# taz.de -- Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz: „Jesus hat wirklich soziali… | |
> … und Rudi Dutschke konnte nur Fisch panieren. Ein Gespräch mit der | |
> Aktivistin und Autorin Gretchen Dutschke-Klotz über Männer, Glauben und | |
> die 68er. | |
Bild: „Der größte Fehler der 68er war, dass es macho war“ – Gretchen Du… | |
Gretchen Dutschke-Klotz lebt in einem Neubau in Berlin-Friedrichshain. Die | |
Frauen hier wohnen in eigenen Apartments, aber gemeinschaftlich. Auf dem | |
Klingelschild steht nur „Klotz“, die Person, die öffnet, spricht Deutsch | |
mit US-amerikanischen Akzent. | |
taz: Grechen Dutschke-Klotz, nervt es Sie, wenn Sie vor allem als Rudi | |
Dutschkes Ehefrau wahrgenommen werden? | |
Gretchen Dutschke-Klotz: Ich bin daran gewöhnt, aber ich mag es nicht. | |
taz: Sie sind zu höflich, um dann etwas zu sagen. | |
Dutschke-Klotz: Es sind meistens Journalisten, die mit mir über Rudi reden | |
wollen. Dann muss ich entscheiden, ob ich Ja oder Nein sage, meistens sage | |
ich zu. 1996 habe ich in Deutschland mein erstes Buch veröffentlicht und | |
okay, das war ein Buch über unser gemeinsames Leben – aber trotzdem hat es | |
mir vielleicht auch eine eigene Identität gegeben. Bis dahin hatten nur | |
Männer über die 68er-Bewegung geschrieben. Ich wollte als Frau meine | |
Meinung dazu sagen. | |
taz: Ihre Rolle in der 68er-Bewegung ist erstaunlich, wenn man Ihre | |
Herkunft ansieht. Sie sind in einem Vorort von Chicago in einem | |
evangelikalen Elternhaus aufgewachsen. Da ist man bestimmt nicht nur zu | |
Weihnachten in die Kirche gegangen… | |
Dutschke-Klotz: Wir waren viel in der Kirche. Am Sonntag hatten wir Sunday | |
School. Sonntagabends war wieder Gottesdienst. Mittwochs sind wir manchmal | |
in Gebetstreffen gegangen. Und dann gab es verschiedene Feierlichkeiten, | |
auch in der Kirche. | |
taz: Waren Sie gerne dort? | |
Dutschke-Klotz: Es war gemischt, würde ich sagen. Meine Großmutter hat | |
lange Gebete gesprochen, mein Vater auch. Ich habe mich damals schon ein | |
bisschen gewundert darüber – oder es vielleicht sogar bewundert –, dass die | |
beiden so lange beten konnten. An der Straßenecke vor der Kirche war eine | |
Apotheke, in der es Süßigkeiten gab. Mein Bruder hat seine Süßigkeiten | |
immer gleich aufgegessen. Ich habe auf die Uhr geguckt und mir alle fünf | |
Minuten erlaubt, ein Stück meiner Süßigkeiten zu essen, damit die Zeit im | |
Gottesdienst rumging. | |
taz: Wurden Sie streng erzogen? | |
Dutschke-Klotz: Wir haben vor dem Essen gebetet, aber mehr nicht. | |
Andererseits war es in Bezug auf andere Dinge streng, zum Beispiel, was | |
Sexualität betrifft. Da war meine Mutter hoffnungslos überfordert. Sie hat | |
immer kommentarlos Aufklärungsbücher auf den Tisch gestellt. Nur enthielten | |
die keine Aufklärung, sondern es stand nur so etwas drin wie: Eine Christin | |
darf nicht in die Nähe eines Mannes kommen. | |
taz: Sex vor der Ehe war also undenkbar? | |
Dutschke-Klotz: Ja, so war zumindest die Idee … | |
taz: Haben Sie rebelliert gegen diese Art Religiosität? | |
Dutschke-Klotz: In meiner Highschool waren viele der Jugendlichen jüdisch, | |
die haben mich eingeladen in eine progressive Synagoge. Die haben dort | |
gefeiert mit Tanzen und Singen. Das fand ich natürlich besser als unsere | |
Kirche. Ich bin gläubig geblieben, aber ich hatte von Anfang an Probleme | |
mit diesem Glauben. Man sollte Gott erfahren, spüren. Und ich habe wirklich | |
versucht, Gott zu erfahren. Aber es gelang mir nicht. Deshalb dachte ich | |
schon, als ich sechs Jahre alt war, dass vielleicht etwas nicht in Ordnung | |
ist mit mir. | |
taz: Wieso haben Sie sich entschieden, Theologie zu studieren? | |
Dutschke-Klotz: Mein Bezug zur Religion hat sich später verändert. | |
Theologie habe ich erst studiert, als ich nach Deutschland kam. Ich wollte | |
eigentlich nicht Theologie studieren, sondern Philosophie. Für Philosophie | |
musste man Deutsch lernen und deshalb bin ich nach Deutschland gegangen. | |
taz: Warum sollten Sie Deutsch lernen? Um Nietzsche und die ganzen | |
deutschen Philosophen im Original lesen zu können? | |
Dutschke-Klotz: Genau. Ich kam 1964 nach Deutschland und vier Monate später | |
habe ich schon Rudi kennengelernt. Dann habe ich ihm gesagt, dass ich | |
vorhatte, Philosophie zu studieren. Er hat gesagt: Warum Philosophie? Die | |
Philosophen sind in ihrem Elfenbeinturm, die machen gar nichts. Er meinte, | |
die Theologieprofessoren würden mit den Studenten auf die Straße gehen, die | |
seien präsent, die würden etwas tun. Warum studierst du nicht Theologie? | |
taz: Also ist Rudi schuld. Er kam ja auch aus einem christlichen Haus. | |
Dutschke-Klotz: Ja. Seine Familie war aber [1][evangelisch, nicht | |
evangelikal]. | |
taz: Sind Sie heute noch gläubig? | |
Dutschke-Klotz: Nein. | |
taz: Wann hat das aufgehört? | |
Dutschke-Klotz: Rudi und ich haben uns einmal in den siebziger Jahren | |
gegenseitig gefragt: Bist du noch gläubig? Dann haben wir beide gesagt: | |
nicht mehr. Und damit war es gesagt. | |
taz: Weil Christentum und Sozialismus doch nicht zusammenpassen? | |
Dutschke-Klotz: Das nicht. Rudi hatte in der Kirche, in die er in der DDR | |
ging, einen Pfarrer, der versuchte, Christentum und Sozialismus zu | |
verbinden. Also er kannte das schon. Und er hatte viele Bücher über | |
christlichen Sozialismus. Er hat Ernst Bloch gelesen, der auch versuchte, | |
Christentum mit Sozialismus zu kombinieren. Diese Bücher hat Rudi mir | |
gezeigt. Ich kannte sie vorher nicht. Und [2][Helmut Gollwitzer], der | |
Professor für evangelische Theologie an der Freien Universität in Berlin | |
war, war immer dabei bei allen Demos. Er hat uns alle immer unterstützt, | |
also die ganze Bewegung. | |
taz: Was hat Sie schließlich vom Glauben gebracht? | |
Dutschke-Klotz: Ich habe schon früh darüber nachgedacht, dass es viele | |
verschiedene Religionen gibt. Irgendwann kam ich nicht mehr zurecht damit, | |
dass ich an eine davon glauben soll und die anderen falsch sein sollen. Das | |
kam mir falsch vor. Schon bei meinen jüdischen Freunden in der Highschool | |
habe ich gedacht: Meine Religion sagt mir, die gehen in die Hölle. Aber ich | |
glaube, die gehen nicht in die Hölle! Solche Dinge. Und irgendwann sagt | |
man: Das kann alles nicht sein. | |
taz: Sie haben Mal vor einer „Verabsolutierung der Moral“ gewarnt, die zum | |
Katechismus mutiert. Das machen sowohl Christ:innen als auch dogmatische | |
Linke gerne. | |
Dutschke-Klotz: Es gibt Ähnlichkeiten zwischen dogmatischen Christen und | |
dogmatischen Linken. Die Moral- oder Wertefrage finde ich aber trotzdem | |
wichtig. Wenn man von christlichen Werten redet, wie Angela Merkel das oft | |
getan hat, ist das ein Fehler. Denn die anderen Religionen haben ähnliche | |
Werte. Trotzdem sollte man über Werte und Moral sprechen, denn sie | |
entscheiden ganz wesentlich, ob man von Hass bestimmt wird und zurückfällt | |
in den Macho-Chauvinismus – oder eben nicht. | |
taz: Die Moral hat in der Politik oft schlechte Karten. In den USA und | |
Deutschland säen die Rechten Falschnachrichten und Lügen. Müssten die | |
Linken vielleicht auch mehr lügen, um sich durchzusetzen? | |
Dutschke-Klotz: Rechte Gruppen wie die AfD kann man vielleicht verbieten, | |
um gegen den Hass, den sie predigen, anzukämpfen. Aber man kann nicht | |
lügen. Dann wird es doppelt schlimm. In den 50er Jahren wollten nur wenige | |
Menschen in Deutschland die Demokratie haben. Das ist angestiegen auf über | |
80 Prozent im Jahr 2010. Jetzt geht’s wieder runter und da ist die Frage, | |
was man dem entgegenstellen kann. Aber man darf nicht lügen! Dann hätten | |
die Rechten recht, wenn sie sagen: Siehst du, sie lügt. | |
taz: Linke müssen also anständig bleiben? | |
Dutschke-Klotz: Die Rechten wollen Hass verbreiten, Hass lässt eine | |
Gesellschaft zusammenbrechen. In der Linken gibt es auch welche, die Hass | |
haben, auf die Rechten. Aber es gibt trotzdem andere Wertvorstellungen bei | |
den Linken. Nicht Hass als Hauptsache, sondern ein besseres Leben für alle. | |
Wie die Christen sagen: Liebe als Grundwert. | |
taz: Manche würden sagen, das ist genau das Problem: Die Linken sind heute | |
zu lieb und zu harmlos … | |
Dutschke-Klotz: Na ja, die [3][Letzte Generation hat Flugzeuge mit oranger | |
Farbe besprüht] und Straßen blockiert. Die waren ziemlich wild, die haben | |
Sachen kaputt gemacht, sind radikal. Aber wie sehen die Menschen das? Die | |
sehen das sehr negativ. Und deswegen nützt das nicht wirklich. Ich denke, | |
besonders vor Weihnachten kann man echt mal gucken, was Jesus gesagt hat. | |
Denn er hat wirklich sozialistische Sachen gesagt …(Sie schaut auf das | |
Papier vor sich.) Selig sind die, die ihr Leid tragen. Selig sind die | |
Sanftmütigen. Selig sind die, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit. | |
Selig sind die Barmherzigen. Selig sind, die reinen Herzens sind. Selig | |
sind die Friedensstifter. Selig sind die, die um der Gerechtigkeit Willen | |
verfolgt werden. Ja, selig seid ihr, wenn andere euch schmähen und | |
verfolgen. | |
taz: Ist das die Bergpredigt? | |
Dutschke-Klotz: Ja. | |
taz: Das haben Sie rausgeschrieben? | |
Dutschke-Klotz: Ich habe sie rausgesucht für das Interview. Straßen- oder | |
Flughafenblockaden finde ich nicht gut. Weil sie nicht die richtigen Leute | |
treffen. Sie treffen normale Leute, die einfach reisen wollen. Vielleicht | |
sogar kranke Leute, wenn ein Krankenwagen nicht durchkommt. Das ist nicht | |
die richtige Antwort. Ich denke, was wir damals gemacht haben, war viel | |
besser. | |
taz: Inwiefern waren die Aktionen der 68er besser? | |
Dutschke-Klotz: Die waren näher an den richtigen Problemen. Dieter | |
Kunzelmann war ein schrecklicher Mann, aber [4][seine Pudding-Bombe] auf | |
den US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey, als der Berlin besucht hat, traf | |
einfach den Richtigen. Oder als wir einen Weihnachtsbaum verbrannt haben | |
mit Bildern von Walter Ulbricht und Lyndon Johnson. Da konnte man einen | |
Zugang finden, da sah man, was Sinn der Sache war. | |
taz: Rechtsruck, Klima, soziale Gerechtigkeit – was ist für Sie im Moment | |
die drängendste politische Frage? | |
Dutschke-Klotz: Man kann das nicht trennen. Also zu sagen, wir stellen erst | |
mal die Umwelt zurück, um die Wirtschaft in Deutschland zu verbessern, das | |
geht einfach nicht. Dann gehen wir alle zugrunde. Man kann es nicht machen | |
wie CDU und AfD. | |
taz: Gehen Sie zur Wahl? | |
Dutschke-Klotz: Bis jetzt habe ich immer grün gewählt. Wahrscheinlich werde | |
ich nächstes mal auch grün wählen, aber mit Bauchschmerzen. Weil die auch | |
für Wirtschaftswachstum sind, obwohl das der Umwelt nicht guttut. | |
taz: Sahra Wagenknecht wirft den Grünen vor, ärmere Menschen zu vergessen. | |
Dutschke-Klotz: Aber wer sind die Vergessenen? Sind es die Obdachlosen, | |
oder sind es die Leute, die schon eine Wohnung haben und vielleicht nicht | |
so viel verdienen? Sind es die, die ein bisschen mehr verdienen, aber | |
trotzdem nicht viel? Ich denke, wenn der Reichtum gleichmäßiger verteilt | |
wäre, würde das dem Klima auch helfen. Die reicheren Leute müssen Geld | |
abgeben und mit diesem Geld kann man einen sozialen Ausgleich schaffen und | |
mehr für den Klimaschutz tun. Am Ende hätte Deutschland daraus sogar einen | |
ökonomischen Vorteil. | |
taz: Früher haben radikalere Linke gegen den Staat opponiert, heute haben | |
viele von ihnen das Gefühl, staatliche Institutionen verteidigen zu müssen. | |
Wie sehen Sie das? | |
Dutschke-Klotz: Es gab immer einen Konflikt um den Staat. Zwischen | |
Bewahrung, weil er bedroht wird von den Nazis – damals von den Altnazis, | |
heute von den neuen Nazis – und der Möglichkeit, den Staat ganz anders zu | |
machen. Diesen Konflikt kann man nie ganz lösen, man muss beide Seiten | |
sehen. Rudi hat deshalb sehr früh die Idee des langen Marsches durch die | |
Institutionen entwickelt. | |
taz: Was sehen Sie als größten Fehler der 68er? | |
Dutschke-Klotz: Der größte Fehler war, dass es „macho“ war, und das haben | |
die Männer nicht mal bemerkt. Als die Frauen im September 1968 das erste | |
Mal öffentlich und laut aufgestanden sind, [5][haben die Männer nicht mal | |
zugehört] – die wollten nicht. Das hat sich geändert, denke ich. | |
taz: Wenn wir jetzt noch mal vom Politischen ins Private kommen: Hatten Sie | |
letztendlich Sex vor der Ehe? | |
Dutschke-Klotz: Ja, doch. Rudi und ich haben überlegt, ob wir überhaupt | |
heiraten wollen. Viele von den Leuten in unserer Gruppe haben nicht | |
geheiratet. | |
taz: Damit waren Sie schon ziemlich Establishment, oder? | |
Dutschke-Klotz: Der Grund war hauptsächlich Geld. Man bekam, wenn man in | |
Berlin war, 3.000 D-Mark Kredit und wir hatten nichts. Deshalb dachten wir: | |
Okay, wir heiraten. Wenn man keine Kinder bekam, sollte man das Geld | |
zurückbezahlen. Aber die haben es nie gefordert. Und wir haben dann ja auch | |
Kinder bekommen. | |
taz: Haben Sie in einer Kommune gewohnt damals? | |
Dutschke-Klotz: Die Kommune war meine Idee, ich habe diese Diskussion | |
überhaupt nach Deutschland gebracht. Wir wollten eigentlich ein Haus bauen, | |
ich und meine Leute. Aber Dieter Kunzelmann kam aus München nach Berlin und | |
hat die Idee der Kommune kaputt gemacht. Seine Art Kommune hat die | |
Schlagzeilen beherrscht. | |
taz: Kunzelmanns Art der Kommune drehte sich vor allem um Sex. Wo haben Sie | |
dann gewohnt? | |
Dutschke-Klotz: Wir sind [6][ins Haus des Sozialistischen Studentenbunds] | |
gezogen. Nur kurz, von Ende 67 bis Anfang 68. Die Türen des Hauses waren | |
immer offen. Als wir eines Tages die Treppe runtergingen, war alles mit | |
Scheiße beschmiert. An der Wand stand „Tötet Rudi“. Da habe ich gesagt: W… | |
können nicht hier bleiben. Helmut Gollwitzer hat uns dann in seinem Haus | |
wohnen lassen. | |
taz: Wie lange hat es gedauert, bis das erste Kind kam? | |
Dutschke-Klotz: Hosea ist 1968 im Januar geboren, [7][im April war das | |
Attentat]. | |
taz: [8][Ein Rechtsextremer schoss] Rudi in den Kopf, der überlebte nur | |
knapp und musste neu sprechen lernen. Sie sind erst nach Italien geflohen, | |
dann nach England, dort wurde Rudi aber als zukünftige Gefahr für die | |
„nationale Sicherheit“ ausgewiesen, 1969 ist ihr zweites Kind geboren, zu | |
viert sind Sie schließlich nach Dänemark gezogen. Sie mussten sich allein | |
um alles kümmern. | |
Dutschke-Klotz: Als es Rudi besser ging, hatte er Angst, was vorher nie der | |
Fall gewesen war, aber er war gut mit den Kindern. Als es ihm wieder | |
richtig gutging, fing er wieder mit der Politik an und war dann sehr viel | |
weg. | |
taz: Und Sie? | |
Dutschke-Klotz: Auf jeden Fall war ich nicht ständig weg. Ich habe damals | |
am Ernährungsinstitut der Universität Aarhus gearbeitet und manchmal | |
Forschungsaufträge vom Weltkirchenrat angenommen. Ich sollte untersuchen, | |
wie Religion und Ernährung in verschiedenen Ländern zusammenhängen. Einmal | |
im Jahr bin ich für etwa sechs Wochen weggefahren, nach Italien, Israel, | |
Mexiko, Indien. Dann musste Rudi auf die Kinder aufpassen. | |
taz: Wie gut hat das geklappt? | |
Dutschke-Klotz: In Israel gab es eine totale Konfrontation zwischen Arabern | |
und Juden. Ich war in einem Hostel direkt an der Grenze und dort kam es zu | |
Zusammenstößen, das war wirklich schlimm. Rudi hat davon in der Zeitung | |
gelesen und beschlossen, dass ich bestimmt tot bin. Er hatte es sogar schon | |
den Kindern beigebracht. Beim nächsten Mal sollte ich nach Mexiko gehen. | |
Rudi sagte, er könne nicht beide Kinder nehmen, das wäre zu hart für ihn. | |
Also habe ich meine Tochter mit nach Mexiko genommen. Das war auch nicht so | |
einfach, weil ich ja forschen sollte. Als ich nach Indien geflogen bin, hat | |
er wieder beide Kinder genommen. | |
taz: Wurden bei Dutschkes Erziehungsfragen ausdiskutiert? | |
Dutschke-Klotz: Wir haben schon ab und zu darüber gesprochen, etwa wenn es | |
zu der Frage kam, ob man die Kinder schlagen dürfte oder nicht. Ich habe | |
nein gesagt. Rudi meinte, unter bestimmten Umständen sollte man das machen. | |
Er hat die Kinder einmal geschlagen. Sie sind mit einer Kerze in ein Zelt | |
gekrochen. Rudi war außer sich, das Zelt hätte niederbrennen und sie hätten | |
sterben können. Da hat er sie geschlagen. Aber das war das einzige Mal. | |
taz: Wer hat gekocht und wer abgewaschen? | |
Dutschke-Klotz: In der Frühzeit konnte Rudi gar nicht kochen. Dann habe ich | |
gesagt, er muss, weil wir uns die Aufgaben teilen müssen. Und dann hat er | |
es gelernt. Paniertes Fischfilet. | |
taz: Das waren fertige Fischstäbchen? | |
Dutschke-Klotz: Nein, er hat das selbst gemacht, er hat das alles gekauft | |
dafür. Und das hat er gut gemacht. Aber er hat es jedes Mal gemacht, immer | |
das Gleiche. Aber immerhin. Den Abwasch haben wir beide gemacht, bis die | |
Politik wieder anfing, und er verreiste. Als er nach Hause kam, habe ich | |
gesagt, dass er jetzt dran ist. Das hat ihn sauer gemacht. | |
taz: Am Weihnachtsabend 1979 ist Rudi an den Spätfolgen des Attentats | |
gestorben, genau 45 Jahre ist das jetzt her. Wie ist Ihnen dieser Tag im | |
Gedächtnis geblieben? | |
Dutschke-Klotz: Er musste am Nachmittag noch Schlagsahne kaufen. Als er | |
zurückkam, hat er erzählt, dass ihm ein Mann den Weg blockiert hat. Mit | |
einem Regenschirm. Der hat seine Hand mit dem Regenschirm Richtung Rudi | |
bewegt. Ich dachte später manchmal, vielleicht hat der Gift auf ihn | |
geschüttelt. Ich weiß es nicht. Die Behörden haben nach seinem Tod eine | |
Untersuchung gemacht und kein Gift gefunden. Aber vielleicht war es etwas, | |
das sie nicht untersucht haben, weil sie es noch nicht kannten damals. | |
taz: Die offizielle Version ist: Rudi hat in der Badewanne einen | |
epileptischen Anfall erlitten und ist ertrunken. | |
Dutschke-Klotz: Er hatte seit mindestens fünf Jahren keinen Anfall mehr | |
gehabt. Rudi und ich dachten, dass er keinen mehr bekommen würde. Aber dann | |
war er plötzlich tot. Wie konnte das sein … | |
taz: Haben Sie sich danach Vorwürfe gemacht? | |
Dutschke-Klotz: Nein, aber wenn jemand stirbt, von dem man denkt, er sei | |
gesund, fragt man sich: warum? Wir waren alle in dem Haus, niemand hat es | |
bemerkt. Ich dachte, ich höre ihn im Bad, alles okay. | |
taz: Sie haben ihn dann tot in der Badewanne gefunden, waren plötzlich | |
allein mit zwei Kindern und schwanger mit dem dritten. Wie macht man in so | |
einer Situation weiter? | |
Dutschke-Klotz: Freunde in Aarhus sagten, wir könnten bei ihnen wohnen. | |
Dort habe ich praktisch die ganze Zeit nur geweint. Die haben aufgepasst, | |
dass die Kinder ordentlich versorgt sind. Die Freundin kriegte auch ein | |
Kind und hatte den Geburtstermin ein bisschen früher als ich und sie | |
brauchten die Zimmer. Da dachte ich: Okay, ich muss jetzt aufhören zu | |
weinen. Und das habe ich gemacht. Wir haben eine Wohnung gesucht und eine | |
gefunden. | |
taz: Haben Ihnen die alten Genoss:innen geholfen? | |
Dutschke-Klotz: Wir haben von Rudolf Augstein Geld bekommen, glaube ich. | |
Viele Leute haben Geld geschickt. Einige vielleicht 5 Mark, einige bis 100 | |
oder so. Auf jeden Fall kam viel zusammen. Unser Freund [9][Milan Horáček] | |
ist gleich nach Aarhus gekommen und hat uns in dem Jahr sehr viel geholfen. | |
Am ersten Weihnachten nach Rudis Tod, das sehr schwer für mich war, hat | |
Milan gesagt: Wir gehen Skilaufen, das ist etwas ganz anders, alle freuen | |
sich und denken nicht daran. | |
taz: Er war der Einzige, der kam? | |
Dutschke-Klotz: Rudis Familie konnte ja nicht zu uns kommen aus der DDR, | |
ich war nicht mal sicher, ob sie die Nachricht von seinem Tod bekommen | |
hatten, weil die Stasi meine Briefe abfing. Dann haben Leute von der | |
evangelischen Studentengemeinde Hannover uns eingeladen, dort zu wohnen und | |
da habe ich Christa Ohnesorg getroffen, die Witwe von Benno Ohnesorg und | |
mit ihr habe ich viel geredet: wir hast du das gemacht, als dein Mann | |
gestorben ist? [Benno Ohnesorg war 1967 bei Protesten gegen den | |
Schah-Besuch erschossen worden Anm.d.Red.] | |
taz: Wie präsent ist Ihnen Rudi denn heute? | |
(Dutschke-Klotz zeigt auf ein Porträt in Acrylfarben an der Wand.) | |
taz: Haben Sie das gemalt? | |
Dutschke-Klotz: Ich hab es gerade fertig gemacht. Ich denke schon noch an | |
ihn, immer noch. | |
taz: Besonders an Weihnachten? | |
Dutschke-Klotz: Ja, aber Weihnachten ist für mich nicht mehr dadurch | |
bestimmt. | |
taz: Sie sind 1985 in die USA zurückgegangen. Haben Sie sich dort wieder | |
verliebt und Beziehungen geführt? | |
Dutschke-Klotz: Einige. Aber das waren nur Versuche. Da gab es einen, den | |
ich über die Unitarische Kirche kennengelernt habe. Wie sich herausstellte, | |
hatte Rudi von diesem Mann sogar schon gehört gehabt. Es war ein | |
Amerikaner, der als IT-Experte in der DDR in einer Schweineschlachterei | |
gearbeitet hatte. Rudi hatte einen Zeitungsartikel über den Mann | |
aufgehoben, weil das so besonders war: ein Amerikaner in der DDR! Und mit | |
diesem Mann war ich dann eine Zeit zusammen, aber es hat nicht | |
funktioniert. | |
taz: Sie haben sich also nie wieder so richtig verliebt? | |
Dutschke-Klotz: Nein. | |
taz: Haben Sie es versucht, auch wegen der Kinder? | |
Dutschke-Klotz: Auf keinen Fall, das war nie der Grund. Ich glaube, das war | |
besser alleine zu schaffen als zusammen mit einem Mann. | |
taz: Warum sind Sie letztendlich nach Deutschland zurückgegangen? | |
Dutschke-Klotz: Ich war von 90 bis 95 schon in Deutschland, um mein erstes | |
Buch zu schreiben. Dann haben sie mich aus Deutschland rausgeschmissen, | |
weil ich kein Einkommen hatte, und ich bin wieder in die USA gegangen. Das | |
Buch hat sich sehr gut verkauft, ich habe sehr viel Geld verdient und | |
konnte das in meine Rente einzahlen, deshalb bekomme ich heute eine Rente | |
aus den USA. Irgendwann waren meine Verwandten in den USA alle gestorben, | |
zwei meiner Kinder lebten in Dänemark, mein Sohn war nach Deutschland | |
gegangen und sagte mir, dass er bald ein Kind bekommen würde. Deshalb bin | |
ich 2009 wieder nach Deutschland. | |
taz: Hosea Che und Polly-Nicole leben in Dänemark, Marek hier in Berlin. | |
Reden sie mit ihren Kindern viel über Politik? | |
Dutschke-Klotz: Ja, aber sie denken nicht so viel darüber nach, was in | |
ferner Zukunft sein könnte. Sie wollen konkrete Lösungen. Meine Tochter ist | |
zum Beispiel im Stadtparlament von Aarhus und tut was in Umweltfragen. Sie | |
arbeitet hauptberuflich in einem Heim für Menschen mit Behinderungen und | |
will auch die Situation für diese Menschen besser machen. Dass die sich mit | |
dem öffentlichen Verkehr leichter bewegen können und so weiter. Mit | |
direkten Problemen also. | |
taz: Wie eng ist denn der Kontakt zu Ihren Kindern und den Enkeln? | |
Dutschke-Klotz: Anfang November war Hosea in Berlin, Ende November | |
Polly-Nicole. Heute waren mein Sohn Marek und seine Kinder da. An einem | |
Adventssonntag koche ich immer Ente, die Knochen liegen da hinten noch. An | |
Weihnachten gehe ich zu Marek und sonst auch circa einmal die Woche. Er | |
kocht gerne und ich werde gerne bekocht. | |
taz: Sie haben sieben Enkel. Wie nennen die Sie, Oma? | |
Dutschke-Klotz: Nein. Ich bin Gretchen. | |
taz: Sie sind 82 Jahre alt – denken Sie manchmal über das Ende nach? | |
Dutschke-Klotz: Ich überlege schon, was ich meinen Kindern sagen soll, wo | |
ich am liebsten begraben werden möchte. Wahrscheinlich ist es unmöglich, | |
mit Rudi zusammen in das Ehrengrab auf dem Friedhof in Dahlem zu kommen. | |
Ich habe es nie geklärt, die Frage ist nicht so angenehm. | |
taz: Denn Sie freuen sich am Leben? | |
Dutschke-Klotz: Ja! Letzte Woche habe ich eine Lesung mit dem neuen Buch | |
gemacht. Gerade hat mich eine Gruppe Aktivisten in die Türkei eingeladen. | |
Die wollen hören, wie wir es 1968 geschafft haben, das Land zu verändern. | |
Das wird interessant. | |
24 Dec 2024 | |
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