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# taz.de -- 25. Jahrestag der Demokratiebewegung: Das totale Schweigen von Tian…
> Der niedergeschlagene Protest auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989
> ist immer noch ein Tabu. Wo die Toten begraben sind, wissen nur
> Angehörige.
Bild: Peking am 4. Juni 1984.
PEKING taz | Zhang Xiao* musste ewig suchen. Irgendwo zwischen den
Tausenden von Grabsteinen und dem verdorrten Nadelgewächs soll es ein paar
Gräber von Leuten geben, die in den Nächten des 3. und 4. Juni 1989
erschossen wurden. Es ist der einzige Ort in der 20-Millionen-Stadt, an dem
die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 auf dem
Pekinger Tiananmen-Platz erinnert werden kann.
Aber nur wem Angehörige den Weg zu den Gräbern beschrieben haben, findet
hierher. Die hat Zhang Xiao aber nicht. Einen Anhaltspunkt entdeckt der
24-Jährige aber doch: Kameras. Sie sind vor allem dort installiert, wo auch
Tote von Liu Si liegen, die chinesische Bezeichnung für den 4. Juni. „Nicht
einmal hier lässt der Sicherheitsapparat die Angehörigen in Ruhe“, sagt
Zhang Xiao. Dabei heißt der Friedhof Wanan, auf Deutsch „ewiger Friede“.
Es gibt in China nicht viele, die wie Zhao Xiang aus Interesse die Gräber
der Toten vom 4. Juni 1989 aufsuchen. Zhang Xiao hat das Schweigen satt. Er
ist in Peking geboren und aufgewachsen. Vor drei Jahren ging er zum
Studieren in die USA. Ein Kommilitone sprach ihn auf die Ereignisse auf dem
Tiananmen-Platz an. Natürlich hatte Zhang Xiao schon von den Protesten
gehört. Aber was sich damals genau abspielte, wusste er nicht – und es
hatte ihn bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht interessiert. Sein
amerikanischer Mitstudent war besser informiert. Und dafür schämte sich
Zhang Xiao.
Noch am gleichen Abend setzte er sich an seinen Rechner. Im Netz stieß er
auf Bilder und Videoaufnahmen. Er sah, dass es sich keineswegs nur um
„einige wenige Radikale“ handelte, wie ihm das immer erzählt worden war,
sondern um Hunderttausende, die sich in den Tagen und Wochen vor dem 4.
Juni auf dem Tiananmen-Platz aufhielten. Er sah die Bilder der
hungerstreikenden Studenten, die völlig erschöpft auf Liegen im
Ambulanzzelt lagen, ihre Finger zu einem V-Zeichen erhebend – V für
Victory. Zhang Xiao sah sich auch die Aufnahmen über den Bau der „Göttin
der Demokratie“ an, einer Freiheitsstatue aus Pappmaché. Studenten der
Pekinger Kunsthochschule hatten sie errichtet. Sie war in diesen berühmten
Wochen das Symbol der Demokratiebewegung. Zhang Xiao fragte sich: „Wie kann
das sein, dass ich den Großteil meines Lebens so wenig von diesem
einschneidenden Ereignis wusste? In was für einem Land bin ich
aufgewachsen?“
## Ausnahmsweise kein Achselzucken
So wie Zhang Xiao ergeht es Millionen Chinesen: Ein Vierteljahrhundert nach
der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz weiß
eine Mehrheit kaum oder gar nichts mehr über die Proteste von 1989.
Repräsentative Erhebungen gibt es keine. Wer auf den Straßen die Generation
der heute zwischen 20- und 40-Jährigen nach den Ereignissen befragt, erntet
meist Achselzucken. Die meisten haben keine Ahnung. Und wer etwas weiß,
hält sich bedeckt.
Wang Yuanyuan* ist eine Ausnahme. Mitte April 1989, Wang Yuanyuan war
damals 13, trafen sich vor ihrer Mittelschule im Pekinger Stadtteil Haidian
die Studenten der Pädagogik-Hochschule und fuhren im Fahrradkonvoi
gemeinsam in Richtung Tiananmen. Die vielen Transparente und Banner, die
von den Wohnheimfenstern herabhingen hat Wang Yuanyuan gut in Erinnerung.
„Wir standen alle am Fenster und haben dem bunten Treiben zugeschaut“,
erzählt sie. Doch der Schuldirektor gab die Anweisung, sich wieder auf ihre
Stühle zu setzen. Der Unterricht dürfe nicht unterbrochen werden. Wenige
Tage später erschien kein Lehrer mehr in den Klassenzimmern. Sie hatten
sich dem Protest angeschlossen.
Nach dem 4. Juni wurde Wang Yuanyuans Schule geschlossen und sie und ihre
Mitschüler in die vorgezogenen Sommerferien geschickt. Als sie im September
zurückkehrten, war die gegenüberliegende Pädagogikhochschule verweist. Die
Lehrer waren zurück. Doch keiner wagte es, sie auf die Ereignisse
anzusprechen. „Wir wussten, wie heikel das ist“, erinnert sich Wang
Yuanyuan.
Das gilt bis heute. Die Ereignisse vom 4. Juni 1989 sind in den gesamten 25
Jahren ein Tabuthema geblieben. Weder wird in den Schulen darüber
gesprochen noch an den Unis. Auf eine Entschuldigung der chinesischen
Führung wartet man bis heute. Eine Aufarbeitung fand nie statt. Während
einzelne Verfehlungen der Kulturrevolution unter Mao Tse-tung inzwischen
durchaus thematisiert werden, ist der Demokratieprotest von 1989 fast
verschwunden – als hätte es ihn nie gegeben.
## Dampfkuchen und Totengeld
Wie Wang Yuanyuan heute darüber denkt? „ Ich weiß es nicht“, lautet ihre
Antwort. China habe sich seitdem so stark verändert. Trotz der rasanten
wirtschaftlichen Entwicklung oder vielleicht auch ihretwegen habe es
seitdem noch so viel weiteres Leid gegeben. Sie wolle die Ereignisse vom 4.
Juni 1989 nicht relativieren. Doch vor allem in den vergangenen Jahren habe
sie über so viele Gräuel im Land erfahren.
„Wer sich informieren will, wird fündig“, weiß Zhang Xiao. Auch über
Tiananmen. Zwar löschen die Zensoren im Internet alles, was im Zusammenhang
mit dem 4. Juni steht. Dennoch finde man immer wieder Berichte und Bilder,
aber verschlüsselt: Die Artikel wurden abfotografiert, sodass die Texte
nicht nach Stichwörtern gefunden werden können. Aus dem 4. Juni wird
beispielsweise der 35. Mai. Das Problem, sagt Zhan Xiao, sei, dass viele
Leute nicht wüssten, wonach sie suchen sollen.
Die Sicherheitsbehörden gehen rabiat gegen alle vor, die das Ereignis vor
25 Jahren in irgendeiner Form thematisieren könnten. Seit Wochen werden 50
Blogger, Menschenrechtsaktivisten, Anwälte und Journalisten an unbekannten
Orten festgehalten oder haben Hausarrest. Das hat es in den vergangenen
Jahren vor dem 4. Juni zwar auch gegeben. Die meisten wurden nach dem
Jahrestag aber wieder freigelassen. Dieses Mal könnten die Folgen jedoch
weitreichender sein. Als im April Aktivisten um den Menschenrechtsanwalt Pu
Zhiqiang im privaten Kreise an die Ereignisse gedenken wollten, wurden sie
verhaftet. Gegen Pu wird seitdem wegen angeblicher Unruhestiftung
ermittelt. Ihm droht eine Haftstrafe.
Die drohende Repression hatte auch Liu Juns * Mutter viele Jahre von der
Wahrheit abgehalten. Liu Jun wusste, dass der Ehemann seiner Mutter nicht
sein leiblicher Vater ist. Und jedes Jahr am 5. April, wenn in China
traditionell zum Totengedenkfest (Qingmingjie) der verstorbenen Angehörigen
gedacht wird, ist sie zum Friedhof gefahren.
Sie nahm etwas Obst mit, einen süßlichen Dampfkuchen, den sie vorher
zubereitet hatte, und Totengeld – nachgemachtes Papiergeld, das am Grab
verbrannt wird. Sie ging immer allein dorthin und teilte ihm auch nicht
mit, wessen genau sie dort gedachte. Sie sprach von einem „Freund“. Bis sie
Liu Jun vor einigen Jahren dann doch mitnahm. Bei dem Verstorbenen handelte
es sich um seinen Vater.
## Schweigen für die Schule
Liu Juns Vater kam in den Morgenstunden des 4. Juni 1989 ums Leben. Es muss
irgendwo zwischen dem Militärmuseum und dem Tiananmen-Platz gewesen sein.
Eigentlich war sein Vater bereits auf dem Nachhauseweg. Denn es war
ausgemacht: Sobald die Soldaten zuschlagen – und das zeichnete sich seit
Tagen ab –, würde er sofort nach Hause kommen. Viele Studenten hatten sich
weiße Stirnbänder umgebunden mit der Aufschrift: „Bu pa si“ („Wir haben
keine Angst vor dem Tod“). Liu Juns Vater trug ein solches Stirnband nicht.
Als die Panzer immer mehr auf den Tiananmen-Platz zurollten, wurden die
Schüsse lauter. Ein Schuss traf Liu Juns Vater.
All das erzählte ihm seine Mutter – 20 Jahre später. Warum hatte sie ihm
das nicht schon vorher mitgeteilt? Ganz einfach, um ihn zu schützen. „Sie
wollte nicht, dass ich in meiner Schule Nachteile erleide“, erzählt Liu
Jun. In den ersten Jahren hatte sie befürchtet, politisch verfolgt zu
werden. Ihren Job als Lehrerin durfte sie für einige Jahre nicht ausüben.
Später sei es ihr schwergefallen, darüber zu reden. Das sei auch heute noch
so, berichtet Liu Jun. Seitdem begleite er sie zwar jedes Jahr am
Totengedenkfest zum Grab seines Vaters. Auf dem Weg dahin werde jedoch
geschwiegen.
Zhang Xiao ist inzwischen Journalist einer renommierten Zeitung. Auch in
den Redaktionsräumen wird über den 4. Juni nicht gesprochen. Als ein
Kollege vor einiger Zeit auf einer Redaktionssitzung das Thema am Rande
erwähnte, blickten die anderen betreten zu Boden. Der Kollege kam nicht
mehr wieder. Trotzdem: Die Beschäftigung mit diesem Thema habe sein
politisches Bewusstsein geschärft, sagt Zhang Xiao. „Ich traue seitdem
keiner offiziellen Verlautbarung mehr.“
* Namen sind geändert
30 May 2014
## AUTOREN
Felix Lee
## TAGS
Tiananmen
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