# taz.de -- Prager-Frühling-Protest in der Lausitz: „Und die Hände schön u… | |
> Hans-Joachim Schiemenz und Volker Rennert protestierten 1968 in Lübbenau | |
> gegen den Einmarsch in Prag. Dafür gingen sie ins Gefängnis. | |
Bild: Hans-Joachim Schiemenz und Volker Rennert starteten 1968 einen Protest in… | |
LÜBBENAU taz | „Time is on my side“, sagt Hans-Joachim Schiemenz, blinzelt | |
in den Himmel und verschränkt die Arme. „Das war mein Lebensmotto.“ Das | |
Lied der Stones hat ihn 1968 durch die Verhöre getragen, in der Einzelhaft | |
beruhigt, zu ihm gesprochen wie ein Himmelsbote. | |
Dabei ist der Text ganz irdisch. Mick Jagger richtet den Song an seine | |
Freundin, die ihn verlassen hat. Aber Jagger bleibt cool: Baby, du kommst | |
zu mir zurück. Time is on my side. – Die Zeit ist auf meiner Seite! Ein | |
Vers, wie geschaffen für ein Transparent. Oder für ein Tattoo. Diese | |
Gewissheit will man nicht mehr hergeben, schon gar nicht, wenn man jung | |
ist. Und Schiemenz ist 1968 jung. Am 23. August ist er 18 Jahre geworden. | |
Jetzt ist Schiemenz 50 Jahre älter, auch stämmiger, Schläfen und Bart sind | |
ergraut. Äußerlich ist ihm nicht anzumerken, dass er von Stasi und Polizei | |
durchgewalkt wurde wie ein Stück Haut. Die Verhörer wollten von Schiemenz | |
wissen, wen er eingeweiht hat, dass sie protestieren würden, drei Tage nach | |
dem Einmarsch der Sowjets und ihrer Satelliten in die Tschechoslowakei. | |
Dass Schiemenz einer der „Anstifter“ war, wussten sie schon. Und dann gab | |
es die Stöße von hinten, dass die Stirn immer wieder auf die Tischplatte | |
knallte. | |
„Und die Hände immer schön unters Gesäß, stimmt’s Achim?“ Volker Renn… | |
schaltet sich ein. Rennert gehört das Haus mit dem schattigen Hof. Zum | |
Rauchen aber tritt er beiseite. Rennert, ein hagerer Typ, war einer der | |
anderen beiden Organisatoren. Er wollte ein Sit-in veranstalten, so wie es | |
die Studenten in Westberlin und in Kalifornien vorgemacht hatten. | |
Der Bürgermeister sollte kommen und erklären, warum die „sozialistischen | |
Bruderländer“ ihre Panzer nach Prag schickten. Der Bürgermeister lehnte ab, | |
stattdessen informierte er die „Organe“. | |
## Hunger nach Freiheit gespürt | |
Doch Polizei und Stasi glaubten nicht an großen Protest. Sollte in Lübbenau | |
mit seinen 20.000 Einwohnern gelingen, was in Ostberlin nicht gelang? Keine | |
Intellektuellen, keine Studenten, keine Gefahr. Aber eine Beatszene gab es. | |
Hans-Joachim Schiemenz lacht. Er spielte Gitarre bei den „Blue Stars“, die | |
coverten Songs von den Beatles, den Stones, der Spencer Davis Group. Da hat | |
man schon zwischen Bühne und Saal oft diesen Hunger nach Freiheit gespürt, | |
sagt Schiemenz. | |
Nein, kein Sit-in, die anderen sind für eine Demo, Treffpunkt Markt, am | |
Abend um halb acht. Und so ziehen sie los, 40 bis 50 Jugendliche. Am | |
Bahnhof stoßen Lehrlinge vom nahen Kohlekraftwerk dazu. Da schwillt der Zug | |
auf 120 Demonstranten an. „Sieben, acht, neun, zehn: Dubček!“, rufen sie, | |
und „Sowjets raus aus Prag!“ Aber auch „Amis raus aus Vietnam!“ und „… | |
Minh!“ Man will sich nicht vorhalten lassen, vom Westen „verführt“ zu se… | |
Der Vorwurf kommt trotzdem. | |
„Sozialismus mit menschlichem Antlitz, das war für uns eine Hoffnung“, sagt | |
Rennert, „Musik, Klamotten, Freiheit.“ Und mit einem Sound, so aufreizend | |
wie bei den Stones, mit Haaren, so lang wie bei John Lennon, mit Bluejeans, | |
und dann rauf aufs Motorrad und los. Am besten auf einer 350er Jawa – einer | |
Zweizylinder aus der ČSSR. „Die Jawa, das war unsere Harley“, sagt | |
Schiemenz. In Lübbenau gab es so viele, dass die Fahrer einen Club | |
gründeten. | |
Die Jawa – tiefrot, mit zwei Auspuffen und einem Gebrüll, der die Alten | |
zusammenzucken ließ und den Jungen zurief: Der Sozialismus kann mehr als | |
eure Einzylinder von MZ! Deren Gebell war so dünn, dass es schien, als | |
könnte man nicht nur Bullen und Hengste, sondern auch Motorräder | |
kastrieren. | |
Als sie wieder den Markt erreichen, warten dort Bereitschaftspolizei und | |
spezielle Stasi-Schläger mit stählernen Ruten. 60 bis 80 Jugendliche, | |
schätzt Schiemenz, werden festgesetzt und verhört. Mindestens einem werden | |
die Haare geschoren. Schiemenz und Rennert tauchen ab, doch in den nächsten | |
beiden Tagen kommen sie in U-Haft – Verhöre, Schläge und „Hände unters | |
Gesäß!“ Schiemenz wird für zwei Wochen in eine Einzelzelle gesteckt. Da | |
sieht er sich plötzlich auf einer Bühne, Gitarre um und Publikum vor sich. | |
„Das waren richtige Halluzinationen.“ | |
Am 16. Oktober 1968 werden die beiden und der inzwischen verstorbene | |
Klaus-Dieter Wanske wegen „gemeinschaftlich organisierter Zusammenrottung | |
und Staatsverleumdung“ zu Haftstrafen verurteilt. Schiemenz erhält 18 | |
Monate, Rennert 14, Wanske 16 Monate. Kurz vor Weihnachten werden die | |
Strafen in drei Jahre Bewährung umgewandelt. Die nächsten Proteste gibt es | |
in Lübbenau im Herbst 1989. In der DDR wird es in den nächsten Jahren | |
wieder sehr ruhig, auch akustisch. Der Import von Jawa-Motorrädern wird | |
beendet. | |
## Gurkeneinlegerei und Braunkohlegrube | |
„Volker, such dir eine Frau und heirate!“, rieten ihm seine Eltern, erzählt | |
Rennert. Der Rat hätte auch von seinen Eltern kommen können, sagt | |
Schiemenz. Der eine heiratet mit 19, der andere mit 20. Allzu lange haben | |
die Ehen nicht gehalten. Rennert arbeitet in einer Brauerei, später in | |
einer Gurkeneinlegerei. „Ich konnte mich nie in einem Großbetrieb | |
integrieren“, sagt Rennert. Schiemenz arbeitet als Baggerführer auf einem | |
der Kolosse in der Braunkohle. | |
Später nutzt er die Chance und wird Gewerkschaftsvertrauensmann. In die SED | |
ist er nie eingetreten. „Ich habe mich nie angepasst“, sagt Rennert, und es | |
klingt, als wollte er sich etwas von Schiemenz absetzen. | |
Rennert sind die Narben der DDR deutlich anzumerken. Im Gegensatz zu | |
Schiemenz wirkt Rennert ruhelos. Manchmal unterbricht er Schiemenz, wenn | |
dieser etwas ausholt. Dann sprudelt es aus ihm heraus, als würde ein Ventil | |
geöffnet. „Ich hatte schlaflose Nächte“, sagt er. Warum? „Weil das alles | |
wieder hochkommt.“ Dann erzählt Rennert von seinen Ängsten, wenn Menschen | |
um ihn sind. In der Kaufhalle wird ihm schnell unwohl. | |
1981 hat Rennert einen „Nachschlag“ erhalten. In jenem Jahr schneiderte | |
sich sein Nachbar einen Heißluftballon, um in den Westen abzuhauen. Die | |
Sache fliegt auf und Rennert, an Krebs erkrankt, wird als Mitwisser | |
verhaftet. Wieder U-Haft, wieder Prozess, wieder ein Jahr Gefängnis, | |
umgewandelt in drei Jahre Bewährung. Noch im Herbst 1989 hat Rennert Angst, | |
dass ihn die Polizei holt. | |
## Pioniertreffen statt Widerstand | |
Ein kurzer Spaziergang zum Markt? Rennert winkt ab. Dann kommt er doch auf | |
seinem E-Rad angerollt und setzt sich in einen Korbstuhl. Heute ist | |
Lübbenau ein Touristenstädtchen. Urlauber flanieren. Am Kahnhafen gibt es | |
Gurken in allen Variationen. Der Marktbrunnen erzählt von den Sagen des | |
Spreewalds. | |
Die DDR aber scheint wie verschwunden. Nichts erinnert an den nahezu | |
singulären Protest der Lübbenauer „Beatgeneration“. Nur aus Erfurt und | |
Eisenach ist Ähnliches bekannt. Für die Stadtchronisten trotzdem kein Grund | |
für eine umfassende Würdigung. Dem Widerstand 1968 haben sie eine halbe | |
Seite eingeräumt, erzählt Schiemenz. Das Pioniertreffen zwei Jahre später | |
ist deutlich ausführlicher beschrieben. | |
Doch am 24. August werden Schiemenz und Rennert im Rathaus als Zeitzeugen | |
auftreten. Sprechen wird aber eher Schiemenz, wie Rennert vermutet. Die | |
Erinnerungen, die vielen Menschen – er wird mit einem Kloß im Hals | |
danebensitzen. | |
Seine Stunde schlägt etwas später. In der Kirche wird es ein Jazzkonzert | |
geben samt Klanginstallation. Die Idee stammt von Rennert. Der hat nach | |
1990 in Lübbenau den „Swingladen“ gegründet, einen Club für Modern Jazz. | |
Der Stil hat sich geändert. Eines ist geblieben: Musik hilft, wenn es eng | |
wird. | |
22 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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