# taz.de -- Antisemitismus an Schulen in Deutschland: Neue, alte Niedertracht | |
> Julia Bernsteins wichtige Studie über „Antisemitismus an Schulen in | |
> Deutschland“ klärt auf – und bietet Handlungsempfehlungen. | |
Bild: Zwei Mädchen 2010 vor einer jüdischen Schule in Frankfurt am Main | |
Nur wenigen Themen ist es in den letzten Wochen gelungen, neben allem, was | |
mit [1][Corona] zu tun hat, öffentliches Interesse zu erwecken, der | |
Auseinandersetzung über Antisemitismus ist es gelungen. | |
Die Forderung des nordrhein-westfälischen FDP-Politikers Lorenz Deutsch, | |
dem sich später der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung sowie der | |
Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland angeschlossen haben, | |
den afrikanischen Philosophen Achille Mbembe wegen [2][Formen des | |
israelbezogenen Antisemitismus] von der Ruhrbiennale auszuladen, hat es in | |
die Schlagzeilen geschafft. | |
Aber: Was genau ist eigentlich „israelbezogener Antisemitismus“ und wie | |
äußert er sich? Eine neue Studie der Kulturwissenschaftlerin Julia | |
Bernstein, sie ist Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der | |
Einwanderungsgesellschaft in Frankfurt am Main, verheißt Aufschluss. Das | |
von Bernstein in Kooperation mit namhaften KollegInnen herausgegebene Werk | |
„Antisemitismus an Schulen in Deutschland“ verspricht, auf über 600 Seiten, | |
„Befunde, Analysen und Handlungsoptionen“ mit Blick auf Antisemitismus an | |
Schulen. | |
All dies beruht auf einer anspruchsvollen, siebzehn Monate währenden | |
qualitativen Studie von insgesamt mehr als 250 Interviews mit jüdischen und | |
nichtjüdischen SchülerInnen, jüdischen und nichtjüdischen LehrerInnen, mit | |
Eltern, SozialarbeiterInnen und ExpertInnen. | |
## Antisemitismus in all seine Facetten | |
Die handbuchartige Publikation enthält nicht nur genaueste, höchst | |
differenzierte, bestens übersichtliche Darstellungen dessen, was | |
Antisemitismus in all seinen religiösen, kulturellen und historischen | |
Facetten war und ist, sondern zudem – wenn auch leider nicht altersbezogen | |
didaktisch heruntergebrochen – grundsätzlich gut nachvollziehbare | |
Handlungsempfehlungen; einschließlich eines Abschnitts „Basiswissen Shoah“. | |
Worum geht es? Typisch für schulischen Antisemitismus ist etwa der | |
erinnerte Dialog zwischen einem jüdischen Mädchen und einem „türkischen“ | |
Schüler: „Du bist doch Jude“, Diana: „Ja, aber das heißt nichts.“ Sch… | |
„Ihr Juden seid doch scheiße. Schau mal nach Israel, da essen Soldaten | |
Kinder.“ Als Quelle für dieses Wissen gab der Schüler die türkischen | |
Nachrichten an. | |
Entsprechend hält die Studie zu Recht fest, dass sich Antisemitismus, heute | |
vor allem israelbezogener Antisemitismus, besonders dann manifestiert, wenn | |
im Unterricht der Nahostkonflikt erörtert wird. Als zentrales Problem | |
erweist sich dann die Frage nach der Unterscheidung zwischen | |
israelbezogenem Antisemitismus hier und einer „Kritik an israelischer | |
Politik“ dort. | |
## Dämonisierung Israels | |
Klare Fälle sind dann die Dämonisierung Israels als „Nazi-Staat“ | |
beziehungsweise als eines Staats „landraubender Besatzer“, weshalb sich die | |
AutorInnen des Bandes auch sicher sind, dass die BDS- Bewegung | |
antisemitisch ist – was etwa kürzlich von israelischen WissenschaftlerInnen | |
wie Moshe Zimmermann und Eva Illouz bestritten wurde. | |
Dass die Studie selbst zu Fehlurteilen neigt, wird deutlich, wenn die | |
„Nakba“ von 1947/48 nicht nur als Vertreibung, sondern als „freiwillige | |
Ausreise“ der palästinensischen Araber bezeichnet wird. Einige Seiten | |
weiter wird dieser Vorgang dann jedoch historisch korrekt als „Vertreibung“ | |
bezeichnet. | |
Wie aber soll man in der Klasse israelbezogenem Antisemitismus begegnen? | |
Das Handbuch hält es für entscheidend, dass Lehrkräfte derlei überhaupt | |
erkennen, sich aber nicht auf inhaltliche Diskussionen über den | |
Nahostkonflikt einlassen, wenn SchülerInnen „Israel entlang der | |
antijudaistischen Legende als ‚Kindermörder‘ dämonisieren oder Israelis m… | |
Nationalsozialist*innen gleichsetzen“. | |
Der Rezensent jedenfalls ist in dieser Frage entgegengesetzter Meinung, man | |
sollte Diskussionen zulassen, was allerdings voraussetzen würde, dass die | |
Lehrkräfte selbst über solides historisches Wissen verfügen. | |
## Wichtiges Werk | |
Diskussionsverweigerung und Ächtung sind jedenfalls keine sinnvollen | |
pädagogischen Konzepte. Der weitere Rat, ExpertInnen einzuladen, ist gewiss | |
nicht falsch – ersetzt aber freilich nicht eine eigene, gediegene | |
zeithistorische Grundausbildung; entsprechende bildungspolitische | |
Forderungen erhebt die Studie jedoch leider nicht. Gleichwohl liegt mit | |
Bernsteins „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“ eines der wichtigsten | |
Werke zur Thematik vor, das bisher überhaupt seit 1945 in Deutschland | |
erschienen ist. | |
Gewiss: Für ein Selbststudium ist dies Buch nicht nur höchst umfangreich | |
und anspruchsvoll, auch nicht eben preisgünstig; für alle jedoch, die | |
später einmal nicht nur Geschichte, Politik oder Religion unterrichten | |
wollen, sondern die überhaupt in Schulen der Immigrationsgesellschaft | |
mündige StaatsbürgerInnen bilden, ist es unverzichtbar. | |
Daher ist allen geschichts- und politikdidaktischen Seminaren und | |
Bibliotheken die Anschaffung dringend zu empfehlen. Wem aber – sei es als | |
LehrerIn oder DozentIn – Zeitgeschichte und staatsbürgerliche Bildung am | |
Herzen liegen, sollte doch über einen Erwerb und die Mühe des | |
Selbststudiums nachdenken. | |
20 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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