ein berühmtes Nacktgruppenfoto entstand dort | |
in seiner Abwesenheit. Ob diese Behausung auch von Frau Ridder organisiert | |
worden ist, weiß ich nicht. | |
Allgemein weiß man rückblickend, dass diese Wohnungsbeschaffungen zwecks | |
Untergrundarbeit von der Justiz peu à peu entdeckt und bestraft worden | |
sind. So wurde Hannes Wader zum Beispiel verdächtigt, seine Wohnung | |
Terroristen zur Verfügung gestellt zu haben. Hannes beteuerte immer wieder, | |
dass er von der RAF als seinen „Gästen“ nichts gewusst habe. Als | |
bekennendes DKP-Mitglied erlebte er bald darauf durch die ihn nicht mehr | |
spielenden Sender eine künstlerische „Isolationshaft.“ | |
## Dorothea Ridder: Revolutionärin, Gefangene, Ärztin | |
Dorothea Ridder hingegen sollte die reale durchleben. Im Jahr 1971 | |
verhaftet, wurde sie für ihre stillen Aktivitäten mit Gefängnis bestraft. | |
Zunächst als „Randfigur“ bezeichnet, anno 72 wieder frei, dann wiederum | |
inhaftiert, hatte sie die einjährige Isolationshaft als Unterstützerin | |
einer „kriminellen Vereinigung“ (gemeint ist die RAF) gut genutzt: Sie | |
arbeitete an ihrem Studium hinter Gittern und bestand 1976 das „ärztliche | |
Staatsexamen“. 1980, nun bereits eine volksnahe Frau Doktor, wird sie aber | |
auch dem todkranken Dichter Erich Fried erfolgreich das Leben um fünf Jahre | |
verlängern. | |
Frau Dr. Ridder war eben mehr mit dem Leben als mit der Todessehnsucht | |
beschäftigt. Mit der „Knarre in der Hand“ aus revolutionären Gründen eine | |
Bank zu stürmen, sei nicht „ihr Ding“ gewesen, erzählte sie bereits 2008 | |
neben vielen anderen zutiefst berührenden Details der Publizistin Gabriele | |
Goettle. Dass Dorothea während jener Kölner Isolationshaft mit | |
Unterstützung eines mit ihr immer „äußerst höflich“ umgehenden | |
Wachpersonals hatte weiterstudieren können, passt zu der Frau mit der | |
noblen Wirkung. Nur RAF-Terroristin Gudrun Ensslin war von Anfang an nicht | |
zufrieden mit Genossin Ridder. Sie habe anstelle der Revolution doch eher | |
ihr Studium im Kopf gehabt, hatte sie zu Protokoll gegeben. Dieser Art | |
„schlechter“ Leumund, kam dann Dorothea in Form von Strafmaß und | |
vorzeitiger Entlassung zugute. Dass Frau Ridder auch Mitbegründerin der | |
legendären Kommune 1 war, galt als nicht strafbar, wenn auch sündenvoll | |
verwerflich; ich wusste anno 67 nichts von ihrer unbürgerlichen | |
Umtriebigkeit. | |
Ich versuchte, mit meinen Trieben umzugehen. Gerade mal so alt wie meine | |
damalige Hausnummer, 14, beneidete ich die Ridder’schen | |
Dachetagenrevoluzzer. Eines Tages beschwerte sich mein Vater bei den „Herrn | |
Ridders“, dass sie nicht noch einmal unsere Wohnung in den Ferien benutzen | |
mögen; denn als wir überraschend vor Schulferienende nach Hause kamen, | |
lagen Decken und Essensreste herum. Die Asylanten hatten fluchtartig unsere | |
Wohnung verlassen. Vorgewarnt. Unser alter Opel war aber auch dermaßen | |
laut. Apropos Lärm: Ein regelmäßig nachts einsetzender Maschinenkrach hatte | |
kurz nach Einzug der „Ridder-Brothers“ meinen Vater veranlasst, mal oben zu | |
klingeln. Als ehemaliger Widerstandskämpfer, der einst Flugblätter gegen | |
Hitler in Bibeln versteckt hatte, war ihm der Sound einer Druckmaschine gut | |
vertraut. „Das ist eine Waschmaschine“, meinte einer der Männer mit | |
Pokerface. „Dann wascht bitte am Tag, Genossen“, sagte Papa und grinste. | |
## Eine Lübke-Langspielplatte bricht das Eis | |
Man gab sich ahnungslos und wurde erst locker, als keine Polizei kam. | |
Direkt fröhlich gaben sich die Männer aber erst, als ich regelmäßig eine | |
verbotene Schallplatte spielte, die bis nach oben ins Dachgeschoss drang: | |
Eine Verscheißerungs-LP mit dem stammelnden Bundespräsidenten Lübke. Er | |
avancierte – stotternd und stammelnd Osaka mit dem Potenzmittel Okasa | |
verwechselnd – zum Staatstrottel. Mein Vater fragte eines Tages einen | |
dieser Mitbewohner, weshalb er und die anderen uns jetzt so freundlich | |
grüßten. Darauf der eine: „Wer die Lübke-LP hört, kann nicht ganz schlecht | |
sein.“ Auch Frau Ridder, die Schöne, grüßte mich auffallend lieb. Und es | |
war Frühling, und als ich an jenem 11. April vom Balkon aus die Schöne über | |
die Straße gehen sah … mit ihrer leuchtend roten Baskenmütze und diesen | |
grünen Augen … Lassen Sie es mich so ausdrücken: | |
Ach! | |
In solchen Momenten war meine elterliche Mülltonne dermaßen voll, auch wenn | |
sie leer war, und so wurde Fahrstuhlfahren selbsterfahrenes Glück. Auch war | |
für mich, mit 14 von einer Frau Ridder gesiezt zu werden, schon | |
hoffnungstreibend. Nun hatte sie jedoch an diesem Nachmittag kein Lächeln | |
für mich parat wie sonst. Stattdessen fragte sie mich: „Sie wissen, was | |
passiert ist?“ Worauf ich reflexartig nickte und „nein“ sagte. Worauf sie… | |
atemberaubend dicht mit mir im Lift – man kennt die alten Berliner | |
Fahrstühle – nun leise fortsetzte: „Rudi Dutschke ist erschossen worden.“ | |
Dass er die Schüsse überleben sollte und nach quälenden Jahren daran dann | |
doch noch zugrunde gehen sollte, ahnte ich nicht. Frau Ridder auch nicht. | |
Ich wusste von Dutschke nichts, was mir wirklich hätte bewusst machen | |
können, wer dieser Mann war oder was er den Linken bedeutete. | |
## Der Vater: Was will dieser Dutschke? | |
Dieser Dutschke war meinem Vater gewiss verhasst – als Utopist. Denn die | |
hätten ja schon als Partisanen im Spanienkrieg 1936 gegen Franco versagt, | |
sagte Papa immer. Und überhaupt: Jetzt sei Friede! Die Arbeiter seien | |
heutzutage satt und hätten ihr gutes Auskommen. „Was wollen die also? Diese | |
Dutschkes?! Als marxistisch geschulter Proletarier und Untergrundkämpfer, | |
der fast 10 Jahre im Zuchthaus und KZ gesessen hatte, waren ihm diese | |
akademisch geprägten Reden Dutschkes ein Gräuel. | |
Zurück zur Liftfahrt mit Frau Ridder: | |
Noch ganz vom Duft ihres Parfums betört, dennoch leicht verstört, stotterte | |
ich kurz darauf in der Küche vor Papa: „Der Rudi Dutschke ist erschossen | |
worden.“ Mein Vater sagte: „Idiot“, worauf ich mich beleidigt von ihm | |
abwandte. Er streichelte mir liebevoll über den Kopf: „Du doch nicht, | |
Eierkopp!“. Sein „Idiot“ bezog sich auf den Attentäter. Und als sich des | |
Abends in der „Tagesschau“ jener Attentäter als Neonazi entpuppte, fühlte | |
sich Vater mit seinem spontanen „Idiot“ bestätigt. | |
Dennoch gab es für ihn keinen Grund, als zwar enttäuschter Marxist und | |
DDR-Flüchtling wegen des Attentats diesen „marxistischen Träumer“ zu | |
akzeptieren. Als Opfer tat ihm Dutschke leid. Aber politisch? Zu | |
Dutschke-Zitaten wie: „Der Kampf allein bringt die Herstellung des | |
revolutionären Willens“, sagte er zornig: „Hirnverbrannter Blödsinn. Erst | |
wenn ein unzufriedenes Volk durch Krieg bereits die Waffen in den Händen | |
hält, ist die Basis für eine Revolution gegeben. Merk dir das!“ Ich nickte | |
und nahm brav zur Kenntnis, wann es sich nach marxistisch-leninistischer | |
Sicht um die richtige Stunde zur Revolution handelte; vor allem aber, dass | |
die „Verhältnisse“ jetzt nun mal nicht so seien wie anno 17, geschweige 18! | |
Denn ich dachte mit 14 sowieso nur an ein Verhältnis mit Frau Ridder. So | |
viel zu meiner Utopie anno 67. | |
Zwanzig Jahre später: | |
Nun schon selbst über 30, machte ich durch den englischen Filmemacher | |
Andrew Hood mit seiner weitaus älteren Freundin Bekanntschaft: Dorothea | |
Ridder. Ich betrat ihre Wohnung, es gab Tee und Gebäck, und zunächst | |
erkannte ich sie nicht. Sie war krankheitsbedingt optisch verändert, | |
dennoch attraktiv. | |
Inmitten ihres wichtigsten Themas als Ärztin stockte sie plötzlich und | |
sagte übergangslos und mehr fragend: „Moment mal … Nestor 14? Fahrstuhl? | |
Rudi?“ Ich nickte. Dann strich sie mir mit zwanzigjähriger Verspätung über | |
die Wange. Damals war ich der Junge. Jetzt hatte sie etwas von einem | |
Mädchen. Mister Hood blickte sehr still, also englisch, zu Boden. | |
Rückblickend weiß ich, dass Dorothea Ridder anno 67 gern mit dem Ehepaar | |
Dutschke frühstückte. Die drei mochten sich. Und ich mag noch immer die | |
Vorstellung, wie der kleine schmale Rudi einst die morgendlichen Freier | |
verjagte. Denn Dorothea war am Abend Bardame, aber keine Dame gegen bar. | |
Wie aus einem Truffaut-Film das Ganze, wenn die Handelnden nicht ganz so | |
deutsch wären. Und immer mittenmang: Dorothea, (wohnzimmerbesorgende | |
Genossin; auch sonst besorgt-bürgerlich). Dennoch Mitbegründerin der | |
Kommune 1. Legendär jenes Foto: Nackt wie die Wand sind sie alle und | |
gänzlich gesichtlos; bis auf’s Kind rechts am Bildrand. Nackter Mann, | |
links, fragt verärgert: „Wo bleibt eigentlich Rudi?“ „Kommt nich’, | |
frühstückt mit Gretchen“, sagt Dame links, und lächelt. | |
Aber das sehen wir nicht … Ein Nacktfoto gibt niemals alles her. | |
11 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Ilja Richter | |
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