# taz.de -- Gerd Koenen über die Kulturrevolution: „Attraktive Grausamkeiten… | |
> Vor 50 Jahren rief Chinas Parteichef Mao die Jugend zur Revolte auf – ein | |
> gewollter Ausbruch anarchischer Massengewalt. Das Ziel: die „Große | |
> Ordnung“. | |
Bild: Fruchtbarer Appell zur Rebellion: Maoistische jugendliche Kampftruppen 19… | |
taz: Herr Koenen, Sie haben vor 30 Jahren geschrieben, dass die | |
Kulturrevolution, die 1966 in China begann, so „geheimnisvoll ist wie die | |
Skulpturen der Osterinsel“. Wissen wir heute mehr? | |
Gerd Koenen: Ja, wir wissen, dass die Kulturrevolution wohl das | |
ungewöhnlichste Ereignis in der Geschichte des Kommunismus im 20. | |
Jahrhundert war. Denn es war fast das einzige Mal, dass Kommunisten an der | |
Macht in einer sogar bewusst chaotisierenden Weise von der Spitze her an | |
die Massen appellierten. Und zwar besonders an die Masse der Jugendlichen, | |
gegen die älteren Kader der Partei zu rebellieren. Das hatte es vorher noch | |
nicht gegeben. Ebenso wissen wir heute, dass die Kulturrevolution für Mao | |
einer eigene Ratio der Macht folgte. Das Chaos schien eigene Strukturen zu | |
haben. | |
Wie passten Anarchie und Chaos mit der Ordnungsparanoia eines totalitären | |
Regimes zusammen? | |
Das passte zusammen. Es war ein gewollter Ausbruch anarchischer | |
Massengewalt, der wenig mit Demokratie zu tun hatte. Denn man konnte die | |
jugendlichen Gruppen lenken und manipulieren. Mao wurde dabei wohl eher von | |
einer chinesisch-kosmologischen Weltvorstellung geleitet, derzufolge aus | |
der großen Unordnung, aus dem großen Chaos am Ende die „Große Ordnung“ | |
entstehen würde. Wie ein olympischer Kaiser thronte er über dem Chaos, ließ | |
es geschehen, zog mal diesen Faden, zog mal jenen, schickte die Armee | |
hierhin und dorthin. Gewiss war das Kulturdiktat von Maos Gattin, Jiang | |
Qing, hypertotalitär im Sinne der vollständigen Vereinseitigung des | |
gesamten Kanons der zulässigen Kultur. Aber es gab eben verblüffenderweise | |
immer auch diese anarchische Seite. Und das passte nicht zum traditionellen | |
Totalitarismusverständnis. | |
Warum war die Kulturrevolution in Teilen der westlichen Linken so lange ein | |
Mythos – trotz der furchtbaren Grausamkeiten? | |
Viele dieser Grausamkeiten wurden von der Basis begangen. Wenn alte Kader | |
mit Schandhüten vorgeführt wurden, kam uns das vor wie ein Scherbengericht, | |
das empörte Massen anrichteten. Und das schien etwas anderes zu sein als | |
das, was in den Folterkellern und Lagern der Sowjetunion geschah. Zudem | |
muss man wissen: Grausamkeit stößt nicht per se ab. Sie kann auch sehr | |
attraktiv sein. | |
Rotgardisten wurden während der Kulturrevolution in die Mongolei und | |
Mandschurei an die Basis geschickt. Auch diese Selbstproletarisierung | |
diente der westlichen Linken gleichsam als Modell: raus der Uni, rein in | |
die Betriebe … | |
Dabei darf nicht vergessen werden: Die Faszination des Maoismus ging der | |
Bildung der neokommunistischen K-Gruppen und Parteien der 1970er Jahre | |
voraus. Die Kommune I lief mit Mao-Buttons herum. Die lustigen | |
Antiautoritären priesen den Aufstand der Jugend gegen die Alten, gegen die | |
Bürokratie. Im Mai 1968 in Paris wimmelte es von Mao-Buttons. Brigitte | |
Bardot zog sich die Mao-Mütze auf. Es waren berühmte Künstler oder | |
Filmemacher wie Jean-Luc Godard, die ihre eigenen Kunstwerke verbrannten | |
und mitteilten: „Wir werden jetzt dem Volke dienen.“ | |
Spätestens mit Chinas Wende zum Kapitalismus brachen auch die | |
Betonideologien der K-Gruppen, der Mao- und Jugendkult und ihr rigider | |
Antirevisionismus zusammen … | |
Die Risse gab es schon früher. Deng Xiaoping vollzog in den 1980er Jahren | |
eine Wendung nach der anderen. China begann außenpolitisch Realpolitik zu | |
machen, die sich sogar gegen die Volksfront in Chile und gegen die | |
Nelkenrevolution in Portugal wandte. Schon 1975 reiste Franz Josef Strauß | |
vor vielen anderen Politikern aus dem Westen nach China und war begeistert | |
von Mao. Wir waren die Deppen – und brauchten noch ziemlich lange, bis wir | |
kapierten, wohin der Wind wehte. Und irgendwann passte nichts mehr | |
zusammen. | |
Der Maoismus war ab 1967/68 ein internationales Phänomen, eine geistige | |
Strömung im Westen, in der die Jugend zur weltverändernden Kraft stilisiert | |
wurde. Man denke an die Parole: „Sie sind alt, wir sind jung – Mao Tse- | |
tung“. Dies ging einher mit dem Phantasma einer permanent erneuerten | |
Bewegung … | |
Maos Theorie war, dass die Revolution nicht einfach ein Ziel hat, am Ende | |
ist der Sozialismus aufgebaut, das war es dann. Nein, es würde immer neue | |
Revolutionen und Umwälzungen geben. Heute sehen wir: Der Kapitalismus ist | |
diese unendliche Bewegung. Wir sind Teil dieser unendlichen Bewegung, aber | |
anders, als wir uns dies einst vorgestellt haben. | |
Also gibt es eine Verbindung zwischen den rotgardistischen Energien von | |
1966 und dem Aufbruch zum turbokapitalistischen Wirtschaftswunder ab den | |
1990er Jahren? Hat die chinesische Revolution der Mao-Ära späte Früchte | |
getragen, die nicht beabsichtigt waren? | |
Das ist tatsächlich die schwierigste Frage. China ist umgekrempelt worden, | |
allerdings auf eine vollkommen andere Weise, als dies dem „Großen | |
Steuermann“ ursprünglich vorgeschwebt hatte. Deng Xiaoping hat mit einem | |
minimalen ideologischen Aufwand die latent schlummernden ökonomischen | |
Potenziale und individuellen Aufstiegsenergien mobilisiert, also exakt das, | |
was Mao mit Gewalt unterdrücken wollte. Und gleichzeitig hat er die Partei | |
völlig auf Ordnung und Einmütigkeit getrimmt – notfalls mithilfe des | |
Militärs, wie beim Massaker auf dem Tian’anmen-Platz im Juni 1989. | |
Chinas KP hat die Kulturrevolution als „Jahrzehnt der Katastrophe“ | |
eingeordnet, ohne Mao vom Sockel zu stoßen. Lässt sich eine solche | |
gespaltene Erinnerung durchhalten? | |
Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ bleibt in der Geschichte der | |
Volksrepublik China tatsächlich das einzige Ereignis, das offiziell – 1981 | |
– verdammt worden ist. Interessant ist, dass ein Großteil der heutigen | |
Parteielite, angefangen beim Parteichef Xi Ping, selbst Kinder von | |
Verfolgten der Kulturrevolution sind. Jetzt dient sie in absurder Weise als | |
Warnung vor jeder demokratischen Lockerung des Regimes und als Legitimation | |
ihrer mit modernsten Mitteln geübten Gedankenkontrolle. | |
16 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Norbert Seitz | |
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