# taz.de -- 50 Jahre Kulturrevolution in China: Verrohung bis in die Gegenwart | |
> Am 16. Mai 1966 begann unter Mao Tse-tung eine der verheerendsten | |
> Massenkampagnen des vergangenen Jahrhunderts. | |
Bild: Eine ernsthafte Aufarbeitung der Kulturrevolution hat es in China nicht g… | |
Wang Keming holt mit seiner Hand aus und schlägt mit voller Wucht dem | |
Bauern ins Gesicht. Dieser blutet, hält sich die linke Wange vor Schmerzen. | |
„Kritiksitzung“ nennt sich die Versammlung, die Bauer Gu an diesem Tag an | |
den Pranger stellt. Stundenlang zwingen die Jugendlichen den Mann zu immer | |
neuen Geständnissen – bis er schließlich zugibt, ein Klassenfeind zu sein. | |
Das war 1970. „Bauer Gu hatte das Pech, von uns zufällig als Opfer | |
auserkoren zu werden“, erzählt Wang heute. „Wir wussten, zu einer richtigen | |
Kritiksitzung gehört Gewalt.“ Als damals 20-Jähriger gehörte Wang zu den | |
fanatisierten Roten Garden. „Wir waren überzeugt, das Richtige zu tun, doch | |
in Wirklichkeit verhielten wir uns barbarisch.“ Heute bereut er sein | |
Verhalten von damals. | |
Wang ist eine Ausnahme. Eine Mehrheit der Angehörigen jener Generation | |
macht sich heute keine Gedanken über die Gräueltaten, die sie als | |
Jugendliche in Maos Jugendgarde verübt hatten – während der sogenannten | |
Kulturrevolution, die der Diktator im Mai 1966 losgetreten hatte. | |
Es war eine der verheerendsten Massenkampagnen des vergangenen | |
Jahrhunderts. Mit ihr suchte Mao Tse-tung seine gefährdete Machtposition zu | |
festigen und sich der Widersacher innerhalb der Kommunistischen Partei zu | |
entledigen. „Vertreter des Kapitals“ hätten sich in die KP, die Regierung | |
und die Armee eingeschlichen und eine Fraktion von Machthabern gebildet, | |
die den kapitalistischen Weg gingen, teilt er in einer Mitteilung am 16. | |
Mai 1966 mit. | |
## Überall müssen Feinde entlarvt werden | |
Diese inneren Feinde hätten Zeitungen, Rundfunksendungen, Zeitschriften, | |
Bücher, Lehrmaterial, Reden, literarische Werke, Filme, Opern, Schauspiele, | |
Kunst, Musik und Tanz mit ihrem kapitalistischen Gedankengut verseucht. | |
Deshalb müsse man sie überall entlarven und vernichten. Unterzeichnet war | |
das Schreiben von der „Gruppe für die Kulturrevolution des | |
Zentralkomitees“. | |
„Alle Macht kommt aus den Läufen der Gewehre“ – solche und ähnliche Spr… | |
schienen auch linken Studenten in Europa Ende der sechziger und zu Beginn | |
der siebziger Jahre von tiefer Weisheit durchdrungen zu sein. Geradezu | |
begeistert griffen viele junge Leute im Ausland die Nachrichten aus China | |
auf: Für sie waren die Gesellschaften des Ostblocks keine Alternative zum | |
imperialistischen Kapitalismus im Westen. Chinas Führer Mao hingegen schien | |
ein Heilmittel gegen Erstarrung und Korruption ersonnen zu haben: die | |
permanente Revolution, in der alle Macht der Jugend gehört. Das ferne China | |
wurde zur Projektionsfläche eines besseren Sozialismus. | |
## Sie durften nun alle Autoritäten demütigen | |
Die Wahrheit war eine andere. „Wir schlugen unsere Lehrer, denunzierten | |
unsere Eltern, zerstörten jahrtausendealte Kulturgüter und verloren | |
jegliches Gespür von Anstand und Moral“, erinnert sich Wang, inzwischen | |
pensionierter Redakteur einer Zeitschrift für Agrarfragen. In einem Dorf in | |
der südwestchinesischen Provinz Guangxi kam es gar zu Kannibalismus. | |
Rotgardisten trieben einen Lehrer in eine Ecke und entrissen ihm bei | |
lebendigem Leib die Organe, die sie dann später grillten und verspeisten – | |
als eine besonders makabre Art, Autoritäten zu demütigen. „Wir waren vom | |
Wahnsinn getrieben“, sagt Wang heute. | |
Kaum eine Familie in China bliebt verschont. Neuere Forschungen gehen davon | |
aus, dass 20 Millionen Menschen für Jahre zur Zwangsarbeit aufs Land | |
geschickt wurden. Rund 200 Millionen Menschen hätten an chronischer | |
Unterernährung gelitten, weil in den wirren Jahren die Versorgung | |
zusammenbrach. | |
Die Zahl der Toten wird auf anderthalb Millionen Menschen geschätzt, die | |
meisten von ihnen wurden umgebracht oder in den Suizid getrieben. Der | |
Aufstand der chinesischen Jugend im Sommer 1966 forderte wahrscheinlich | |
10.000 Tote, die bewaffneten Kämpfe der Roten Garden untereinander noch | |
einmal einige 10.000. Mancherorts stürmten rivalisierende Gruppen | |
Waffenlager der Armee. Die meisten Toten gab es mit den späteren | |
Säuberungsaktionen, die versuchten, das Chaos wieder in den Griff zu | |
kriegen. | |
## Die Geschichte wird verdrängt | |
In China weiß all das keiner so genau. Eine ernsthafte Aufarbeitung dieses | |
schrecklichen Jahrzehnts hat es nicht gegeben. Stattdessen wird Mao auch | |
heute noch als der „große Steuermann“ und „Gründer der Volksrepublik“ | |
verehrt. Offiziell gilt die von der Parteiführung ausgegebene Losung: Mao | |
habe 70 Prozent gute Dinge geleistet, 30 Prozent schlechte. Eine Debatte, | |
was von seinem Wirken den Menschen genau geschadet hat, wird nicht | |
gestattet. | |
Und mehr noch: Der derzeit amtierende chinesische Staats- und Parteichef Xi | |
Jinping nimmt sich den brutalen Herrscher wieder als Vorbild. Xi bedient | |
sich nicht nur immer wieder Maos Rhetorik, sondern auch seiner Methoden. | |
Dabei waren Xi und seine Familie selbst Opfer. Wie Millionen andere musste | |
auch Xi für Jahre aufs Land. Sein Vater Xi Zhongxun, ein ranghohes | |
Parteimitglied, wurde gleich zu Beginn der Kulturrevolution in Peking auf | |
einen Platz gezerrt und vor einer Menschenmenge gedemütigt. Einer der | |
Gründe: Bei einem Besuch in Ostberlin hatte er es gewagt, mit einem | |
Fernglas nach Westberlin zu schauen. | |
## Neuer Personenkult | |
Erinnerungen werden wach, wenn die Führung unter Xi Jinping nun | |
Journalisten und Intellektuelle einsperren lässt und sie im Fernsehen zu | |
öffentlichen Geständnissen zwingt. Überhaupt führt Xi das Land so autoritär | |
wie lange kein chinesischer Machthaber mehr. Er pflegt einen Personenkult, | |
wie es kein chinesischer Staatsführer seit dem Tod von Mao mehr gewagt hat. | |
Trotzdem sei die derzeitige politische Situation in China nicht mit der | |
Kulturrevolution von damals zu vergleichen, sagt der Soziologe Zhou | |
Xiaozheng. Xi setzte auf einen starken Staat, der ideologische | |
Gedankenexperimente nicht zulässt. Ihm gehe es um Stabilität des Landes. | |
Mao hingegen hatte damals bewusst auf das Chaos der Massen gesetzt und sie | |
angestachelt, bestehende Strukturen zu zerschlagen. | |
Und doch sorgt sich Zhou um den heutigen Zustand der chinesischen | |
Gesellschaft – und führt das unmittelbar auf die Kulturrevolution zurück. | |
Er beschreibt eine typische Szene in Peking: Eine ältere Frau steigt in die | |
U-Bahn, schubst mit spitzen Ellbogen einen anderen Fahrgast beiseite. Sie | |
entschuldigt sich nicht, sondern schnattert lautstark mit ihrer Freundin, | |
als wäre nichts geschehen. | |
## Rücksichtslos nach vorn | |
Der Soziologe Zhou Xiaozheng hält dieses Verhalten für bezeichnend bei den | |
heute 60- bis 70-Jährigen. Diese Generation sei von einer Zeit geprägt, in | |
der sie sich gegenüber Autoritäten haushoch überlegen gefühlt haben. Es | |
galten keine Regeln mehr, Erziehung fiel aus. Genau wie Machthaber Mao es | |
wollte, brach das chinesische Wertesystem zusammen. „Wer seine Eltern | |
denunziert, Lehrer verprügelt, Tempelanlagen zerstört und mit allem radikal | |
bricht, wofür die jahrtausendealte Kulturnation stand, der wird auch | |
Jahrzehnte später nicht allzu viel von Moral und gesellschaftlichem | |
Miteinander verstehen“, sagt Zhou. | |
Der inzwischen selbst 69-Jährige will seiner Generation gar keinen Vorwurf | |
machen. Ideologisch völlig verblendet, machten sie erst alles kaputt, | |
mussten sich dann aber hinterher in dem völlig darniederliegenden Land | |
eigenständig durchschlagen. „Wer nicht vordrängelte, hatte abends nicht | |
genug Reis in der Schale.“ Dieses Verhalten übertrage sich auch auf die | |
kommenden Generationen. Zhou: „Die Verrohung der Gesellschaft wirkt bis in | |
die Gegenwart.“ | |
15 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Felix Lee | |
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