| # taz.de -- Alt-68er über Studentenbewegung: „Die Weltrevolution hatte Prior… | |
| > Der Verleger und Schriftsteller Volkhard Brandes erzählt von den Anfängen | |
| > (s)einer Revolte, Alt-Nazis und Marxismus. | |
| Bild: Fritz Teufel bei einer Kundgebung in Frankfurt 1967. Kurze Zeit später z… | |
| taz: Herr Brandes, wie wurden Sie zum 68er? | |
| Volkhard Brandes: Genau genommen fing bei mir die Rebellion schon in den | |
| 1950er Jahren an. An meiner Schule, im Engelbert-Kämpfer-Gymnasium, in der | |
| damals etwa 20.000 Einwohner zählenden und ziemlich biederen Kreisstadt | |
| Lemgo. | |
| Was war da los? | |
| 1949 wurde dem Pädagogen Ernst Werner die Leitung unserer Schule | |
| übertragen. Werner stammte aus Lodz, das derzeit noch im polnischen Teil | |
| des zaristischen Russland lag. Sein pädagogischer Ansatz war, seine Schüler | |
| zur Haltung des kritischen Prüfens und Infragestellens zu erziehen. Später | |
| holte er sich Heinz Schultz an die Schule, der damals noch in Rostock | |
| lebte. Er brauchte ihn, „um aus den Söhnen der Altnazis Menschen zu | |
| machen“. Werner wurde bald bezichtigt, Kommunist zu sein, der im Auftrag | |
| einer östlichen Macht arbeitete. All das rief am Ende heftige | |
| Auseinandersetzungen im Lehrerkollegium, im Verein Alt Lemgo und unter den | |
| Eltern hervor. | |
| Wie reagierten Ihre Eltern? | |
| Wir waren die letzte Klasse, die „verseucht“ war, wie meine Mutter zu sagen | |
| pflegte. Wenn aus dir nichts wird, so ihre Logik, lag das nur am Werner. | |
| Und da mein Vater auch Lehrer an der Schule war, ging es bei uns zu Hause | |
| manchmal ziemlich rund, wenn ich von meinem Klassenlehrer zu erzählen | |
| anfing. | |
| Wie ging der Konflikt um Ernst Werner aus? | |
| Das Kultusministerium in Düsseldorf war schließlich an der groß angelegten | |
| Kampagne gegen ihn beteiligt, die bald auch über die Presse lief. Wir | |
| Schüler und einige Ehemalige hatten nur wenige Lokalzeitungen auf unserer | |
| Seite, in denen wir Partei für unseren Lehrer und Schuldirektor ergreifen | |
| konnten. Ein Mordstheater war das in der Presse! Diese ganzen Leute von Alt | |
| Lemgo, die Altnazis, die lauerten damals nur so auf seinen Rausschmiss. | |
| Erreichten die ihr Ziel? | |
| Ja. Aber sieben Jahre dauerten die Kämpfe an, bis sie Werners erzwungenen | |
| Abgang erreichten und er nach Bochum versetzt wurde. Es war eine spannende | |
| Zeit, die den Kern der 1950er Jahre ziemlich genau erfasste: Es war unsere | |
| direkte Auseinandersetzung mit der Vätergeneration, die mich auf den Weg | |
| zur 68er Revolte führte. | |
| Sie waren zunächst in München aktiv, lebten dort in einer der ersten | |
| Wohngemeinschaften. Warum gerade München? | |
| Ich ging nach dem Abitur aus politischen Gründen nach München. Ich wollte | |
| unbedingt in eine Großstadt. Auch andere Aktivisten fanden sich dort ein, | |
| wie etwa Dieter Kunzelmann aus der Münchener Künstlergruppe SPUR und der | |
| Situationistischen Internationale. Es war viel los in München. Doch den | |
| großen Revoluzzern wurde es dort irgendwann zu langweilig. Es kam zum | |
| Exodus. Einer der Wege führte nach Berlin, der andere nach Frankfurt am | |
| Main, wo ich hinging. In Frankfurt schien es mir intellektueller zu sein | |
| als in Berlin, wo es mehr oder weniger nur Randale gab. Berlin kam mir | |
| damals wie ein „Kindergarten“ vor. | |
| Als das Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 geschah, waren Sie noch in | |
| München. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit? | |
| Wir reagierten sofort, als wir vom Attentat auf Rudi hörten. Wir waren | |
| darauf vorbereitet: Wenn etwas passierte, sollte bundesweit sofort eine | |
| Protestkette in Bewegung gesetzt werden. Seit 1967, dem Tod von Benno | |
| Ohnesorg, war uns klar, dass wir uns auf gewisse Szenarien vorbereiten | |
| mussten. Das geschah bei Rudi innerhalb weniger Stunden. Obwohl wir damals | |
| nicht über die Technologie von heute verfügten, war es effektiv. Ich | |
| erinnere mich noch an jenen Donnerstagabend, als wir auf die Straße gingen: | |
| Die Münchner Polizei war darauf zunächst überhaupt nicht vorbereitet | |
| gewesen. Am nächsten Tag ging es dafür umso wüster los, die Polizei hatte | |
| bundesweit zusammengezogen, was zusammenzuziehen war. Die ganze Maschinerie | |
| setzte sich nun umso schärfer in Bewegung. Die Polizisten erschienen in | |
| Stahlhelmen aus dem Zweiten Weltkrieg! | |
| Mit der antiautoritären Bewegung sympathisierend, pendelten Sie zwischen | |
| den linken politischen Welten. Was waren Ihre politischen Ziele? | |
| Ich arbeitete damals hauptamtlich im Sozialistischen Büro des SDS. Dort | |
| tüftelten wir politische Strategien aus. Wir wollten nicht nur einfach auf | |
| die Straße gehen. Für mich persönlich hatte die Weltrevolution damals | |
| Priorität. Mir ging es darum, die Solidarität zwischen den Linken in | |
| Deutschland, Frankreich und den USA zu unterstützen. | |
| Wer sind Ihre politischen Vorbilder? | |
| Ich bin ein unerschütterlicher Altmarxist. Gleichzeitig sehe ich mich aber | |
| nicht bei jenen, die eine Marx- oder Marcuse-Exegese betrieben haben. Ich | |
| habe Theorien nie als eine buchstabengetreue Rezeption gelesen. | |
| Wie vollzog sich der Schritt vom politischen Aktivisten zum Frankfurter | |
| Verleger? | |
| Der Übergang war doch recht fließend. Ich habe das nicht einmal als einen | |
| Bruch mit 68 wahrgenommen. Wir suchten mit unserem Verlag, den ich mit | |
| Roland Apsel 1986 gegründet hatte, nicht den Stein der Weisen. Wir | |
| sonderten uns auch nicht von anderen kleinen Verlagen ab. Es ging uns in | |
| der Verlagsarbeit auch um die Aufarbeitung von Geschichte. | |
| Wie etwa die Geschichte um Ernst Werner, die bei Ihnen 1988 unter dem Titel | |
| „Ich verbiete euch zu gehorchen“ veröffentlicht wurde? | |
| Wir machten viele Veranstaltungen dazu. In Lemgo und Umgebung schlug das | |
| Buch hohe Wellen. Die Reaktionen waren so stark, dass wir danach einen | |
| Nachfolgeband herausbrachten, um die Reaktionen zu dokumentieren. | |
| Wenn man die Renaissance heutiger rechter Parolen sieht: Was ist falsch | |
| gelaufen im Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit? | |
| Ist da etwas falsch gelaufen? Ich bin unter Nazis groß geworden, habe | |
| erlebt, wie unglaublich fanatisch, borniert und resistent die sind. Nein, | |
| mich wundert das überhaupt nicht. Ich bin in dieser Hinsicht ziemlich | |
| abgehärtet. | |
| 23 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Ute Evers | |
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