Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 30 Jahre Mauerfall: Geistiges Kleingärtnertum
> Die westdeutsche Linke träumte von Revolutionen. Doch als 1989 eine vor
> ihrer Haustür geschah, war sie überfordert.
Bild: Nach der Märzwahl '90 in der DDR hielt Otto Schily als Wahlkommentar stu…
Wir kennen die Bilderschleifen, die jeden 9. November aufs Neue gezeigt
werden. Wahnsinn-Rufe, knatternde Trabis, Genscher und der Jubel in der
Prager Botschaft. Auch Bilder können Floskeln werden, die mehr verstecken
als erhellen. Im Herbst 1989, sagen diese Bilder, waren die Deutschen
begeistert.
Alle Deutschen? Die Stimmung im Westen war viel schwankender. Im September
waren aus der DDR schon Zehntausende in den Westen gekommen. Es fehlten
Wohnungen und Jobs. Laut einer Umfrage meinte fast die Hälfte der
Westbürger, das Boot sei jetzt leider voll und die Ostler sollten bitte in
Plauen und Güstrow bleiben.
Ein paar Wochen nach dem Mauerfall ventilierte Oskar Lafontaine, ob
DDR-Bürger weiterhin ein Anrecht auf Sozialleistungen haben sollten. Damit
fördere man ja deren Abwanderung. Der SPD-Chef wollte, zumindest für eine
Weile, zwei Staatsbürgerschaften. Lafontaine wollte die DDR genau in dem
Moment faktisch anerkennen, in dem die SED politisch und [1][die DDR
wirtschaftlich kollabierte.]
Er spekulierte auf das Gefühl der Westler, von den Habenichtsen aus dem
Osten überrannt zu werden. In seinen Reden erschien die Einheit eher als
unvermeidliches Übel. Die Grünen rangen sich widerwillig im Frühjahr 1990 –
noch nach der SED/PDS – dazu durch, anzuerkennen, dass die
Zweistaatlichkeit Geschichte war.
## Keine Hürde für Europa
Die Erklärungen von Sozialdemokraten und Grünen bezeugen, 30 Jahre später
gelesen, Realitätsblindheit. Warum diese Irrtümer? Der Historiker Timothy
Garton Ash hat die Unfähigkeit der SPD im Herbst 1989 mit der erstarrten
Ostpolitik erklärt.
Die SPD war demnach auf die SED-Führung und die Politik kleiner
Verbesserungen fixiert und nahm die Bürgerbewegung nur als Störung wahr.
Die späte Ostpolitik zeigt in der Tat Wahrnehmungsblockaden einer Politik,
die auf Verständigung mit den Machteliten einer Diktatur verengt war.
Allerdings waren die Grünen eng mit der Bürgerbewegung verdrahtet – und
hatten ähnliche blinde Flecken.
[2][Die westdeutsche Linke versagte 1989 komplett]: moralisch, analytisch
und politisch. Moralisch gab es keine Rechtfertigung dafür, dem DDR-Volk,
das sich gerade befreit hatte, vorzuschreiben, in welchem Staat es zu leben
hatte. Warum sollte Selbstbestimmung in Tibet und der Westsahara gelten,
aber nicht zwischen Rostock und Görlitz? Zudem hatte die DDR laut
Grundgesetz-Artikel 23 misslicherweise das Recht, der Bundesrepublik
beizutreten.
Politisch [3][hechelte die Linke dem Geschehen hinterher]. Kohl setzte
zügig die Währungsunion um. Dazu gab es angesichts des Abwanderungsstroms
von Ost nach West keine realistische Alternative. Doch Lafontaine war
überzeugt, dass die Währungsunion ein Fiasko würde und Kohl, der
Nationalist, von seinen haltlosen Versprechungen eingeholt würde. Auch die
atemlose Kritik, dass die deutsche Vereinigung die europäische zerstören
würde, war falsch. Kohl setzte die Einheit zusammen mit Paris, London,
Moskau und Washington ins Werk. Die deutsche Einheit war keine Hürde für
Europa – im Gegenteil.
## Gegen den Kapitalismus
Nach dem 9. November zeigte sich das geistige Kleingärtnertum der
politischen Linken. Sie war fasziniert von Revolten gegen Autokraten – in
dem Moment, in dem eine Revolution vor ihrer Haustür passierte, war sie
schnell irgendwie beleidigt. Eine Epoche ging zu Ende. Die radikale Linke
nahm übel, weil die Ossis genau das wollten, was sie ablehnte:
Parlamentarismus und Kapitalismus. Viele Sozialdemokraten und Grüne
klammerten sich an ihre eingravierte Überzeugung, dass es zwei deutsche
Staaten geben müsse, und mäkelten, dass Kohl wieder alles falsch mache.
Aber Kassandra gewinnt keine Wahlen.
Warum dieses Versagen? Es wurzelte nicht in der Nähe zum SED-Regime,
sondern tiefer. Es gab in der Linken zwar eine kleine Strömung – um Rudi
Dutschke, Tilman Fichter und Peter Brandt – die die Einheit als linkes
Projekt verstanden. Doch das Gros hielt das für einen bizarren Spleen.
Die meisten Linken verstanden die Teilung irgendwie als gerechte Strafe für
die NS-Verbrechen. Das war historisch Unsinn: Die innerdeutsche Grenze war,
wie jedes Schulkind wissen konnte, Resultat des Kalten Krieges. Aber unser
Gefühl sagte etwas anderes. Wir waren, manche insgeheim, manche offen,
froh, dass die Mauer die fatale Geschichte des deutschen Nationalstaates
beendet hatte.
Und gab es dafür nicht auch solide, vernünftige, moralische Motive? Der
Historiker Hans Mommsen hatte 1981 eine historische Einordnung des
bundesrepublikanischen Selbstgefühls skizziert. Wie in Österreich gebe es
in der Bundesrepublik das Bewusstsein, etwas Eigenes geworden zu sein. Der
Bismarck’sche Nationalstaat sei Geschichte und die Deutschen seien
angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts besser in mehreren
Staaten aufgehoben.
Die westdeutsche Linke war postnational – und damit Avantgarde. Die Hälfte
der unter Dreißigjährigen im Westen empfand die DDR 1987 als Ausland. In
einem CDU-Programmentwurf von 1988 kam die Wiedervereinigung nicht mehr
vor. Hatte nicht auch Helmut Kohl 1981 festgestellt, dass „die verlorene
Einheit im Sinne eines alten Nationalstaates nicht mehr wiederherstellbar
ist“?
## Im Postnationalem eingerichtet
Die westdeutsche Gesellschaft hatte sich in den 80er Jahren im
Postnationalen eingerichtet. Das Nationale assoziierte man mit der NS-Zeit
und der Adenauer-Ära, in der die NS-Eliten bruchlos ihre Karrieren
fortgesetzt hatten. Die Bundesrepublik war nicht zuletzt wegen der
antinationalen Kritiker ein ziviler Ort geworden.
Das symbolarme Auftreten unterschied die Bonner Republik erfreulich vom
Pomp in Paris oder London. Das Nationale erschien wie ein Überbleibsel, das
man bekämpfen musste, bis es irgendwann verschwinden würde, so wie auch der
Feudalismus beseitigt worden war. Es war nicht alles gut in
Westdeutschland, aber es wurde immer besser.
Und nun sollte, nur weil die Mauer weg war, die Bundesrepublik, deren
freundliche Unfertigkeit man gerade schätzen lernte, wieder zum
Nationalstaat werden? Die trübe Vergangenheit sollte die Zukunft sein? Das
empfanden 1989 nicht nur viele Linke als absurd. [4][Der Schriftsteller
Patrick Süskind] wurde nach dem Mauerfall melancholisch. Die Bonner
Republik, die nun untergehe, habe sich doch bewährt. Noch die Äußeren
Hebriden, schrieb er 1990, „lagen uns unendlich viel näher als so dubiose
Ländereien wie Sachsen, Thüringen, Anhalt, Mecklen- oder Brandenburg“, mit
denen man sich jetzt befassen müsse.
Süskind war 1989 so alt wie die Bundesrepublik und schrieb: „Auf
Potenzstörungen wären wir vorbereitet gewesen, auf Prostata, Zahnersatz,
Menopause, auf ein zweites Tschernobyl – bloß nicht auf
„Deut-sch-land-ei-nig-Va-ter-land“! Diesen politischen Ladenhüter!“.
Das war, neben der Furcht, dass der Pickelhaubennationalismus aus der Gruft
steigen würde, die affektive Grundierung für die Einheitsskepsis. Vor
allem Jüngere empfanden die Vereinigung als ästhetische Zumutung, als
Störung und narzisstische Kränkung. Man fand die Verwandten aus dem Osten
mit ihren stonewashed Jeans, den kuriosen Frisuren, dem kindlichen Glauben
an die Marktwirtschaft und den stinkenden Trabis peinlich. Ihre grauen
Städte ohne Migranten, denen man die Kriegsschäden noch ansah, erinnerten
uns an das, was wir hinter uns gelassen hatte: unsere Kindheit.
Die Gier, mit der sie sich auf die Konsumgüter stürzten, war uncool. Sie
erinnerte an die Fress-, Kauf- und Reisewellen der 50er Jahre. Die
DDR-Intellektuellen erschienen uns teutonisch ernst. Der popkulturelle
Hedonismus und das ironische Spiel mit den Zeichen, das die Westdeutschen
als Abstandhalter zwischen sich und der Welt benutzten, waren dem Osten
fremd. Die Verwandtschaft, die sich wie ein verschollen geglaubter Onkel in
unserem Wohnzimmer einquartierte, war, was wir nicht mehr sein wollten:
deutsch. Deshalb konnten wir sie nicht leiden. Im Westen gab es keine
einzige Demonstration für die Einheit.
## Die Banane als Symbol
Eine präzise Metapher für den kulturellen und sozialen Dünkel der
Linksliberalen gegenüber den Ostlern, die im Konsumrausch auch noch die
falsche Partei wählten, prägte Otto Schily. Nach der Märzwahl 1990 in der
DDR, die mit einem Triumph der Konservativen endete, hielt er als
Wahlkommentar stumm eine Banane in die Kamera. Dieses Bild assoziierte das
DDR-Volk mit Affen und fasste die herzenskalte Stimmung vieler Westlinker
knapp zusammen: Man war von den Neubürgern leicht angewidert.
Hätte es politische Alternativen gegeben? Die Älteren, die über ein
weiteres historisches Erfahrungswissen als die Generation Lafontaine
verfügten, begriffen, was der Mauerfall bedeutete. [5][Willy Brandt,] 1989
ein paar Wochen lang in der DDR verehrt wie ein Heilsbringer, wollte die
Einheit und sezierte den instrumentellen Kern der Europafixierung der
Linken: „Man darf Europa nicht proklamieren, um die Deutschen
hinzuhalten“.
Brandt sah Anfang 1990 auch, dass die andere DDR, von der Bürgerbewegung
und Linke eine Seifenblase war, schön und flüchtig. Die DDR, bankrott und
wirtschaftlich ruiniert, werde „kein schwedischer Wohlfahrtsstaat mit
jugoslawischer Selbstverwaltung und ökologischem Weltniveau“. Aber Brandt
und Erhard Eppler, der schon im Sommer 89 den Untergang der SED kommen sah,
hatten in der SPD nicht mehr viel zu sagen.
Die Linke hätte einiges besser machen können: Kohls Zögern bei der
Anerkennung der polnischen Westgrenze war eine Schande, aber reparabel.
Dass Kohl die Einheit über die Sozialkassen finanzierte, belastete die
arbeitende Mitte und ließ die Reichen ungeschoren. Doch alles in allem war
es ein Vorteil, dass im Herbst 1989 Helmut Kohl regierte – und nicht
Rot-Grün, das zwischen westlichen Sozialressentiment und Träumen von einer
ökosozialen DDR oszillierte.
Konservative Medien haben später jeden Satz von SPDlern und Grünen
genüsslich zitiert. Die westdeutsche Linke hat ihr Desaster eher wortkarg
übergangen. Das ist erstaunlich, weil die Linke eigentlich Reflexion und
Diskurs kann. Zu lernen wäre gewesen, dass radikaler Zweifel nötig ist. Und
zwar an dem, was man für völlig selbstverständlich und die einzige
vertretbare moralische Position hält.
2 Nov 2019
## LINKS
[1] /Der-40-Jahrestag-der-DDR-1989/!5628163
[2] /Aus-30-Jahre-taz-1989/!5175216
[3] /Prager-Fruehling-und-Westeuropas-Linke/!5525838
[4] https://www.br.de/themen/kultur/inhalt/literatur/bayerische-schriftsteller-…
[5] /Vor-50-Jahren--Brandt-wird-Kanzler/!5631944
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Oskar Lafontaine
Radikale Linke
Deutsche Einheit
Wendezeit
Studentenbewegung
Schwerpunkt 1968
Politisches Buch
Linksextremismus
30 Jahre friedliche Revolution
DDR
DDR
Zeitschriften
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nachruf auf Tilman P. Fichter: Widerständig bis zum Schluss
Tilman Fichter war SDS-Aktivist, Freund von Rudi Dutschke und später Leiter
der SPD-Parteischule. Nun ist er im Alter von 87 Jahren in Berlin
verstorben.
40. Todestag von Rudi Dutschke: Vorbild und Feindbild
An deutschen Hochschulen wird wieder über die Grenzen der Meinungsfreiheit
gestritten. Wie viel Dutschke steckt in heutigen Studi-Protesten?
Wiederauflage von britischem Essayband: Aquarium oder Fischsuppe
Der Essayband des britischen Historikers Timothy Ash über die Wende in
Mittel- und Osteuropa war 1990 ein Erfolg. Er wurde noch einmal aufgelegt.
Programm gegen linke Gewalt: Sachsen zielt auf Linksaußen
Nach Angriffen auf Bauprojekte geht eine Soko gegen LinksextremistInnen an
den Start. Auch andernorts wird vor der Szene gewarnt.
Die Wochenvorschau für Berlin: Berlin ist bereit für die Wende
Bestimmt ganz hübsch: Mit fetten Installationen und Party will der Senat
den schönen Geist von '89 heraufbeschwören. Eine kritische Wochenvorschau.
Ehemalige deutsch-deutsche Grenze: Im Randgebiet
Die ehemalige innerdeutsche Grenze war von beiden Seiten aus betrachtet das
Ende der Welt: Auf normalem Wege kam man nicht durch.
Der 40. Jahrestag der DDR 1989: Am Ende nur Nebel
Als alles schon in Auflösung war, feierte die DDR ihren 40. Jahrestag. Ein
intimer Bericht über den Niedergang des Alten und Hoffnung auf Neues.
Letzte Ausgabe der Zeitschrift Transit: Die liberale Weltordnung löst sich auf
Mit der 50. Ausgabe stellt die Zeitschrift „Transit“ ihr Erscheinen ein.
Zum Ende stellen die AutorInnen eine erschreckende Diagnose.
Aus "30 Jahre taz": 1989: Wir waren dabei. Mehr nicht
Am 9. November 1989 öffnen die Bürger der DDR die Berliner Mauer. Dann
verkommt die Revolution schnell zur "Wende". Alles Flausen, was 1989 für
die Besserung des Weltzustandes gedacht wurde?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.