# taz.de -- 40. Todestag von Rudi Dutschke: Vorbild und Feindbild | |
> An deutschen Hochschulen wird wieder über die Grenzen der | |
> Meinungsfreiheit gestritten. Wie viel Dutschke steckt in heutigen | |
> Studi-Protesten? | |
Bild: Die Student:innen kämpfen weiter. Heute aber mit anderen Mitteln | |
Vor Semesterbeginn hätte Karim Kuropka nicht für möglich gehalten, dass er | |
wegen seiner hochschulpolitischen Aktivitäten einmal um die eigene | |
Sicherheit fürchten muss. Doch genau das ist diesen Herbst passiert, nach | |
der Rückkehr von AfD-Gründer Bernd Lucke an die Universität Hamburg. | |
Wegen der tumultartigen Szenen, die sich bei Luckes erster Vorlesung | |
abspielten, stempelte die Bild-Zeitung Kuropka und seine Kommiliton:innen | |
zu „Linksextremisten“. Was dann folgte, veranlasste Kuropka zum Kauf eines | |
Pfeffersprays – und zu einer unheilvollen Vorhersage: „Die mediale Kampagne | |
von rechts erinnert mehr und mehr an die Zeit der 68er.“ | |
Man könnte meinen, an Kuropkas Hochschule wäre man daran gewöhnt, dass | |
Studierende ihre Professoren stören. Schließlich wurde hier, im Hamburger | |
Audimax, i[1][m Jahr 1967 das Transparent entrollt], das schnell zum Motto | |
der Studentenproteste wurde: „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“. Ein | |
Slogan, der nicht nur die Autorität der Hochschulen in Frage stellte, | |
sondern – in Form der Außerparlamentarischen Opposition (APO) – auch die | |
der damaligen Großen Koalition. | |
Nur: Die gleichen Störaktionen, zu denen schon Studentenführer Rudi | |
Dutschke gegen den Vietnamkrieg oder die Bonner Notstandsgesetze aufrief – | |
Sitzblockaden, Protestmärsche und Sprechchöre – lösen auch heute noch | |
Entrüstungsstürme aus. | |
## Distanzierung von Störaktionen | |
Und so wird im Jahr 2019 an deutschen Hochschulen nach wie vor über | |
angeblich linksradikale Studierende und eingeschränkte Meinungsfreiheit | |
gestritten. Nicht nur in Hamburg, sondern auch in Göttingen, wo die Antifa | |
nur wenige Tage später [2][eine Lesung von CDU-Politiker Thomas de | |
Maizière] verhinderte. | |
Und zuletzt in Berlin, wo der angekündigte Besuch von AfD-Politikerin | |
Beatrix von Storch bei einer Klimaveranstaltung an der Freien Universität | |
für Wirbel sorgte. | |
Doch der Reihe nach: Mitte Oktober ruft der AStA der Universität Hamburg, | |
deren Vorsitzender Karim Kuropka ist, zur Demonstration gegen | |
Wirtschaftsprofessor Lucke auf, um auf dessen Rolle beim Aufstieg der AfD, | |
aber auch auf seine neoliberalen Wirtschaftskonzepte hinzuweisen. | |
Von den gezielten Störaktionen, die zum Abbruch der Vorlesung | |
„Makroökonomik II“ und einer zweiten Lucke-Vorlesung kurz darauf führen, | |
haben sich [3][die Studierendenvertreter:innen umgehend distanziert]. | |
## AStA erhält Hassmails | |
Dennoch treffen bei Kuropka haufenweise Hassbotschaften ein. Ein | |
Facebook-User teilt mit, ein AStA-Gruppenfoto in geschlossenen Nazigruppen | |
geteilt zu haben, damit sie „am eigenen Leib erfahren wohin eure asozialen | |
Methoden führen“. | |
Ein E-Mail-Verfasser äußert den Wunsch, Kuropka mal über den Weg zu laufen. | |
„Du hast so eine wunderbare, hässliche, Sozi Kanaken Fresse zum | |
reinschlagen.“ Ähnliche Drohungen fallen auch in Göttingen und in Berlin: | |
gegen Mitglieder der Antifa, gegen linke Studierende und auch gegen | |
Klimaaktivist:innen der Fridays for Future. | |
40 Jahre nachdem Rudi Dutschke an den Spätfolgen eines Attentates vom April | |
1968 gestorben ist, schlägt linken Aktivist:innen, so scheint es, mehr Hass | |
denn je aus dem rechten Lager entgegen. Die Junge Union Hamburg etwa wirft | |
dem Hamburger AStA [4][„totalitäre Züge“] vor, selbst der innerhalb der C… | |
liberale Politiker Ruprecht Polenz fühlt sich an die 68er erinnert, „wo es | |
pauschal gegen ‚bürgerliche Wissenschaft‘ ging“. | |
Lucke selbst spricht von „Nazi-Methoden“ und bekommt kräftigen Zuspruch aus | |
seiner früheren Partei. Ein AfDler twittert gar: „Die #Linken sind die | |
neuen #Braunen.“ | |
## Erfolg für rechte Kampagne | |
Über diese Anfeindungen wundert sich Karim Kuropka nicht sonderlich. „Das | |
ist die klassische Täter-Opfer-Umkehr der Rechten“, sagt der 32-Jährige. | |
„Das haben wir schon zur Genüge erlebt.“ | |
Was Kuropka, Student der Linguistik und SPD-Mitglied, aber ärgert: dass die | |
Rechten mit ihrer Kampagne Erfolg haben: „Alle reden jetzt über | |
Meinungsfreiheit und nicht über die Verantwortung, die Herr Lucke für das | |
gesellschaftliche Klima in Deutschland trägt.“ | |
Und dann holt Kuropka aus, um den Bogen zu schlagen von Dutschke und | |
Springer zur AfD und zu rechten Blogs wie „Tichys Einblick“; von den | |
Mechanismen der Aufmerksamkeit zum Dilemma für linke Hochschulgruppen in | |
einer, wie er sagt, „überwiegend rechten“ Medienlandschaft. „Ein Lucke r… | |
einfach bei der Welt an und hat seine Schlagzeile. Die Studierenden dringen | |
mit ihren Botschaften aber oft nicht durch.“ | |
Deshalb verteidigt Kuropka nicht nur den Protest: Er hält ihn für notwendig | |
– auch wenn dafür mal eine Vorlesung ausfallen muss. | |
## Dutschke wollte Stadtguerilla | |
Vielleicht liegt hier das sichtbarste Vermächtnis von Rudi Dutschke: die | |
Kunst der Provokation. Dutschkes Motto „Ohne Provokation werden wir | |
überhaupt nicht wahrgenommen“ war maßgeblich für die Sichtbarkeit der | |
Subversiven Aktion oder des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS). | |
In der Zeit sprach Dutschke auch als Erster von der Notwendigkeit einer | |
„Stadtguerilla“ nach dem Vorbild der kommunistischen [5][Tupamaros in | |
Uruguay]. Später distanzierte sich Dutschke scharf vom Terror von RAF & Co. | |
Macht das Dutschke nicht zwingend zum Vorbild für alle aktiven Linken? | |
Gewaltfrei, aber mit Durchschlagskraft? Kuropka überlegt einen Moment, | |
bevor er antwortet. „In meiner Jugend habe ich mich natürlich auch mit | |
Dutschke beschäftigt“, erzählt er. „Ich würde aber nicht sagen, dass er | |
einen krassen Einfluss auf mich gehabt hätte.“ | |
Politisiert habe er sich über die selbstverwalteten Freiräume an der Uni, | |
die auf Raumbesetzungen in den 80er Jahren zurückgehen. Wobei Kuropka | |
natürlich bewusst ist, dass diese Strukturen ohne die 68er nicht denkbar | |
wären. | |
## Die Fehler von 68 | |
So ähnlich sieht man das auch an Dutschkes prominenter Wirkungsstätte: der | |
Freien Universität Berlin. Hier hat Dutschke Soziologie studiert und später | |
auch promoviert. 2018, ein halbes Jahrhundert nach 1968, ziehen linke | |
Studierende des SDS ein gemischtes Fazit. | |
Einerseits hätten die 68er „Wissensaneignung als gemeinschaftlichen | |
Prozess“ verstanden. Das Ziel, alle Bereiche des Lebens radikal zu | |
hinterfragen, habe unter anderem zum Aufbau einer „Kritischen Hochschule“ | |
geführt. Dem Konzept fühlen sich heute noch viele Hochschulen verpflichtet. | |
Allerdings benennen die FU-Studierenden auch zwei klare „Fehler“ der | |
deutschen 68er: Die anfängliche Gleichgültigkeit der Bewegung gegenüber | |
feministischen Forderungen. Und das fehlendes Bündnis mit der | |
Arbeiterklasse. | |
Kritikpunkte, die auch die Antifaschistische Linke International A.L.I. | |
sieht. Die Antifa-Gruppe aus Göttingen steckt nach eigener Aussage hinter | |
der Blockade von de Maizières Lesung im Alten Rathaus Ende Oktober. | |
## Ungleich verteiltes Kapital | |
Bei der taz melden sich Johann und Tom, die beide, wie sie sagen, zur | |
A.L.I. gehören und deshalb nur mit ihrem Vornamen in der Zeitung stehen | |
wollen. Der linke Kampf dürfe nicht allein an den Hochschulen ausgetragen | |
werden, sagt Johann am Telefon. | |
Sein Genosse Tom ergänzt: „Die Studierenden sind privilegiert, weil sie | |
sich Zeit für politische Arbeit nehmen können.“ Deshalb bildeten sich | |
Antifa-Gruppen häufig auch in Unistädten. Sie aber seien beide | |
„lohnabhängig beschäftigt“. | |
Man müsse immer bedenken, dass das soziale, kulturelle und finanzielle | |
Kapital nicht gleich verteilt sei. Deshalb hätten sie auch die Lesung de | |
Maizières gestört. Um sich mit denen zu solidarisieren, die in unserem | |
System kein Gehör finden: in dem Fall die Leidtragenden des | |
[6][Angriffskrieg der Türkei in Nordsyrien]. | |
Für die macht die A.L.I. die Bundesregierung – und insbesondere | |
Ex-Innenminister de Maizière – mitverantwortlich. Wie der AStA der Uni | |
Hamburg wurde die Gruppe für die Aktion scharf kritisiert. | |
CSU-Generalsekretär Blume etwa setzte die Blockade mit Bücherverbrennungen | |
in der NS-Zeit gleich. | |
## Strömungen statt Personen | |
Trotz der Kritik an den 68ern steht für die beiden Göttinger Autonomen aber | |
fest: „Rudi Dutschke gehört zu unserer Geschichte wie auch die RAF und die | |
Spontis, aus denen sich dann in den 80ern die Antifa-Szene gebildet hat.“ | |
Nicht einzelne Personen seien Vorbilder für sie, sondern alle | |
antifaschistischen, emanzipatorischen oder feministischen Strömungen. Die | |
Arbeiterkämpfe vor hundert Jahren genauso wie der kurdische Widerstand in | |
Rojava heute. | |
An den 68ern würdigen sie vor allem den Kampf für die nie vollzogene | |
Entnazifizierung. Parallelen sehen die beiden nur bedingt: Damals seien die | |
Linken in der Offensive gewesen. Heute gilt es, die Errungenschaften von | |
damals zu verteidigen. | |
Tom und Johann sehen aber auch die Gegenbewegung: in Frankreich die | |
Proteste gegen eine arbeitnehmerfeindliche Politik etwa. Und in Deutschland | |
vor allem die Fridays-for-Future-Bewegung, die viele schon als ähnlich | |
prägend für die junge Generation bezeichnen wie die Studentenbewegung in | |
den 60ern. | |
„Was damals der Kampf für eine liberale Gesellschaft war, ist heute der | |
Kampf gegen den Klimawandel“, glaubt auch AStA-Vorsitzender Karim | |
Kuropka. Ein Gesicht hat die Bewegung auch. Und was für Rudi Dutschke | |
damals gilt, gilt heute auch für Greta Thunberg: Vorbild für die einen, | |
Feindbild für die anderen. Hoffen wir, dass damit die Parallelen enden. | |
23 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.uni-hamburg.de/newsroom/campus/2017-11-08-unter-den-talaren.html | |
[2] /Ex-Innenminister-stellt-Buch-vor/!5644791/ | |
[3] https://www.asta.uni-hamburg.de/1-kontakt/1-news/2019-10-18-statement-zur-s… | |
[4] https://twitter.com/juhamburg?lang=de | |
[5] /!1844677/ | |
[6] /Tuerkische-Angriffe-in-Syrien/!5631577/ | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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