# taz.de -- Tätowieren im Pilgerort: Heilige Jungfrau Maria, stich uns bei | |
> Im italienischen Wallfahrtsort Loreto tätowiert Jonatal Carducci | |
> Pilgersymbole. Seine Faszination für das Handwerk belebt eine | |
> jahrhundertealte Tradition. | |
Bild: Carducci bietet Kreuze, Herzen Jesu, Erzengel, aber auch heidnische Motiv… | |
Loreto taz | Zum sanften Zapp-zapp tanzt sie, die heilige Jungfrau Maria. | |
Tanzt inmitten der Ruhe, die sich mit jedem Nadelstich im Raum ausbreitet | |
und sogar die leise Rockmusik besänftigt, die durch das Ziegelsteingewölbe | |
schallt. Zapp, zapp, sticht Jonatal Carducci die Nadel hinein in die Haut | |
und zieht sie wieder raus. Das Auf und Ab setzt den Tanzrhythmus für die | |
Gottesmutter, die hinten auf seinem Werkzeug thront – und die ihm beisteht, | |
wenn er seine Hände machen lässt, wofür sie in diesem Leben bestimmt sind | |
und worin er sie sein Leben lang geübt hat. | |
Jonatal Carducci ist Tätowierer. Ein stämmiger Mann mit wachen Augen, | |
kurzgeschorenen Haaren und tintenverzierten Armen. Handwerker, kein | |
Künstler, sagt er. Sein Handwerk sei es, zu wissen, wie die Haut beschaffen | |
ist, wie die Werkzeuge funktionieren und wie es die alten Meister gemacht | |
haben. Sein Weg hat den 48-Jährigen sein Handwerk weiter verfeinern und | |
immer neue Facetten kennenlernen lassen, nur um ihn nach bald 30 Jahren zu | |
einer ursprünglichen Form des Tätowierens zurückkehren und eine beinahe | |
vergessene Tradition seiner Heimat wiederentdecken zu lassen. „Nicht ich | |
habe mir ausgesucht, diese Tattoos zu stechen“, sagt Carducci. „Sie haben | |
mich ausgesucht.“ | |
Carducci lebt in Loreto in Mittelitalien, er ist auch nicht weit von hier | |
aufgewachsen. Die 13.000-Einwohner-Gemeinde ist der zweitwichtigste | |
Wallfahrtsort Italiens. Busseweise und auf Pilgerreise kommen sie von | |
überall her, um das heilige Haus zu besuchen, in dem die Jungfrau Maria die | |
Nachricht erhalten haben soll, dass sie Gottes Sohn gebären werde. Die | |
Kuppel der Basilika oben auf dem Hügel ist schon von Weitem sichtbar und | |
blickt über Stadt und Meer. | |
Mitte Mai, wenige Tage nach dem [1][Konklave], lacht [2][der neue Papst] | |
bereits von einem Plakat und den Reisegruppen, Schulklassen und Wanderern | |
zu, die sich in der Altstadt vor der Kathedrale scharen. Pilger im | |
Selfiemodus, Beichten im Schichtbetrieb. Gelato und Rosenkranz-Souvenirs | |
draußen, Andacht und Kerzenschein drinnen. Und gleich eine | |
Kopfsteinpflastergasse weiter: Carduccis Tattoostudio. | |
In der kühlen Luft des Studios hat sich Carducci, der sich als Jona | |
vorstellt, an diesem Nachmittag wie üblich bereit gemacht für den nächsten | |
Kunden. Er hat sein Werkzeug desinfiziert, Arbeitsflächen abgeklebt und | |
schließlich die Tätowiernadel in einen Messinggriffel gefädelt. Hinten auf | |
dem Stift, wie ein Radiergummi auf einem Bleistift, die Jungfrau Maria. Die | |
würde ihm beistehen, wenn er Tätowierungen so sticht, wie es schon im 16. | |
Jahrhundert gemacht wurde. Dabei sticht Jonatal Carducci weder Schriftzüge | |
noch Tribals oder Drachen, er tätowiert Pilgersymbole. | |
## Handwerker und Historiker | |
Aus mehr als 60 Motiven können seine Kunden wählen. Kreuze, Herzen Jesu, | |
Erzengel, aber auch heidnische Symbole wie Meerjungfrauen. Diese finden | |
sich auf Messingstempeln, die meisten nur etwas größer als eine | |
Streichholzschachtel. Für jeden Kunden würden die Motive eine andere | |
Bedeutung haben, sagt Carducci. Der ältere Herr, der sich an diesem Tag | |
unter seine Nadel legt, weiß, was er will: die Jungfrau Maria von Loreto. | |
Es ist bereits sein zweites Pilgertattoo. | |
Jonatal Carducci pflückt den Stempel aus dem Setzkasten. Mit behandschuhten | |
Fingern verteilt er violette Farbe auf dem Messingmotiv, drückt den Stempel | |
auf den Oberarm und bittet den Herrn vor den Spiegel. Passt die Position? | |
Perfetto! Allora, andiamo. | |
Mal schneller, mal langsamer, punktet sich Carducci Stich für Stich den | |
Abdruck entlang. „Hand Poke“ heißt die Technik, bei der die Tinte, anstatt | |
mit einer Tätowiermaschine, manuell mit einer Nadel in die Haut gestochen | |
wird. Das wird von vielen als weniger schmerzhaft empfunden als das | |
Tätowieren mit der Maschine. Aber: Es dauert länger. Denn die Linien werden | |
bei dieser Technik nicht gezogen, sondern Punkt an Punkt gereiht. | |
Für ein feuerzeuggroßes Pilgertattoo braucht Carducci mitunter eine Stunde. | |
Mit der Maschine ist das Motiv in wenigen Minuten gestochen. Handgestochen | |
sei es zudem schwieriger, eine saubere Linie zu ziehen, das mache das | |
Ergebnis nicht perfekt, aber besonders. Beim Tätowieren per Hand spüre man | |
auch den Widerstand der Haut, sagt Jonatal Carducci. „Und erst der Klang, | |
wenn die Nadel in die Haut eindringt – wunderschön!“ Kein Maschinenzurren, | |
nur das Zapp- zapp. Zapp, zapp. | |
Die meisten von Carduccis Kunden sind Pilger, die in rund sechs Tagen den | |
Weg von Assisi nach Loreto gehen. Und die würden meist in ruhiger Stimmung | |
und in einer guten Energie sein Studio betreten. „Diese Tattoos sind nicht | |
für jedermann“, sagt Carducci. Die Lauten und Aufdringlichen, die würden | |
kurz reinschauen und meist gleich wieder gehen, da brauche er gar nichts zu | |
sagen. Für viele sind die Tätowierungen Abschluss des Pilgerweges. Manche | |
Kunden wollen ein Tattoo, um die Gnade der Madonna oder Hilfe für ein | |
krankes Familienmitglied zu erbitten. Für andere markiert es eine | |
bedeutende Veränderung im Leben oder den Übergang in einen neuen | |
Lebensabschnitt. | |
Für Jonatal Carducci begann ein neuer Lebensabschnitt damit, tiefer in die | |
Welt der Loreto-Tätowierungen einzutauchen. Für ihn sei bald klar gewesen: | |
Diese Art von Tattoos wollen auf die alte Art gemacht werden. Und nur hier | |
in Loreto. | |
Seit mehr als 20 Jahren widmet sich Carducci der Geschichte des Tätowierens | |
in unterschiedlichen Kulturen. Jeden Tag ist er online und schaut nach | |
Büchern, sucht nach Hinweisen. Aus alten Schriften hat Carducci auch die | |
traditionellen Motive aus Loreto zusammengetragen und sie in Form seiner | |
Stempel nachgebildet. Sein Studio, das er im Jahr 2019 eröffnete, ist heute | |
zugleich Galerie, Bibliothek und Museum. | |
Vor 500 Jahren, erzählt Carducci, waren es Handwerker wie Schuhmacher und | |
Tischler, die Pilger zu den Festtagen auf Loretos Plätzen tätowierten. | |
Damals wurden Holzplättchen verwendet, um die heiligen Motive auf die Haut | |
zu stempeln, tätowiert wurde mit Schusterwerkzeug und Ruß. Im Jahr 1871 | |
wurde das Tätowieren in Loreto dann aus hygienischen Gründen verboten. Die | |
Menschen machten im Verborgenen weiter. Der Schuhmacher Leonardo Conditi | |
tätowierte noch in den 1940er Jahren. Ein Schwarzweißfoto der Familie | |
Conditi ziert Carduccis Ziegelwand. | |
Jeweils nach ein paar Stichen taucht Carducci die Nadel wieder in die | |
schwarze Farbe. Zwischendurch die Nachfrage, ob alles o. k. sei. | |
Bellissimo! Dann wieder: Ruhe. Der Handwerker ist fokussiert, der Kunde | |
ganz bei sich. | |
Meist werde wenig geredet, sagt Carducci. Und wenn, dann teilen Kunden ihre | |
Emotionen, erzählen von ihrem Weg. Von Glücksfällen und Schicksalsschlägen, | |
vom Scheitern und Durchhalten, von Begleitern und Unterstützern. Für | |
Jonatal Carducci sind diese Begegnungen jedes Mal ein Geschenk. Ein | |
besonderer Moment sei es etwa gewesen, als er eine Nonne aus Loreto | |
tätowieren durfte. „Sie hat mich gefragt, ob wir ein Gebet sprechen wollen, | |
und wir haben gemeinsam gebetet.“ | |
Aber Tätowieren als spirituelle Praxis? Er schüttelt den Kopf. „Ich bin | |
Jona, ich bin ein einfacher Mann. Ich liebe die Menschen, ich liebe die | |
Frauen, ich liebe Motorräder. Ich will kein Mönch sein wie die | |
Sak-Yant-Meister in Thailand. Ich hoffe einfach, dass die Menschen meine | |
Leidenschaft spüren. Die Verbindung, die entsteht beim Tätowieren, das ist | |
für mich genug.“ | |
## Motorrad statt Mönch | |
Christliche Tätowierungen haben eine lange Tradition und waren in Europa | |
von 1200 bis 1700 bei Bauern, Soldaten und Handwerkern ebenso verbreitet | |
wie bei Nonnen und Mönchen, schreibt Gustavo Morello, Professor für | |
Soziologie am Boston College, der zu Tätowierungen und Religion forscht. | |
Begonnen hat das Tätowieren in der westlichen Welt aber bereits im antiken | |
Griechenland und Rom als Mittel zur Kennzeichnung von Sklaven und | |
Gefangenen. Griechen und Römer tätowierten ihnen Buchstaben oder Wörter auf | |
die Stirn, um auf ihr Verbrechen hinzuweisen. Im Römischen Reich | |
unterdrückt und verfolgt, ließen sich Christen, aus Solidarität und um ihre | |
Religionszugehörigkeit zu zeigen, frühchristliche Motive wie Fische oder | |
Lämmer tätowieren. | |
„Meine Tätowierungen sind mein Tagebuch“, sagt Carducci. „Sie sind meine | |
Reisen, mein Schmerz, meine Geschichte.“ Seine Hautbilder stammen aus | |
Japan, Israel, Los Angeles oder Stockholm. Die Jungfrau Maria von Loreto | |
auf seinem Unterarm hat er sich von Marco Pisa, einem Tattoomeister aus | |
Bologna, stechen lassen. Fotos anderer Wegbegleiter und Mentoren zieren | |
die Wände seines Studios und schauen Carducci jeden Tag über die Schulter. | |
„Von allen habe ich etwas gelernt. Die Kleinigkeiten, die Routinen, die | |
Eigenheiten. Vor allem aber habe ich die Energie aufgesogen, die von ihnen | |
ausging und die in ihren Studios spürbar war.“ Von den meisten habe er sich | |
auch ein Tattoo stechen lassen. | |
Wenn Carducci nicht in Loreto arbeitet, verfeinert er seine Fähigkeiten | |
beim Tätowieren, etwa von traditionellen japanischen oder polynesischen | |
Motiven. Überall auf der Welt besucht er Kollegen, um weiter zu lernen. | |
„Wenn man aufhört, wird man schlechter. Man merkt es sofort“, sagt | |
Carducci. Er brauche die regelmäßige Praxis. „Wenn ich arbeite, dann | |
arbeite ich. Auch zehn Stunden am Stück. Und wenn ich nicht arbeiten will, | |
dann fahr ich ans Meer. Das Leben ist kurz.“ | |
Als Zeugnisse seines Tätowiererlebens präsentiert Carducci seine alten | |
Maschinen in einem Schaukasten. Auch seine erste. Die habe er auf Zureden | |
eines Freundes gekauft – der allerdings habe einen Rückzieher gemacht und | |
sich dann erst nicht tätowieren lassen. Carduccis Mutter war schließlich | |
unter den Ersten. Sein Vater habe hingegen kein Tattoo. Anfangs sei er, der | |
Schmied, skeptisch gewesen, als der Sohn mit Anfang 20 sein erstes | |
Tattoostudio eröffnete. Heute sei er stolz. Aber tätowieren wolle er seinen | |
Vater heute nicht mehr, sagt Carducci und grinst. „Ich sage ihm immer: Du | |
bist bis jetzt sauber geblieben, lass das so.“ | |
Die Liebe zum Handwerk hat sich in Carducci festgesetzt wie Farbe unter der | |
Haut. „Meine Faszination ist mein Treibstoff“, sagt er. „Die wahre Seele | |
des Tätowierens versteht man mit der Zeit. Es ist wie im Leben, eine | |
Entwicklung, Schritt für Schritt. Wenn du nicht fasziniert bist, dann hörst | |
du besser auf.“ | |
Nach einer Stunde legt Carducci die Messing-Maria beiseite und wischt über | |
den Oberarm des Kunden. Kontrollblick im Spiegel. Perfetto! „Es hat Zeit | |
gebraucht, bis ich bereit war, diese Tattoos zu stechen“, sagt er. „Wenn | |
ich aufhöre, dann werden sie wieder jemand finden, der die Tradition | |
fortführt.“ | |
14 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Schauhuber | |
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