| # taz.de -- 40 Jahre Grüne: Schluss mit Dagegengeschwätz | |
| > Wenn die Grünen es wirklich ernst meinen mit der Politik für das Ganze, | |
| > dann müssen sie jetzt aufs Kanzleramt zielen. Weniger geht nicht mehr. | |
| Die Wahl von [1][Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten] von | |
| Baden-Württemberg im Frühjahr 2011 ist der historische Moment, der die | |
| Grünen fundamental verändert hat. So sehr sich manche von ihnen auch noch | |
| jahrelang dagegenstemmten. Es war eine zufällige Konstellation der | |
| Geschichte, die sie aus ihrer bequemen Minderheiten- und | |
| Besserwisserposition herauskatapultierte und zwang, Verantwortung für das | |
| Große und Ganze zu übernehmen. | |
| Dafür sind sie vor [2][40 Jahren nicht gegründet worden], aber das ist | |
| jetzt ihre Chance und Verpflichtung, angesichts der gravierenden | |
| politischen Lücke in der erodierenden Volksparteienlandschaft. Unsere alte | |
| Privilegierten-Erzählung der liberalen Moderne mit ihrem linearen und | |
| scheinbar unendlichen Fortschritt an Wohlstand, Freiheit, Gerechtigkeit und | |
| Emanzipation ist zu Ende. | |
| Zum einen wurde das Versprechen der sozialen Gerechtigkeit auch in reichen | |
| Gesellschaften nicht eingelöst, zum anderen wird langsam durch die | |
| Klimakrise klar: Die Welt ist zu klein für diesen an fossiles | |
| Wirtschaftswachstum gekoppelten Fortschrittsgedanken. Alles hängt zusammen | |
| und auch unsere emanzipatorischen Fortschritte und der Freiheitsgewinn des | |
| Einzelnen werden fossil angetrieben. | |
| Das nächste große Ding ist die Moderation der Angleichung von globalen | |
| Lebensverhältnissen bei gleichzeitiger Bewahrung der Lebensgrundlagen | |
| aller. Das geht nicht dadurch, dass die SPD das fossil Erwirtschaftete | |
| etwas anders verteilt oder die Union sich ein Fossil als Kanzlerkandidat | |
| wählt. Es braucht eine zügige Transformation ins Postfossile. Ich verzichte | |
| auf den handelsüblich-romantischen Rückblick auf die grüne Geschichte. | |
| ## Es braucht eine zügige Transformation ins Postfossile | |
| Erstens übernehmen sie das selbst. Zweitens ist es nicht angebracht. So | |
| weitsichtig die Grünen und die sie tragenden Milieus mit ihrem frühen | |
| Insistieren auf die sozialökologische Herausforderung waren, so verbohrt | |
| und realitätsfeindlich waren sie bei der Bearbeitung. Das meint: die | |
| Ablehnung der Politik als Profession und Handwerk, die Liebe zu absoluten | |
| Ansprüchen und das Desinteresse an parlamentarischen Mehrheiten. | |
| Die Unfähigkeit, realitätsnotwendige Positionen zu Nato und | |
| Militäreinsätzen zu klären, was zur Schocktherapie in | |
| Regierungsverantwortung führte. Die Ablehnung der EU und des Maastrichter | |
| Vertrages als neoliberales Monster und das späte Engagement für die | |
| europäische Idee in ihrer konkreten Form als EU. Die Skepsis gegenüber | |
| einem wiedervereinigten Deutschland und den kulturellen Werten vieler | |
| Ostdeutscher. | |
| Die ideologischen Bremsen waren allgegenwärtig, und wenn man unter großem | |
| Gestöhn eine gelöst hatte, dann war schon die nächste da. Für diese | |
| Selbstfixierung, „Strömungsdiskussionen“ genannt, wurden riesige Mengen an | |
| Energie verbraucht, unter anderem zur internen Hassproduktion. „Man hätte | |
| allein mit dieser Energie drei Atomkraftwerke ersetzen können“, sagt der | |
| langjährige grüne EU-Fraktionsvorsitzende Daniel Cohn-Bendit. | |
| Das Problem der Grünen und großer Teile der linken, emanzipatorischen | |
| Milieus war das Verwechseln von Kultur und Politik. Diese grüne Kultur ging | |
| weit über die Partei hinaus und ist eine Fortsetzung der 68er-Gegenkultur. | |
| Ihr politischer Kern besteht im Proklamieren berechtigter Ansprüche | |
| diskriminierter Minderheiten und der eigenen Haltung als höherer Wahrheit. | |
| ## Die Grünen haben Kultur und Politik verwechselt | |
| Als habitueller Sprech- und Identitätsentwurf läuft das auf eine Abspaltung | |
| von der Mehrheitsgesellschaft hinaus, einem vermeintlich moralisch | |
| minderwertigen Mainstream. Vereinfacht gesagt: Die von grüner Kultur | |
| geprägten Leute, zu denen ich auch gehörte, dachten zu lange, dass sie „die | |
| Welt“ mit Woodstock, Wohngemeinschaften, alternativer Mikroökonomie und | |
| Dagegengeschwätz verändern. Sie hatten nicht kapiert, was Politik | |
| eigentlich ist. | |
| Die Vorstellung, sich mit anderstickenden Teilen der Gesellschaft auf etwas | |
| Gemeinsames zu verständigen und sich dafür arbeitend in der Realität die | |
| Hände schmutzig zu machen, ist für Hardcore-Vertreter der grünen Kultur | |
| heute noch ästhetisch unerträglich. Das belegt die anhaltende Wut und | |
| Enttäuschung klassischer Kulturlinker über einen grünen | |
| Ministerpräsidenten, der von 30 Prozent gewählt wurde und für alle Politik | |
| machen muss und will. | |
| Das Verwechseln von Kultur und Politik führte zum maximalen Desaster der | |
| Post-68er-Teilgesellschaft: die Fehleinschätzung der rot-grünen Jahre 1998 | |
| bis 2005 und das Wegschenken des Jahrzehnts danach durch diejenigen, die | |
| rot-grün gewählt hatten. | |
| Vizekanzler Joschka Fischer und die Regierungsgrünen wurschelten viel rum, | |
| zeigten aber auch, dass man unter den schwierigen Umständen der globalen | |
| Realität (Kriege, Koalitionspartner, neue globale Wirtschaftsmächte) in | |
| Teilen Zukunftspolitik hinkriegen kann. Aber gerade die Milieus, die sich | |
| für progressiv hielten, ließen Rot-Grün im Stich, weil ihnen die Realität | |
| von Krieg und Ende der nationalen Industriegesellschaft unangenehm war. | |
| Damit wollte man nichts zu tun haben. | |
| Dann lieber CDU, da konnte man wieder mit ruhigem Gewissen dagegen sein. | |
| Und statt den nächsten Schritt zu gehen, vergeudete auch die wieder von | |
| grüner Gegenkultur dominierte Bundespartei wertvolle Jahre mit | |
| kleingeistiger Abwicklung der Weltpolitikeraura Fischers und einem | |
| dysfunktionalen Mix aus Belehrungsansprachen und Kirchentagsatmo. | |
| ## Die Partei vergeudete Jahre mit Belehrungsansprachen | |
| Und dann kam der grüne Ministerpräsident und in der Folge ein interner | |
| Generationenwechsel, der den von Kretschmann personifizierten | |
| Paradigmenwechsel in den Bundesländern vorantrieb: von der Dagegen- zur | |
| Dafür-Partei, von den Lobbyisten der identitätspolitischen und kulturellen | |
| Mainstream-Opposition zum Zentrum der ganzen Gesellschaft, vom | |
| Besserwissertum zu Dialogfähigkeit, von der Öko- und Gender-App zur | |
| Orientierungspartei. | |
| Wenn ganz normale Leute 2018 eine handelsübliche Fernsehtalkshow sahen, | |
| kriegten sie einen Schock: Der „Vernünftige“, der Moderate, der Zuhörende | |
| schien plötzlich der Grüne zu sein. Irre. Inzwischen haben sie sich daran | |
| gewöhnt. Diesen kulturellen Wandel haben die Parteivorsitzenden | |
| [3][Annalena Baerbock und Robert Habeck] seit Anfang 2018 konzipiert, | |
| verkörpert und in der Partei durchgesetzt. | |
| Ihre erste Sommertour unter den Titel „Einigkeit und Recht und Freiheit“ zu | |
| stellen war ein kommunikationsstrategischer Move, um die Grünen als | |
| Verteidiger:innen der res publica, ihrer Institutionen und des | |
| bundesrepublikanischen Grundgesetzes neu zu erfinden. | |
| Das war eine überfällige Reaktion auf die veränderte gesellschaftliche | |
| Lage, in der Rechtspopulisten eine Revolte gegen den demokratischen Staat | |
| und die liberalen Errungenschaften planen und der jetzige Innenminister | |
| („Herrschaft des Unrechts“) zeitweise assistierte. | |
| ## Vorstandsduo verkörpert kulturellen Wandel | |
| Während die linkskonservativen Trittinisten sich mit durchaus | |
| verständlichen Interessen bis heute dagegen verwahren, das erfolgreiche | |
| Kretschmann-Vorbild umzusetzen – je mehr Leute die Grünen wählen, desto | |
| geringer wird der Anteil und Einfluss dieser „Linken“ –, machte Habeck als | |
| Vizeministerpräsident mit seinem postideologischen Thinktank in | |
| Schleswig-Holstein mit gerade mal 13 Prozent schon ab 2012 | |
| Regierungspolitik, die auf das Ganze und Allgemeine zielte. | |
| Seit 2013 regiert auch Tarek Al-Wazir in Hessen nach dem neuen Muster, | |
| mittlerweile von knapp 20 Prozent Wählern legitimiert. Dass Katharina | |
| Fegebank in Hamburg die Regierung anführen will, gilt inzwischen als | |
| selbstverständlich. Die einen (FDP, Union) zeichnen die Grünen aus | |
| strategischen Gründen aber immer noch als linksideologische | |
| Möchtegern-Sozialisten, während die anderen (SPD, Linkspartei) sie als | |
| asoziale Besserverdiener definieren. | |
| Von der Mediengesellschaft werden die Grünen auch heute noch gerne eher | |
| moralisch und weniger politisch bewertet. Dann werden sie gemessen an der | |
| Abweichung von ihren Überschuss-Idealen von Anno Tobak und nicht an der | |
| Lösungskraft ihrer Politik im Hinblick auf die zentralen politischen | |
| Probleme des 21. Jahrhunderts. Ob sie diese Kraft wirklich haben und eine | |
| grundsätzliche Orientierung vorgeben und durchsetzen können, mit der die | |
| verschiedenen Systeme sich modernisieren, ist unklar. Aber darum geht es. | |
| Das Niveau des öffentlichen politischen Gesprächs ist nicht der Problemlage | |
| angemessen, sondern wie die ehemaligen Volksparteien immer noch weitgehend | |
| im 20. Jahrhundert verhaftet und weitgehend nationalstaatlich orientiert. | |
| Ob Wahl im Saarland oder in der EU – es geht immer um die | |
| „bundespolitischen Auswirkungen“. | |
| Die zukunftsentscheidende Frage ist aber schon lange nicht mehr, ob und mit | |
| wem die Grünen in Deutschland denn nun koalieren, sondern was sie als | |
| zentraler Teil der nächsten Bundesregierung in Brüssel mit den Regierungen | |
| in Skandinavien, den Benelux-Ländern, nicht zuletzt mit Emmanuel Macron – | |
| oder sagen wir Frankreich – für die Sozialökologisierung, die Verteidigung | |
| der liberalen Demokratie, aber eben auch den Wohlstand und die Sicherheit | |
| Europas hinkriegen können. | |
| Und ob es ihnen gelingt, mit Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen | |
| und Linken im Europäischen Parlament Mehrheiten für progressive | |
| Kompromisspolitik zu bilden.Und nun das Wichtigste: Wenn die Grünen von | |
| Annalena Baerbock, Robert Habeck und Winfried Kretschmann es nach 40 Jahren | |
| mit echten Verdiensten, aber viel zu viel Pillepalle und Lähmung durch den | |
| selbstfixierten Irrsinn endlich ernst meinen sollten mit der Politik für | |
| das Ganze, dann müssen sie jetzt auch aufs Ganze zielen. | |
| Das bedeutet: Weltpolitik aus dem Kanzleramt heraus. Kleiner geht es nicht | |
| mehr. | |
| 12 Jan 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Die-Gruenen-werden-40-Jahre-alt/!5651277 | |
| [2] /Die-Gruenen-werden-40-Jahre-alt/!5651277 | |
| [3] /Machtambitionen-der-Gruenen/!5638650 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
| ## TAGS | |
| 68er | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| Annalena Baerbock | |
| Kolumne Die eine Frage | |
| Lesestück Interview | |
| Rosa Luxemburg | |
| Grüne | |
| 68er | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Grüne und das Corona-Virus: Die Krisenverlierer | |
| Merkels CDU legt in Umfragen zu, die Grünen rutschen ab. Kaum einer | |
| interessiert sich noch für Klimaschutz. Bricht Corona die grüne Welle? | |
| 1968 und das Ich: Hello again | |
| Howard Carpendale sang darüber, wie er ein Jahr verschwand und geläutert | |
| zurückkam. Was man daraus von ihm lernen kann? Allein geht es nicht. | |
| Grünen-Chefs über Macht: „Wir versuchen, es anders zu machen“ | |
| Die Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck verraten, wie | |
| sie Deutschland verändern wollen – und wie sie sich gegenseitig stützen und | |
| erdulden. | |
| Luxemburg-Liebknecht-Demo in Berlin: Eine Art Geschichtsstunde | |
| 20.000 Teilnehmer*innen sind für die Traditionsdemo angemeldet. Aber gehen | |
| da auch junge Leute hin? Und wenn ja, warum? | |
| Die Grünen werden 40 Jahre alt: Ein verflucht weiter Weg | |
| Fritz Kuhn kommt in Latzhosen. Eva Quistorp reist in einer „Ente“ an. Als | |
| sich in Karlsruhe die Grünen gründen, herrscht Chaos. | |
| Essay Protest früher und heute: 1968. 2019. 2068? | |
| Die 68er wüteten gegen Nazi-Eltern und Atombomben. Die 19er demonstrieren | |
| gegen Emissionen. Was sie eint – und was nicht. |