# taz.de -- Debatte Revolution und Individualismus: Die kommenden Aufstände | |
> Das herrschende System scheint vielen nicht einmal in kühnen Fantasien | |
> überwindbar. Revolten der Zukunft werden flüchtig sein – wie Feuerwerke. | |
Bild: Knallt kurz, verpufft schnell. Wie viele aufflackernde Revolten | |
Das doppelte Erinnerungsjahr an die [1][Novemberrevolution 1918]/globale | |
Revolte 1968 ist ohne besondere Vorkommnisse verstrichen. Auf Symposien | |
wurde ordentlich argumentiert. Es gab keine erregten Debatten, keinen | |
aufrüttelnden Streit, keine überraschenden Volten. | |
Woher diese auffällige Affektlosigkeit? Das ist kein Ausdruck von | |
Geschichtsvergessenheit. History sells, wie „Berlin Babylon“, Christopher | |
Clarkes „Die Schlafwandler“ oder Florian Illies’ „1913“ zeigen. Die | |
achselzuckende Routine bei 1918/68 erklärt sich nicht aus Amnesie oder | |
Verdrängung unliebsamer Erkenntnisse, sondern aus verdunkelter | |
Zukunftserwartung. Revolte und Aufstand erscheinen als Begriffe ohne | |
Zukunft. | |
Sie sind bestenfalls museal, schlimmstenfalls erinnern sie an die | |
Kraftmeierei von Gauland, der das System stürzen will. Die Technik der | |
Provokation, des subversiven Spiels mit der eigenen Underdog-Position, die | |
[2][die 68er erfanden], nutzen heute Rechtsradikale. „1968 – Ils | |
commémorent, on recommence!“ / „Sie gedenken, wir fangen wieder an“ stand | |
an den Wänden französischer Universitäten zu lesen. Jungen deutschen | |
Linksradikalen kam noch nicht mal in den Sinn, den etablierten 68ern ihre | |
alte Melodie vorzupfeifen. | |
Für [3][Skepsis gegenüber Revolutionen] gibt es viele gute Gründe. Allzu | |
oft wurden fundamentale demokratische Prinzipien verletzt. Von 1789 über | |
1917 bis zur [4][chinesischen Revolution] war Terror kennzeichnend für die | |
rabiaten Versuche, Gleichheit durchzusetzen. Neuere schwungvolle, | |
enthusiastische Bewegungen wie die Chavistas in Venezuela oder die | |
Sandinisten in Nicaragua haben sich in grässliche Autokratien verwandelt, | |
die nur dem Machterhalt dienen. | |
## Schon den Gegner zu identifizieren, ist heute schwer | |
Zudem haben hypermoderne arbeitsteilige Gesellschaften Dutzende Subsysteme | |
mit autonomen Regelwerken und kein zentrales Steuerungszentrum mehr, keine | |
Machtzitadelle, die erobert werden könnte wie früher das Telegraphenamt | |
oder der Königspalast. Wie kompliziert schon die Identifikation des Gegners | |
sein kann, zeigte die Blockupy-Bewegung, die 2015 in Frankfurt die EZB | |
belagerte – obwohl deren Niedrigzinspolitik nicht Ursache der Finanzkrise | |
war, sondern nur der Griff zur Notbremse. | |
Das offenbarte ein komplexes, ja unlösbares Problem. Der globale | |
Kapitalismus ist in dem politischen Raum, in dem soziale Bewegungen | |
agieren, nicht dingfest zu machen. „Wenn ein großer Teil der physischen | |
Arbeit in der ehemaligen Dritten Welt verrichtet und der Reichtum in | |
Steuerparadiesen angehäuft wird“ (Thomas Steinfeld), dann sind auch unsere | |
nationalstaatlich geprägten Vorstellungen von Revolution hoffnungslos | |
überholt. | |
Der [5][globale Kapitalismus] ist wandlungsfähig, effektiv, ein Netzwerk | |
ohne Zentrale. Er schafft extremen Reichtum und extreme Armut. Dass wir | |
dieses faszinierende und destruktive System nicht einmal in kühnen | |
Fantasien für überwindbar halten, siedelt nah am intellektuellen Bankrott. | |
Für eine Gesellschaft, die sich aufgeklärt wähnt, ist es mehr als | |
bedenklich, wenn sie jede Art von revolutionärem Umschwung für | |
ausgeschlossen und undenkbar hält. Wenn Zukunft nur als in die Ewigkeit | |
verlängertes Heute vorstellbar ist, kommt das der Definition der Hölle | |
ziemlich nah – ein Ort ohne Alternative und besseres Morgen. | |
Nun gibt es immer wieder aufflackernde Revolten, zumindest jenseits | |
deutscher Grenzen. Der Bogen der Aufstände in den letzten Jahren reicht von | |
der weltweiten Occupy-Bewegung bis zu der halb vergessenen, dramatisch | |
gescheiterten Arabellion, vom Widerstand gegen die EU-Politik in | |
Griechenland bis zu Anti-Trump-Protesten in den USA oder [6][den | |
Demonstrationen gegen Orbán]. | |
Bei aller Unterschiedlichkeit der nationalen Texturen sind Muster | |
erkennbar, die Schlagkraft und Grenzen der Bewegungen markieren. Der | |
Protest geht nicht von den Abgehängten aus, von dem oft migrantischen | |
Dienstbotenproletariat, das Pakete austrägt, im Supermarkt Regale einräumt | |
oder bei Amazon jobbt. Diese Klientel ist zwar enttäuscht und wütend. Aber | |
weil sie im Job und erst recht, wenn sie arbeitslos ist, auch extrem | |
vereinzelt ist, fehlt jener kollektive soziale Sinn, ohne den sich | |
Bewegungen nicht bilden. | |
Die Kerngruppe des Protests ist jung, meist gut ausgebildet, allerdings mit | |
abgedunkeltem Zukunftsprospekt. Es ist die Generation, die könnte, aber | |
nicht kann, die viel, in den USA und Großbritannien auch viel Geld, in | |
Bildung investiert hat und nun frustriert feststellt, dass sie in | |
Praktikaschleifen hängt, Schulden angehäuft hat und sich auch in fünf | |
Jahren keine Wohnung in einer Metropole wird leisten können. Und die zornig | |
ist, dass Staaten Steuermilliarden in die Finanzsysteme pumpen, in denen | |
Banker in ihrem Alter und ähnlich ausgebildet Millionen scheffeln. | |
Auffällig ist zudem eine Flüchtigkeit, die das übliche Maß an | |
Unverbindlichkeit sozialer Bewegungen sprengt. Wenn man sich auf Programme | |
einigt, lesen die sich vage, oder man beschränkt sich gleich auf ein paar | |
übersichtliche Forderungen. Hierarchien stehen grundsätzlich unter | |
Verdacht. Theorien, intellektuelle Speicherkapazitäten sind auch keine | |
Kennzeichen dieser Formationen. In diesen Bewegungen brechen sich eruptiv | |
Ohnmachts- und Überforderungserfahrungen Bahn, sie verknüpfen sich für | |
einen Moment zu einer scheinbar mächtigen Bewegung, die wie eine | |
farbenfrohe Silvesterrakete explodiert und im Nichts verschwindet. | |
Die französische Soziologin Cécile Van de Velde sieht die jungen | |
Gutausgebildeten im Westen zusehends eingeklemmt zwischen zwei | |
widersprüchlichen Anforderungen. Sie sollen der Doktrin des „Verwirkliche | |
dich selbst“ genügen (dem Ideal des von den 68ern umgemodelten | |
Kapitalismus), aber auch schnell Karriere machen, um in den sich rasch | |
ändernden Anforderungsprofilen der digitalen Ökonomie bloß den Anschluss | |
nicht zu verpassen. | |
## Nie genügen, nichts bewirken | |
Die Unfähigkeit, ein Wir zu formen und stabile Organisationen zu bilden, | |
entspricht dem Lebensgefühl, das kürzlich ein 21-Jähriger in Berlin | |
treffend auf den resignativen Punkt brachte: „Ich kann nichts machen.“ Der | |
Satz beschreibt das nagende Gefühl, überfordert zu sein, ein Staubkorn im | |
Wind. | |
Die von keinen gesellschaftlichen Verbotsschildern mehr gebremste | |
Selbstverwirklichung ist zum Gebot geworden, die Möglichkeitsräume scheinen | |
unendlich – und beflügeln das Gefühl, nie zu genügen, nichts zu bewirken. | |
Früher war das Individuum weit mehr in sinnstiftenden, einengenden Milieus | |
und Kollektiven eingebunden. Gewerkschaften, Kirchen oder auch die | |
Alternativbewegung schützten das Ich vor Selbstüberforderung und dem | |
angekoppelten Gefühl, zu versagen. Bei den Post-68ern sorgte die Abgrenzung | |
von der Elterngeneration für das beruhigende Bewusstsein, Teil von etwas | |
Neuem, Größeren zu sein. Jetzt ist das Ich frei, aber unfähig, sich zu | |
einem Wir zu verbinden, das mehr als Flackern wäre. | |
Einen anderen Typus Revolte kann man [7][derzeit in Frankreich beobachten]. | |
Die Gelbwesten kommen aus der Provinz, nicht aus der Metropole. Sie | |
rekrutierten sich aus der unteren, kaum akademisch geprägten Mittelschicht, | |
die hart arbeitet und wenig verdient. Sie ist politisch eher diffus als | |
links – die Hälfte versteht sich als unpolitisch. Und sie ist noch | |
misstrauischer gegen organisierte Politik als die rebellischen | |
JungakademikerInnen. Eine wenn auch nicht repräsentative Umfrage förderte | |
zutage, dass die Hälfte der Gelbwesten-AktivistInnen jede Form von | |
Repräsentation ablehnt. Nur das authentische Ich soll sprechen dürfen. Wer | |
Wir sagt, scheint unter Betrugsverdacht zu stehen. Darin spiegelt sich das | |
Paradox einer Bewegung, die nur aus einzelnen Ichs zu bestehen scheint. | |
Solche fragmentarischen Formationen sind nicht in der Lage, Erfahrungen zu | |
speichern, Strategien zu entwerfen, langfristige Ziele ins Auge zu fassen | |
oder gar die Machtfrage zu stellen. Sie erinnern von ferne „an die | |
antikapitalistischen Strömungen der 1840er Jahre“ (Franz Walter), vor der | |
Gründung von Gewerkschaften und Sozialdemokratie. | |
## Die Welten werden weiter auseinanderdriften | |
Die kommenden Aufstände werden spontan und unvorhersehbar entstehen. Sie | |
werden in Provinzstädten mit kaum bekannten Namen ausbrechen. Die | |
Lebenswelten zwischen verödeten Kleinstädten und den florierenden | |
Großstädten (mit explodierenden Mieten) werden weiter auseinanderdriften. | |
Die Digitalisierung, deren zarte Anfänge wir erleben, wird die sozialen | |
Gräben vertiefen. Die Kluft zwischen heftig umworbenen high potentials und | |
Abgehängten in mies bezahlten Jobs, zwischen dem liberalen, weltoffenen | |
oberen Drittel, dessen Kinder im Ausland studieren, und dem nach rechts | |
driftenden, verstockten Kleinbürgertum wird nicht geringer, sondern noch | |
größer werden. Auch in der EU wird die digitale Ökonomie die sozialen | |
Unterschiede zwischen dem prosperierenden Norden und dem unter | |
Überschuldung und Arbeitslosigkeit leidenden Süden forcieren. | |
In Deutschland werden Jüngere schon wegen der Demografie als Fachkräfte | |
dringend gesucht. Die Arbeitslosigkeit wird, vor allem bei AkademikerInnen, | |
niedrig bleiben, jedenfalls wenn die Exportökonomie nicht zusammenbricht. | |
Die Kerntruppe der urbanen Revolten, die jungen Gutausgebildeten, sind | |
hierzulande längst nicht so verzweifelt wie in London oder den USA. Sie | |
werden zwischen Hamburg und München eher Geld für eine Eigentumswohnung | |
sparen als gegen Wohnungsspekulanten auf die Straße zu gehen oder rabiat | |
zu protestieren, dass die Bankenkrise die Steuerzahler hierzulande mehr | |
als 80 Milliarden und der Cum-Ex-Betrug mehr als 30 Milliarden Euro kostet. | |
Der Protest in den Regionen wird rechtspopulistisch bleiben, böse, wütend | |
und ratlos. | |
Der akademische Nachwuchs in den Metropolen sucht sein „Glück in Familie | |
und Beruf“, weil die Welt keine fundamentalen „Alternativen“ mehr bietet. | |
Die Nachwuchselite hat aufgehört zu sein, was sie früher einmal war – „ein | |
Ferment produktiver Unruhe“. | |
So sieht es 2018 aus. Doch das Zitat stammt vom linksliberalen Soziologen | |
Ludwig von Friedeburg, der erforschte, wie die bundesdeutschen Studierenden | |
ticken. Und zwar 1965. Es kam anders, entgegen allen fundierten, | |
wohlbegründeten Prognosen. | |
30 Dec 2018 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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