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# taz.de -- Essay Protest früher und heute: 1968. 2019. 2068?
> Die 68er wüteten gegen Nazi-Eltern und Atombomben. Die 19er demonstrieren
> gegen Emissionen. Was sie eint – und was nicht.
Bild: Dutschke 1968 am Rande des FDP-Parteitags in Freiburg
Berlin taz | Am 2. Juni 1967 demonstrierten in Westberlin Student*innen
gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien. Die Polizei erschoss Benno
Ohnesorg und knüppelte mit „hemmungsloser Bestialität“ auf die
Demonstrierenden ein, so schrieb es der Stern. Der Tag politisierte viele
der späteren 68er. [1][Am 29. November 2019 demonstrieren in Berlin und
weltweit Fridays for Future] für einen radikalen Wandel in der
Klimapolitik. Seeed spielt am Brandenburger Tor, der DGB-Vorsitzende
spricht.
Es lohnt sich, beide Bewegungen zu vergleichen. Die Fridays, die 19er, und
die 68er. Letzteres ist längst eine Chiffre für alle, die seit den 1960er
Jahren weltweit um liberalere Gesellschaften gerungen haben. Die Fridays
werden vielleicht zur Chiffre für alle, die eine ökologische Gesellschaft
erringen wollen.
Für beide trifft Folgendes zu: „Bei der neuen Generation haben wir es mit
einer Menschengruppe zu tun, der die unheimlichen destruktiven Tendenzen
des rasanten technischen ‚Fortschritts‘ der letzten Jahrzehnte in Fleisch
und Blut sitzen.“ Den Satz schrieb die Philosophin Hannah Arendt 1969 in
ihrem berühmten Buch „Macht und Gewalt“ über den damaligen Protest. Damals
ging es nicht um das Ende der Welt durch den Klimakollaps, sondern um
Destruktion durch Vietnam, Atomwaffen und Notstandsgesetze.
Doch die Impulse beider Bewegungen sind die Gleichen: Eine neue Generation
lebt im Bewusstsein eines Jüngsten Gerichts, das die Menschheit sich selbst
bereitet. Die Rebellion ist ein weltweites Phänomen, die Manifestationen
aber sind lokal und recht verschieden – so formulierte das Hannah Arendt.
In den USA waren die 68er auch ein Aufstand gegen Rassismus, in Deutschland
gegen Nazis in Amt und Würden.
## Dutschke und Neubauer in einem Raum
Die 2019er in Deutschland kämpfen dagegen, dass ein Teil der Welt
unbewohnbar wird. Die 2019er in Bangladesch leben in dem bald unbewohnbaren
Teil der Welt. Die 68er wollten Wiedergutmachung für die historische Schuld
des Kolonialismus der Industrieländer, die 2019er für die historische
Schuld ihres CO2-Ausstoßes. Beides hängt historisch unmittelbar zusammen.
Aber der Vergleich erschöpft sich dann auch, spätestens wenn man sich Rudi
Dutschke und Luisa Neubauer in einem Raum vorstellt. Dutschke rief:
„Enteignet Springer!“, Neubauer erklärte Springer-Chef Matthias Döpfner im
Interview: „Wir brauchen eine wohlhabende, glückliche, liebende
Gesellschaft, die ohne CO2-Emissionen leben kann.“ Die Unterschiede
zwischen 68ern und 2019ern sind ungefähr so groß wie zwischen Jean-Paul
Sartre („Diese ununterdrückbare Gewalt … das ist der Mensch, der sich
selbst schafft“) und Seeed („Kids kaufen für Money nur Scheiß“).
Völlig uninteressant ist dabei die Frage, warum die 2019er nicht zünftig
den Kapitalismus als Wurzel allen Übels bekämpfen und die Systemfrage
stellen. Sind halt noch Kids. Sollen das doch die Studierenden for Future,
Parents for Future, Scientists for Future, Entrepreneurs for Future oder
Sonstwer for Future machen. Machen sie ja auch nicht.
Fridays for Future haben binnen kürzester Zeit einen lichten
Schaufensterplatz im Devotionalienladen für öffentliche Debatten erobert.
Sie sind jetzt da, Talkrunden, Zeitungen und Politikbetrieb schmücken sich
gern mit ihnen und ihren Sorgen. Die Argumente der Fridays sind mit
naturwissenschaftlichen Fakten messerscharf gewetzt, aber sie stechen damit
in einen Wackelpudding.
## Treffen mit der konsumtraumatisierten Elterngeneration
Die 68er trafen auf gesellschaftlichen Mief, einen knallharten
Regierungsapparat und eine kriegstraumatisierte Elterngeneration inklusive
Nazitätern, die ihre Kinder dafür verachtete, eben daran erinnert zu
werden. Die 2019er treffen auf eine Regierung, die sie besserwisserisch
tätschelt. Sie treffen auf eine konsumtraumatisierte Elterngeneration, die
stolz und erleichtert feststellt, dass ihre Kindern das ökologische
Gewissen geerbt haben, das sie permanent plagt. Das ist das ganze Dilemma
der Klimadebatte.
Die Fridays hadern mit einer Gesellschaft, die in vollem Zustand ihrer
geistigen Kräfte [2][ihre Lebensgrundlagen zerstört]. Das trifft nicht nur
auf die Bundesregierung zu, deren [3][Klimaschutzpaket] sehr wahrscheinlich
zum Klimakollaps führte, wenn es zum globalen Maßstab allgemeinen Handelns
würde.
Das trifft auf uns alle zu. Viele geben mit seltsam ironischem Zwinkern zu,
dass der eigene Lebensstil Zukunft vernichtender Überkonsum ist. Hätten die
68er in einem solchen Land voller Selbsterkenntnis gelebt, ihre Eltern
wären ihnen wohl schluchzend in die Arme gefallen und hätten gestanden,
dass sie Nazis waren.
Nun ist diese kollektive Selbsterkenntnis heute ja keine schlechte
Voraussetzung. Wir befinden uns zum Glück auch nicht in dem Stadium, das
Hannah Arendt als „Niemandsherrschaft“ bezeichnet hat: „Bei der man keinen
Menschen mehr, weder den Einen noch die Wenigen, weder die Besten noch die
Vielen, verantwortlich machen kann.“ Klimaschutz erscheint so, weil
unendlich komplex. Aber das ist nur der Schein.
## Der Schlüssel heute ist nicht Marx
Die 68er hatten Recht; ihre Eltern hatten versagt, ihre Verbrechen
verleugnet. Die 2019er liegen mit der Behauptung weit daneben, das im
Klimaschutz bisher Erreichte sei witzlos. Unsere Gesellschaften verfügen
über die Instrumente, mit denen sich der Klimakollaps aufhalten lassen
könnte. Autosuggestion? Besser als verzagen.
Schüler*innen und Studierende greifen dankbar in diesen Instrumentenkasten.
Weshalb sie auch nicht den Umsturz des kapitalistischen Systems fordern,
sondern einen höheren CO2-Preis, einen früheren Kohleausstieg, höhere
Steuer auf Fleisch und aufs Fliegen. Ihre Eltern haben die Technologien und
Theorien erarbeitet, mit denen die globale Wirtschaft grün werden kann.
Zumindest erzählen das alle so glaubhaft, dass die 2019er die Wette darauf
eingehen.
Der Schlüssel dazu ist nicht Marx, sondern ein Preis auf CO2. Der stellt
die Zinslogik des Kapitalismus auf den Kopf: Zinsen holen künftig erwartete
Gewinne in die Gegenwart und machen so das Geschäft, das die Gewinne
generiert, erst möglich. Sonst würde sich niemand Geld gegen Zinsen leihen
und damit eine Fabrik bauen. Der CO2-Preis verfolgt die Idee, die Kosten
künftig zu erwartender Klimaschäden in die Gegenwart zu holen und somit die
Schäden zu vermeiden: indem das CO2 gar nicht erst ausgestoßen wird.
Würde CO2-Ausstoß so teuer, dass der Klimakollaps ausbliebe – er würde
nichts anderes bedeuten als einen Einbruch des Energie- und
Rohstoffverbrauchs, ein Ende der Geschäftsmodelle eines Teils der
multinationalen Unternehmen, eine Umverteilung ökonomischer Macht. Die
2019er stellen also nicht die Systemfrage, sie stellen die
Geschäftsmodellfrage.
## Das Problem der 2019er: die Zeit rennt
Nach allen gegenwärtig verfügbaren Prognosen werden die Forderungen der
2019er denkbar tragisch ins Leere laufen. Nicht in der Sache, weil es
realistisch ist, dass der CO2-Ausstoß zumindest in Europa in den nächsten
beiden Dekaden stark sinkt. Sie werden an der Zeitfrage scheitern, eine den
68ern unbekannte Dimension: Eine spätere atomare Abrüstung macht noch
keinen Atomkrieg. Eine spätere Senkung des CO2-Ausstoßes heißt
Klimakollaps.
Die 2019er werden deshalb durch die Institutionen marschieren müssen, wie
es ein Teil der 68er taten. Der Wackelpudding wird sie begeistert
schlucken. Sie werden in einer Hitzewelt versuchen müssen, Menschlichkeit
aufrechtzuerhalten und die reichen Ländern dazu zu bewegen, so viele
Menschen wie möglich aufzunehmen, deren Heimat zerstört ist.
Gegen 2068 scheiden die 2019er dann aus ihren Ämtern und Vorstandsetagen
aus. Und denken sich: Hätte nichts gebracht, aber hätten wir 2019 mal
ordentlich randaliert. Unsere Eltern hätten es verdient gehabt.
29 Nov 2019
## LINKS
[1] /Weltweite-Klimaproteste/!5642985
[2] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262
[3] /Klimapakt-konkret/!5630220
## AUTOREN
Ingo Arzt
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