# taz.de -- Prager Frühling und Westeuropas Linke: Nicht die Sowjetunion war d… | |
> Bloß nicht dem kapitalistischen Westen einen Triumph gönnen: Westeuropas | |
> Linke wollten lieber die stalinistischen Strukturen bewahrt sehen. | |
Bild: Wehende Fahnen, lodernde Flammen: Demonstranten am 21.08.1968 in Prag | |
Die linke Starjournalistin Ulrike Meinhof schrieb in der Ausgabe der | |
Konkret nach der Niederschlagung des Prager Frühlings: „Bis zu den | |
Studentenunruhen der letzten zwei Jahre war die europäische Linke | |
pro-sowjetisch. […] Am 21. August 1968 hat die europäische Linke ihre | |
Solidarität, ihre Sympathie, ihre Dankbarkeit gegenüber der Sowjetunion | |
als dem ersten sozialistischen Land, als dem Staat, der in Stalingrad den | |
deutschen Faschismus besiegt hat, aufgegeben.“ | |
Der Historiker Detlef Siegfried notiert heute in seinem Buch „1968: | |
Protest, Revolte, Gegenkultur“: „Unter linken Studenten wurde scharf gegen | |
den Einmarsch protestiert, und doch fallen die Ambivalenzen dieses Protests | |
ins Auge.“ Zwar war man, vor allem seitens des auch öffentlich | |
tonangebenden SDS, mit den Prager Aufbrüchen aus dem stalinistischen | |
Gehäusen der ČSSR einverstanden, irgendwie solidarisch mit Alexander Dubček | |
und Genoss*innen. Aber man fürchtete auch, dass aus der realsozialistischen | |
ČSSR eine bürgerlich-liberale Republik werden könnte, würden die | |
Forderungen der tschechoslowakischen Reformer (und dem Gros der | |
Bevölkerung) wahr werden: Meinungs- und Diskussionsfreiheit, Loslösung von | |
der als ineffizient erkannten Planwirtschaft und damit eine | |
Marktwirtschaft. | |
Was die sozialistische Linke fürchtete, relativierte die Solidarität mit | |
Dubček & Co. erheblich, ja, sie hinterließ in Prag das Gefühl, dass die | |
westliche, westeuropäische Linke lieber die stalinistischen Strukturen | |
bewahrt sehen wollte, als dem kapitalistischen Westen einen Triumph zu | |
gönnen. Zwar wurde vor den Konsulaten der ČSSR, etwa in Hamburg, | |
demonstriert – Solidarität anzeigend. Zugleich fanden Demonstrationen gegen | |
die Sowjetunion statt, aber die Teilnehmer kamen überwiegend aus | |
sozialdemokratischen Zirkeln, nicht aus den Kreisen des SDS. Wenn es der | |
sozialistischen Linken – zu der sich längst auch Ulrike Meinhof zählte, wie | |
auch der SDS – jedoch um eines nicht ging, dann um Freiheit, und sei es die | |
der Meinungen. | |
Was ein Historiker wie Detlef Siegfried für die Bundesrepublik beschrieb, | |
galt für alle westeuropäischen Länder: Für die kommunistischen Parteien | |
Skandinaviens war die Zerstörung der sozialistischen Morgenröte in der ČSSR | |
eine Zäsur. Mit Stalinismus, militärischer Zerstörung von | |
Freiheitsbestrebungen wollte man nichts mehr zu tun haben. Die | |
stalinistischen Kader in Schweden, Norwegen oder Dänemark sollten nie mehr | |
auch nur in die Nähe von gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit kommen, sie | |
blieben bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989/1990 Nichtse am Rande. | |
## Last zu erörtern | |
Die wesentlich mächtigeren Parteien des Kommunismus in Frankreich, Italien, | |
später auch die Spaniens und Portugals, hatten mit dem Prager Frühling eine | |
Last zu erörtern, die sie dazu brachte, sich entweder vom sowjetischen | |
Modell zu distanzieren (so der „Eurokommunismus“ des italienischen PCI) | |
oder sich sprachlos zu halten wie die französische PCF – weder gratulierte | |
man den Warschauer-Pakt-Staaten noch trauerte man mit der abgelösten | |
Funktionärsschicht um Alexander Dubček. | |
Generell dominierte in den Zentren der Achtundsechzigerbewegung der Protest | |
gegen den Vietnamkrieg, gegen den Kapitalismus, für den die USA das Symbol | |
waren und sind: Kein öffentliches Zeichen aus der Studentenbewegung heraus | |
wider die militärische Zerstörung von Freiheit durch die | |
Warschauer-Pakt-Staaten konnte es mit den Protesten gegen die USA und ihren | |
Krieg in Südostasien aufnehmen. Das Leiden am realen Sozialismus fand kein | |
Interesse in linken Kreisen, Bücher wie Manès Sperbers „Wie eine Träne im | |
Ozean“ waren seitens der sozialistischen Kaderschaft der | |
Achtundsechzigerszene als antikommunistische Literatur ignoriert, auf alle | |
Fälle als rechts und reaktionär begriffen worden. | |
1993 räumte der bundesdeutsche Philosoph Jürgen Habermas in einem Gespräch | |
mit Adam Michnik, eine der intellektuell prägenden Figuren der polnischen | |
Gewerkschaftsbewegung Solidarność, in der Zeit ein, dass er sich nie für | |
Fragen des Stalinismus interessiert habe: Der Jargon war der vom | |
„Spätkapitalismus“ und nie vom „Spätrealsozialismus“. | |
Eine der skurrilsten Szenen jener Jahre spielte in Prag. Im Mittelpunkt | |
stand jener Mann, der hierzulande als wichtigster Vermittler und Kämpfer | |
für den Sozialismus in der Bundesrepublik (und anderswo) galt: Rudi | |
Dutschke. Gegen den Widerstand vieler Mitglieder im Vorstand des SDS reiste | |
er nach Prag, um seine Ideen vom politischen Aufbruch in der Welt | |
mitzuteilen, hoffend, auf Gleichgesinnte zu treffen. | |
## Dutschkes Ausflug nach Prag | |
Das war ein Fehler, der Journalist František Cerny kann das bezeugen: „Ich | |
war Augenzeuge eines totalen Missverständnisses zwischen den Hörern im | |
überfüllten Audimax der Karls-Universität (von Prag, Anm. d. Red.) und | |
Dutschke. Das war eine große Enttäuschung. Die Tschechen haben gesagt: In | |
den letzten 20 Jahren haben wir noch nie so viel über den | |
Marxismus-Leninismus gehört wie heute vom Genossen Dutschke. Und Dutschke | |
hat festgestellt, dass diese Leute, die über eine Revolution sprachen, | |
keine Revolution wollten, dass es hier um einen Prozess der Restauration | |
geht. Dass sie nicht etwas schaffen wollten, sondern dass sie das zurück | |
haben wollten: die Verhältnisse der Ersten Republik.“ | |
Dutschke kam als Prediger des sozialistischen, antikapitalistischen | |
Weltgeists und wurde abgewiesen. So gesehen war sein Ausflug nach Prag auch | |
die Strafe für die Unfähigkeit, Freiheit, also Liberalität als politisch | |
kostbarste Kategorie erkannt zu haben. | |
Das Gros der westeuropäischen und westdeutschen Linken ließ die Erfahrungen | |
der demokratischen Opposition in Osteuropa kalt. Bis auf Trotzkisten und | |
einige Sozialdemokraten blieben auch die polnischen Kolleg*innen der | |
Solidarność-Bewegung, die Aktivitäten um die Helsinki-Akte in den siebziger | |
Jahren, der Kampf der Balten um Unabhängigkeit ihnen fern. Es war Kalter | |
Krieg, die Sowjetunion durfte nicht der Feind sein, das waren die USA. | |
## „Linie bis heute“ | |
Daniel Cohn-Bendit, einer der wichtigsten Akteure im Pariser Mai 1968, | |
grüner EU-Abgeordneter und Aktivist bis heute, sagt: „Meine linken Freunde | |
ließen es nicht zu, dass ich die Bundesrepublik als das bessere Deutschland | |
beschreibe – das dürfe nicht sein, das schwäche die Kraft der Linken.“ Un… | |
„Es gibt eine Linie bis heute – lieber paktiert man mit Russland und Putin, | |
lieber war man mit der polnischen KP als mit den Danziger Arbeitern und | |
Arbeiterinnen: Man musste der Kultur und der Politik der Sowjetunion die | |
Treue halten – weil man die Proteste für Freiheit für unwichtig nahm, weil | |
Liberalität keine Rolle spielen durfte, das war alles bürgerliches | |
Verblendungswerk.“ | |
Die kommunistische Linke hatte mit dem Ende des Prager Frühlings nicht ihre | |
letzte Option auf die große Erzählung von Weltbefreiung ausgespielt. Die | |
maoistische Strömung der Achtundsechziger gewann an Einfluss. Spitzenkräfte | |
der K-Gruppen, Kritiker der Sowjetunion durch und durch, tingelten bis in | |
die Siebziger nach Asien und sahen nur gelebte Utopien, keine „Killing | |
Fields“. In der Bundesrepublik war das die KPD/AO, deren Spitzenmann der | |
spätere taz-Redakteur Christian Semler war. | |
21 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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