# taz.de -- Prager Frühling vor 50 Jahren: Die Lektion kam mit Verspätung an | |
> Die Militärintervention in Prag versetzte Wolfgang Templin zunächst in | |
> Schockstarre – bereitete dann aber seinen Weg in die DDR-Opposition. | |
Bild: Die rollenden Panzer in Prag versetzten viele in Schockstarre | |
Ein jedes mit 1968 verbundene Jubiläumsjahr zeigt bis heute die großen | |
Unterschiede der Wahrnehmung in West und in Ost. Für westliche Beteiligte | |
und Beobachter, ob selbst zur Generation der Achtundsechziger gehörig oder | |
nicht, stehen der Pariser Mai und die Westberliner Studentenunruhen im | |
Mittelpunkt. Für Frauen und Männer, die in der DDR aufwuchsen, und | |
Zeitzeugen aus anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks sind es die Panzer | |
in Prag. Dazu kommen die Studentenproteste in Warschau im März 1968. | |
Spätestens ab Mitte der 60er Jahre gehörte ein Besuch oder Zwischenstopp in | |
Prag zum festen Reiseprogramm der jüngeren Generation in der DDR. Wen es | |
ans Schwarze Meer oder ins Karpatengebirge Rumäniens zog, machte in Prag | |
vielleicht nur kurz Station, um dann noch einen Zwischenstopp in Budapest | |
einzulegen. Die Faszination ostmitteleuropäischer Metropolen und | |
aufregender Landschaften verband sich mit der noch größeren Faszination | |
eines Aufbruchs, der in unserem tschechoslowakischen Nachbarland vor sich | |
ging. | |
Nachrichten von der Kafka-Konferenz drangen in die DDR, neue tschechische | |
und slowakische Filme waren über zahlreiche Filmklubs und das | |
Tschechoslowakische Kulturzentrum in Ostberlin präsent. Die Namen Alexander | |
Dubček und Eduard Goldstücker waren in aller Munde, die deutschsprachige | |
Prager Volkszeitung kursierte. | |
Viele von uns teilten die Hoffnung auf einen Sozialismus mit menschlichem | |
Antlitz, auf eine Reformbewegung aus dem Innern der Kommunistischen Partei | |
heraus. Wir teilten diesen Traum, obwohl die DDR des späten Walter Ulbricht | |
nicht viel Grund dazu bot. So wie wir die Hoffnung teilten, erreichte uns | |
auch der Schock des Scheiterns. Ein Schock, der spätestens mit dem | |
Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes einsetzte und anhielt. Es kam | |
zu keinen Massenprotesten, aber zu vielen individuellen Aktionen mit | |
Losungen auf Häusern und Brücken, mit Flugblättern. | |
Mein eigenes Beispiel zeigt, wie zeitverschoben die Wirkung der Prager | |
Lektion sein konnte. Ich stand emotional auf der Seite der Reformer. | |
Dennoch ließ ich mich zunächst von den offiziellen Propagandalügen | |
einwickeln, die eine aus dem Westen gesteuerte Konterrevolution | |
behaupteten, der man Einhalt gebieten müsse. Erst Jahre später begriff | |
ich, wer sich hier wirklich gegenüberstand, dass sich erneut ein realer | |
Sozialismus mit allem anderen als menschlichem Antlitz durchgesetzt hatte. | |
Mein Weg in die spätere DDR-Opposition bereitete sich vor. | |
## Polen als Land für Veränderungen | |
Der hoffnungstrunkene Kommunist Wolf Biermann verarbeitete die Erfahrung | |
von den Panzern in Prag auf seine Weise. Er hatte noch viele Erfahrungen | |
und Häutungen vor sich. Ein arroganter Spruch nach seinem erzwungenen | |
Verbleib im Westen 1976 – er sei jetzt vom Regen in die Jauche gefallen – | |
blieb unvergessen. Zehn Jahre später hätte er ihn so nicht wiederholt. | |
Sein auf Bertolt Brecht und Hanns Eisler zurückgehendes Lied von der Moldau | |
wurde zu einer Chiffre für Widerstand und erneute Hoffnung. In seinem 1943 | |
entstandenen Liedtext formuliert Brecht ein Gleichnis für die | |
Vergänglichkeit herrschender Zustände als Zuspruch für die jeweils | |
Schwachen und Unterlegenen. Es geht um die Hoffnung auf ein Ende der | |
nazistischen Gewaltherrschaft in der Tschechoslowakei und ganz Europa. | |
In der Diktion Biermanns hatte die Gewaltherrschaft gewechselt, aber die | |
Steine wanderten weiter. Wenn er davon singt, dass das Große nicht groß | |
bleibt und das Kleine nicht klein, dass die Mächtigen am Ende zum Halt | |
kommen, dass die Zeiten wechseln und dagegen keine Gewalt hilft, nimmt er | |
die Folgegeschichte vorweg. | |
Die sieben „bleiernen Jahre“ von Prag dauerten bis 1976 an. Polen wurde zum | |
zentralen Land für endgültige Veränderungen im Ostblock, für dessen | |
letztlichen Zusammenbruch. Der dort 1970 angetretene und als liberaler | |
Reformer gefeierte Edward Gierek hatte sich von seiner anderen Seite | |
gezeigt. Gescheiterte Wirtschaftsreformen und darauf folgende drastische | |
Preiserhöhungen führten zu Streiks, denen mit harten Repressionen begegnet | |
wurde. Die polnische Gesellschaft wehrte sich. Im Spätsommer 1976 entstand | |
das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, in dem sich polnische | |
Intellektuelle, Arbeiter, Konservative, Liberale und Ex-Kommunisten | |
zusammenfanden. | |
## Den Bann des Schweigens brechen | |
Die Anfang 1977 in Prag entstandene „Charta 77“ konnte als eine Art | |
Antwortversuch auf den Warschauer Impuls verstanden werden. Hier traf das | |
Signal der Charta jedoch auf eine Gesellschaft, die alles andere als im | |
Aufbruch war. Eine Handvoll Frauen und Männer machte sich daran, den Bann | |
des Schweigens zu brechen. Sie warfen der Staatsmacht nicht den | |
Fehdehandschuh der Opposition zu, wussten keine Streikenden und kein | |
soziales Protestpotenzial hinter sich, entstammten verschiedenen | |
Zusammenhängen und Traditionen. Es war eine Initiative, die sich nicht als | |
Organisation verstand, weder Statuten noch ständige Organe hatte und keine | |
organisierten Mitglieder kannte. Wer der Idee der Charta zustimmte, an | |
ihrer Arbeit teilhatte, gehörte dazu. | |
Eine internationale Unterstützergruppe, der unter anderen Heinrich Böll, | |
Friedrich Dürrenmatt, Graham Greene und Artur Miller angehörten, trug dazu | |
bei, dass die Charta 77 sehr schnell bekannt wurde und sich die Vertreter | |
des Husák-Regimes sehr genau überlegen mussten, welche Mittel sie gegen das | |
Häuflein Andersdenkender einsetzen konnten. | |
Im Sommer 1980 entstand die unabhängige Gewerkschaft Solidarność, aus der | |
binnen wenigen Wochen eine politische Massenbewegung erwuchs. Sie bedeutete | |
den Anfang vom Ende der kommunistischen Herrschaft in allen Ländern des | |
sogenannten Ostblocks und der Sowjetunion selbst. Weder die Drohung mit | |
einer erneuten Okkupation noch die Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember | |
1981 konnte die alten Zustände auf Dauer wiederherstellen. Die | |
Konfrontation mündete in Polen 1988/89 in den Kompromiss des runden | |
Tisches, der modellhaft für andere Länder wirkte. | |
Michail Gorbatschows vorangegangene Politik von Glasnost und Perestroika | |
war der letzte Versuch, ein System zu reformieren und zu retten. Sein | |
Verdienst lag darin, 1989 den Einsatz von Waffen in seinem | |
Herrschaftsbereich weitgehend verhindert zu haben. Die Panzer rollten in | |
Peking, nicht jedoch auf den Straßen von Prag, Berlin und Leipzig. | |
21 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Wolfgang Templin | |
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