Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wiederauflage von britischem Essayband: Aquarium oder Fischsuppe
> Der Essayband des britischen Historikers Timothy Ash über die Wende in
> Mittel- und Osteuropa war 1990 ein Erfolg. Er wurde noch einmal
> aufgelegt.
Bild: Timothy Garton Ash, britischer Publizist, bei der Verleihung des 52. Theo…
Es war der US-amerikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger William
Faulkner, dem wir eine der treffendsten Bemerkungen zur Geschichtlichkeit
der Menschen verdanken: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist noch
nicht einmal vergangen.“
In diesem Geist hat der britische [1][Publizist und Historiker Timothy
Garton Ash], Jahrgang 1955, ein erstmals 1990 auf Deutsch erschienenes Buch
bald 30 Jahre später mit einem neuen Schlusswort vorgelegt. So ist das nun
neu vorgelegte Buch ein Erinnerungsbuch, an dessen Entstehen sich der Autor
im neuen Nachwort erneut erinnert.
Schon bei der Erstpublikation war dies Buch ein Werk der Erinnerung: an
jene letzten Jahre des „Ostblocks“ – von der Sowjetunion bis an die Elbe …
in denen sich, vornehmlich von Intellektuellen getragen, eine liberale
Revolution abzuzeichnen schien. Tatsächlich kommt der Autor zu dem Schluss,
dass jene Jahre – wie 1848 – eine Revolution der Intellektuellen gewesen
seien.
## Leichter Zugang zu Institutionen der DDR
Ash, in den 1980er Jahren vor allem journalistisch tätig, bereiste seit
Mitte der 1980er Jahre die DDR, die ČSSR, vor allem aber Polen und Ungarn,
um dort Kontakt zu Hochschullehrern, Publizisten und Dissidenten
aufzunehmen und ein Gespür für die in diesen Ländern herrschende Unfreiheit
zu gewinnen. Als Brite hatte Ash leichten Zugang zu Institutionen der DDR
und konnte dort – so der Rückblick auf das Jahr 1984 – „Bibliotheken ein…
entschwundenen Staates“ besuchen.
Im damaligen Ostberlin fiel ihm auf den Karteikarten einer Bibliothek,
neben der Signatur der Titel, ein Kürzel auf: ASF. Auf Nachfrage wurde ihm
mitgeteilt, dass dies „Abteilung für spezielle Forschungsliteratur“
bedeute, es also um Bücher ging, die nur besonders vertrauenswürdigen
Personen in einem besonderen, diskreten, kleinen Leseraum ausgehändigt
wurden.
„In Glasvitrinen“, so erinnert sich Ash, „stehen der komplette Völkische
Beobachter neben gebundenen Ausgaben von Spiegel und Stern, Bahros
‚Alternative‘ einträchtig neben Hitlers ‚Mein Kampf‘ und John Tolands
Hitlerbiographie neben Stefan Heyms Novelle über den Stalinismus in der
DDR.“
## Die besondere Rolle der Intellektuellen
Es sind drei Leitmotive, die Ashs Buch – genau genommen eine Sammlung
zunächst publizierter feuilletonistischer Reportagen – durchziehen: die
Frage nach der besonderen Rolle der Intellektuellen seit dem Prager
Frühling und Johannes Pauls II. Besuch in Polen; die Frage, ob
Gesellschaften, die einmal durch den diktatorischen sowjetischen
Staatssozialismus geprägt wurden, wieder zu einer liberalen Struktur finden
können; sowie schließlich – im neuen Schlusskapitel –, wie es kommt, dass
sich nicht wenige dieser Gesellschaften, jener Polens, der Tschechoslowakei
und Ungarns, in Teilen auch der Bevölkerung der ehemaligen DDR,
rechtspopulistischen Herrschafts- und Regierungsformen zuwenden.
Für das erste Problem hat Ash eine möglicherweise zu starke Metapher
gefunden: dass es zwar einfach sei, aus einem Aquarium eine Fischsuppe zu
machen, aber nur schwer möglich, den umgekehrten Weg zu gehen, eine
Fischsuppe wieder in ein Aquarium zu verwandeln.
Zu prüfen ist demnach, inwieweit der diktatorische Staatssozialismus die
gesellschaftlichen Grundlagen von vor 1945 ja keineswegs liberalen
Demokratien unwiederbringlich verändert hat – was auch ihre gegenwärtige
Neigung zu illiberalen Demokratien erklären könnte.
Wenn überhaupt, dann argumentiert er sozialpsychologisch: dass nämlich die
Konfliktlinie zwischen Menschen und unterdrückerischem Staat durch jeden
einzelnen Menschen hindurchgehe. Umso mehr hebt er dafür die Rolle von
mutigen Intellektuellen, etwa von Kosik in der ČSSR und Michnik in Polen,
hervor – beinahe bis zu der Annahme, dass der Umbruch in Ostmitteleuropa
sehr wesentlich ein Werk von Intellektuellen, also von Akademikern gewesen
sei, ohne dabei die entscheidende Rolle Gorbatschows zu übergehen.
Was die ČSSR angeht, kann Ash immerhin festhalten, dass dieses Land in der
Zwischenkriegszeit eine der wenigen liberalen Demokratien überhaupt in
Europa gewesen ist. In diesem Kontext erläutert er präzise die Karriere des
neu prominent gewordenen Begriffs Mitteleuropa – wenngleich, wie Ash 1986
konstatieren musste, man beim Gebrauch des Begriffs Mitteleuropa von
„zänkischen Gespenstern“ umgeben ist.
## Einfühlungsvermögen in kollektive Bewusstseinslagen
Eine ähnliche Rolle wie die neuen mitteleuropäischen Gesellschaften spielt
aber auch die westdeutsche Bundesrepublik mitsamt ihrer vielfältigen, nach
Ashs Auffassung demokratieförderlichen Erinnerungskultur: Sein
tiefgründiger Vergleich zweier Filme der 1980er Jahre, von Claude Lanzmanns
„Shoah“ und Edgar Reitz’ Trilogie „Heimat“, beweist des Autors
wissenschaftliches Einfühlungsvermögen in kollektive Bewusstseinslagen.
Ash identifiziert schließlich vier Faktoren, die zur Emanzipation der
ostmitteleuropäischen Gesellschaften geführt haben: erstens die
Wiederentdeckung der nationalen Vergangenheiten, zweitens die
Wiederentdeckung der Religion, drittens die Wiederherstellung von
„Zivilgesellschaft“ sowie viertens das freie Unternehmertum.
Ob mit diesen in sich teils widersprüchlichen Tendenzen das zu erklären
ist, was heute als beunruhigender „Rechtspopulismus“ jener Länder gilt, was
sie also nur als „Fischsuppe“ – freilich neuen Typs – weiterexistieren
lässt, ist endlich Thema des neuen Schlusskapitels, das vor dem Hintergrund
der Gegenwart besonders anregend wirkt.
17 Dec 2019
## LINKS
[1] /Letzte-Ausgabe-der-Zeitschrift-Transit/!5477109
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Politisches Buch
Demokratie
Wende
Sozialismus
Literatur
Antisemitismus
taz.gazete
Litauen
Lesestück Meinung und Analyse
Oskar Lafontaine
Zeitschriften
## ARTIKEL ZUM THEMA
Welzer und Friedmann „Zeitenwende“: A Song for Europe
Pandemie, Hass und Klimawandel, die Probleme sind so viele, dass unsere
Autoren von einer Zeitenwende sprechen. Ein Vorabdruck
Antisemitismus an Schulen in Deutschland: Neue, alte Niedertracht
Julia Bernsteins wichtige Studie über „Antisemitismus an Schulen in
Deutschland“ klärt auf – und bietet Handlungsempfehlungen.
Interview zum Leipziger Buchpreis: Im Tempel der Heiterkeit
Essayist, Kunsttheoretiker, Literaturkritiker und Übersetzer: László
Földényi erhält den Leipziger Buchpreis und spricht über Ungarn und
Melancholie.
Ein Jahrhundertleben in Litauen: Diese Frau kann nicht hassen
Irena Versaitė überlebte unter den Nazis in einem Versteck im Getto. Unter
Stalin entging die Intellektuelle der Deportation nach Sibirien.
Neues Buch „Schwangerwerdenkönnen“: Allein die Möglichkeit
Welche Rechte und Pflichten ergeben sich aus der Fähigkeit Kinder zu
gebären? Dem widmet sich Antje Schrupp in ihrem Essay
„Schwangerwerdenkönnen“.
30 Jahre Mauerfall: Geistiges Kleingärtnertum
Die westdeutsche Linke träumte von Revolutionen. Doch als 1989 eine vor
ihrer Haustür geschah, war sie überfordert.
Letzte Ausgabe der Zeitschrift Transit: Die liberale Weltordnung löst sich auf
Mit der 50. Ausgabe stellt die Zeitschrift „Transit“ ihr Erscheinen ein.
Zum Ende stellen die AutorInnen eine erschreckende Diagnose.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.