# taz.de -- Prager Frühling und Rumänien: Das „feindliche Bruderland“ | |
> Der rumänische Parteiführer Nicolae Ceauşescu verurteilte den Einmarsch | |
> der Truppen in Prag öffentlich. Seine Rede war Stoff für viele Legenden. | |
Bild: Stratege oder Marionette? Ceauşescus Rede zum Einmarsch in Prag brachte … | |
Am 21. August 1968 hielt der rumänische Parteiführer Nicolae Ceauşescu in | |
Bukarest eine Rede, in der er den Einmarsch der Truppen des Warschauer | |
Pakts in Prag als „schweren Fehler“ und „eine ernste Gefahr für den Frie… | |
in Europa und für das Schicksal des Sozialismus in der Welt“ bezeichnete. | |
Zehntausende jubelten ihm damals zu. Sogar Regimegegner zeigten sich | |
beeindruckt. Im Westen wurde die Kritik Ceauşescus an der [1][Invasion der | |
ČSSR] wohlwollend aufgenommen. Von diesem politischen Kapital profitierte | |
er fast bis zum Ende seiner Herrschaft im Dezember 1989, als er zusammen | |
mit seiner Frau Elena in einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt und | |
hingerichtet wurde. | |
In den kommunistischen Staaten galt Rumänien als „feindliches Bruderland“ | |
und Ceauşescus zunehmend nationalistisch ausartende Diktatur als | |
abweichlerisch und ketzerisch. Der 1958 nach dem Abzug der sowjetischen | |
Besatzungstruppen eingeschlagene Sonderweg führte zu einer Abkühlung der | |
Beziehungen zu anderen kommunistischen Ländern. Selbst die in der Zeit des | |
Stalinismus gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen den Geheimdiensten | |
wurde gelockert und nach 1968 stufenweise ganz eingefroren. | |
Obwohl Rumänien auch Mitglied des östlichen Militärbündnisses war, wurde | |
das Land 1968 gar nicht erst gefragt, ob es sich an der Invasion beteiligen | |
wolle. In nationalpatriotischen Geschichtsdarstellungen, in denen Ceauşescu | |
später glorreicher Fortsetzer der Unabhängigkeitsbestrebungen antiker und | |
mittelalterlicher Fürsten dargestellt wurde, hieß es, er habe sich | |
geweigert, zusammen mit den Warschauer-Pakt-Staaten den Prager Frühling | |
niederzuwalzen. | |
Diese Erzählung vermochte jedoch nicht das diktatorische Herrschaftssystem | |
zu übertünchen. Bereits ein Jahr nach seinem Machtantritt erließ er 1966 | |
ein Dekret, das die Frauen in Gebärmaschinen verwandeln sollte. Jede Frau | |
sollte vier Kinder zur Welt bringen. Abtreibungen und Verhütungsmittel | |
waren streng verboten. Unzählige Frauen sind an den Folgen illegaler | |
Eingriffe gestorben. Jene, die infolge von Komplikationen in Kliniken | |
eingeliefert wurden, durften erst nach einem Verhör behandelt werden. | |
Weigerten sie sich, den Namen der Person zu nennen, die den Eingriff | |
vorgenommen hatte, riskierten sie den Tod. | |
## Chauvinistische Konzepte | |
Eine lautstark agitierende Sammelbewegung, die sich „Koalition für die | |
Familie“ nennt, plädiert heute im Grunde für eine Rückkehr zu Formen dieser | |
repressiven Politik. Drei Millionen haben eine Petition für ein Referendum | |
unterschrieben, das eine konservative Verfassungsänderung vorsieht und die | |
Familie einzig und allein als Gemeinschaft von Mann und Frau definiert. Die | |
Unterstützungsorganisationen – inklusive orthodoxe und katholische Kirche | |
sowie neoprotestantische evangelikale Freikirchen – vertreten im Grunde die | |
gleiche Sexualmoral wie das Ceauşescu-Regime. | |
Der größenwahnsinnige Diktator war der Meinung, das Sexualleben habe nur | |
innerhalb der Familie stattzufinden und müsse ausschließlich dem | |
Bevölkerungszuwachs dienen. Darin sah er den einzigen Weg, den | |
Wirkungskreis der rumänischen Nation auszudehnen und zu festigen. | |
Theoretisch untermauert wurden solche Bestrebungen von nationalistischen | |
Intellektuellen. Die kommunistische Ideologie wurde zunehmend durch | |
vaterländische, nationalistische und um sich greifende chauvinistische | |
Konzepte ersetzt. Eine weltanschauliche Legitimierung dieser | |
nationalistischen Entwicklung lieferte schließlich der Protochronismus – | |
eine parallel zu der in den Hintergrund gedrängten offiziellen | |
kommunistischen Ideologie entworfene nationalistische Doktrin, die der | |
rumänischen Kultur eine weltweite Vorrangstellung einräumte. Einige | |
Protochronisten, die bis heute Schlüsselpositionen in Institutionen | |
besetzen, behaupten, der überwiegende Teil europäischer Kultur basiere in | |
Realität auf der rumänischen. | |
Aus den steilen völkischen Thesen des Protochronismus schöpft heute auch | |
die orthodoxe Kirche. Theologen und Kirchenhistoriker behaupten, das aus | |
der Verschmelzung der dakischen Urbevölkerung mit den antiken römischen | |
Besatzern hervorgegangene rumänische Volk sei von Anfang an als eine | |
christliche Gemeinschaft entstanden. | |
## Genialer Stratege oder Marionette? | |
Als Beweis dafür wird der Apostel Andreas angeführt, der die auf dem | |
heutigen Gebiet Rumäniens lebenden Bewohner angeblich zum Christentum | |
bekehrte. Eine Höhle, in der er gelebt haben soll, wurde vor einigen Jahren | |
zu einem Wallfahrtsort ausgebaut und in den Broschüren rumänischer | |
Reiseunternehmer als religiös berauschendes Besucherziel empfohlen. | |
Radikale Stimmen gehen noch weiter in ihrer nationalistischen | |
Überspanntheit und behaupten, Jesus Christus sei eigentlich kein Jude, | |
sondern ein Daker gewesen. | |
Die öffentliche Verurteilung des Einmarschs in die Tschechoslowakei 1968 | |
produzierte eine Vielzahl von ethnisch grundierten, zähen Legenden, in | |
denen Ceauşescu als heroischer und genialer Stratege gepriesen wird, weil | |
er den Mut gehabt habe, sich den Russen entgegenzustellen. In diesem | |
Zusammenhang ist auch von Wunderwaffen die Rede, die von genialen Rumänen | |
hergestellt worden waren und einen Einmarsch der Sowjetunion allemal | |
verhindert hätten. | |
In von postkommunistischen Gegnern Ceauşescus verbreiteten Legenden heißt | |
es hingegen, er habe seine Rede auf Anweisung Moskaus gehalten, um den | |
Westen in die Irre zu führen. Ceauşescu sei in diesem Zusammenhang nur eine | |
Marionette in einem vom KGB raffiniert ausgeklügelten Täuschungsmanöver | |
gewesen. | |
22 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Prager-Fruehling-vor-50-Jahren/!5525870 | |
## AUTOREN | |
William Totok | |
## TAGS | |
Schwerpunkt 1968 | |
Schwerpunkt 1968 | |
Prager Frühling | |
Rumänien | |
Warschauer Pakt | |
Prager Frühling | |
Schwerpunkt 1968 | |
Schwerpunkt 1968 | |
Schwerpunkt 1968 | |
Polizei | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Prager Frühling und Westeuropas Linke: Nicht die Sowjetunion war der Feind | |
Bloß nicht dem kapitalistischen Westen einen Triumph gönnen: Westeuropas | |
Linke wollten lieber die stalinistischen Strukturen bewahrt sehen. | |
Prager Frühling vor 50 Jahren: Die Lektion kam mit Verspätung an | |
Die Militärintervention in Prag versetzte Wolfgang Templin zunächst in | |
Schockstarre – bereitete dann aber seinen Weg in die DDR-Opposition. | |
Prager Frühling vor 50 Jahren: Wunden, die nicht verheilen wollen | |
Viele jungen Tschechen wissen nicht, was sich hinter dem „Prager Frühling“ | |
verbirgt. An der Staatsspitze tummeln sich indes Mitläufer von damals. | |
Ex-Sowjet-Dissident über Prager Frühling: „1968 fühlte ich mich als Libera… | |
Der damalige Dissident Pawel Litwinow demonstrierte in Moskau gegen den | |
Einmarsch des Warschauer Paktes in Prag. Ein Interview über 1968 und | |
Russland heute. | |
Kommentar Massenproteste in Rumänien: Rückkehr zur Gewalt | |
Die Regierung Rumäniens wird angesichts der Proteste gegen die Korruption | |
nervös. Sie greift auf den Einsatz Polizei und Geheimdienst zurück. |