# taz.de -- Debatte Sozialpolitik in Deutschland: Das Gelbwestenpotenzial | |
> Das Einkommen der unteren Mittelschicht ist auch in Deutschland ein | |
> unterschätztes Thema. Denn geringe Kaufkraft erzeugt weitere Ängste. | |
Bild: Anfang Januar streikten bundesweit Geldtransport-Fahrer_innen für höher… | |
Die Bilder erinnerten an die Gelbwesten in Frankreich. 100 | |
Geldtransporterfahrer, in Streikwesten gewandet, versammelten sich Anfang | |
Januar in Berlin-Mitte und anderen Städten, um für höhere Gehälter zu | |
demonstrieren. 12,60 Euro brutto die Stunde verdienen die Fahrer in Berlin | |
und Brandenburg. „Man muss die Löhne im Zusammenhang mit den Kosten sehen“, | |
sagte einer der Männer, „die Mieten steigen rasant nach oben.“ | |
Die Geldtransporteure sind ein Beispiel für Problemlagen der unteren | |
Mittelschicht: Die Kaufkraft entspricht nicht mehr den gestiegenen Kosten | |
für Wohnen, Familie, Mobilität und Altersvorsorge. Dabei geht es nicht | |
unbedingt um Konsum, sondern um die Minderung von Existenzängsten. Das wird | |
sich auch zeigen, wenn in den Tarifrunden im Jahr 2019 die Gehälter für | |
rund 7,3 Millionen Beschäftigte neu ausgehandelt werden, darunter | |
Gepäckkontrolleure am Flughafen, Beschäftigte im öffentlichen Dienst, im | |
Einzelhandel, in der Gastronomie. | |
Nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit gehört zur unteren | |
Mittelschicht der Vollzeitbeschäftigten, wer weniger verdient als 3.209 | |
Euro brutto, das ist der Mittelwert für Vollzeitbeschäftigte in | |
Deutschland. Jeder zweite Arbeitnehmer beziehungsweise Arbeitnehmerin kommt | |
nicht über diesen Wert. Bei rund 2.130 Euro brutto im Monat, also etwa 12 | |
Euro in der Stunde, fängt sogar der statistische Niedriglohnbereich für die | |
Vollzeitjobber an. Im Niedriglohnbereich ackert etwa ein Fünftel der | |
ArbeitnehmerInnen. In der statistischen unteren Mittelschicht findet man | |
laut dem Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit zum Beispiel | |
BerufskraftfahrerInnen (2.405 Euro), AltenpflegerInnen (2.744 Euro), | |
PflegehelferInnen (rund 2.000 Euro), Bäckerei-VerkäuferInnen (1.718 Euro). | |
Alle Bruttoentgelte sind für Vollzeitkräfte gerechnet. | |
Ein Alleinstehender kommt mit einem Bruttogehalt von 2.500 Euro auf ein | |
Netto von rund 1.670 Euro. Das klingt erst mal nicht nach Armut. Aber diese | |
Gehaltssituation schafft Probleme, wenn man eine Familie ernähren oder | |
miternähren muss, wenn man in einem Ballungszentrum eine Wohnung sucht, | |
wenn man Geld sparen muss, weil die spätere gesetzliche Rente nicht höher | |
sein wird als Hartz IV, wenn man ein Auto braucht, weil man weitab vom | |
Schuss wohnt. | |
## Hohe Mieten oder Pendeln | |
Eine Rechnung: In Berlin, Düsseldorf, Augsburg und Köln kosten neu | |
angebotene Mietwohnungen laut dem Portal Immowelt rund 10 Euro netto kalt | |
der Quadratmeter. Eine vierköpfige Familie müsste für eine | |
85-Quadratmeter-Wohnung fast 1.100 Euro an Warmmiete berappen. Die Gerichte | |
gehen davon aus, dass es als wirtschaftliche Härte gilt, wenn mehr als 30 | |
Prozent des Nettoeinkommens in die Wohnkosten fließen. Wenn man das | |
Kindergeld mit einberechnet, müssten die Eltern ein Bruttogehalt von 4.800 | |
Euro erwirtschaften, damit dieses Limit nicht überschritten wird. | |
So weit die Zahlen. Sie bedeuten: Wenn einer der Partner nur Teilzeit oder | |
gar nicht arbeitet, kann sich ein Paar aus der unteren Mittelschicht eine | |
solche Wohnung nicht leisten. Die Familie muss ins Umland ziehen und die | |
Eltern müssen dann zur Arbeit pendeln. Das mehrstündige Pendeln, das | |
„Commuting“ gilt in der Glücksforschung als seelisch besonders belastend. | |
Schließlich wird in einer vollbesetzten Bahn oder im Pkw-Stau Stress | |
erzeugt und Lebenszeit verschwendet, die man ansonsten für die Familie, für | |
Freizeit und Sport nutzen könnte. | |
Die Wohnungsknappheit fördert aber auch die Angst vor Vertreibung und vor | |
Heimatlosigkeit. Dann nämlich, wenn man aus persönlichen Gründen umziehen | |
muss, weil die Familie sich vergrößert, weil eine Scheidung ins Haus steht, | |
weil ein Partner stirbt und die Wohnung zu groß und zu teuer wird. Außerdem | |
können Vermieter verkaufen, teuer modernisieren, Eigenbedarf anmelden. Wenn | |
Veränderungen oft in Notlagen münden, wirkt das Leben bedrohlich. | |
## Existenzielle Ängste | |
Die Vertreibungsangst ist eine existenzielle Furcht, aber noch zu toppen | |
durch die Zukunftsangst. ArbeitnehmerInnen erhalten regelmäßig von der | |
Rentenversicherung eine briefliche Auskunft über die zu erwartende Rente. | |
Es ist für viele ein düsterer Moment. Wie soll jemand motiviert sein, einen | |
Vollzeitjob etwa in der Pflege für 2.200 Euro brutto im Monat zu machen, | |
wenn am Ende eine Rente in Höhe von Hartz IV steht? | |
Gerade die schlecht bezahlten Jobs in der Dienstleistung verschleißen | |
körperlich wie mental und machen es für viele Beschäftigte unmöglich, in | |
Vollzeit bis zum regulären Renteneintrittsalter durchzuhalten. Die | |
Tatsache, dass man auf den viel besser bezahlten akademischen Stellen | |
leichter eine reguläre Rente ohne Abschläge erreichen kann als in einem | |
Verschleißberuf, wirkt doppelt ungerecht. | |
Welche Solidarität kann die Politik aber nun einfordern? Die | |
Mittelschichtslandschaft ist zerklüftet, auch durch individuelle | |
Schicksale. Das finanzielle Gefälle verläuft zwischen Erben, Nichterben, | |
Verheirateten, Alleinerziehenden, Gesunden, chronisch Kranken. Wer hier | |
EmpfängerIn sein soll, wer GeberIn, ist nicht genormt. Mit | |
Entlastungsrhetorik sollte man jedenfalls vorsichtig sein. Den Soli ganz | |
abzuschaffen, wäre das falsche Signal, auch eine Soli-Entlastung für 90 | |
Prozent der Steuerzahler, wie von der SPD akzeptiert, ist schon zu viel. | |
Die 20 Milliarden Euro könnte man gut gebrauchen für Wohnungsbauprojekte, | |
für die künftige Aufstockung kleiner gesetzlicher Renten, für die Erhöhung | |
der Pflegeentgelte. | |
Den Tarifrunden in der Dienstleistung gebührt mehr Aufmerksamkeit. Nicht | |
zuletzt aber müssen sich auch die Verbraucher an die eigene Nase fassen: | |
Wer faire Löhne will, muss auch bereit sein, faire Preise zu zahlen im | |
Handel, beim Versand, in der Gastronomie, beim Friseur. Zu welcher | |
gegenseitigen Solidarität die Mittelschichtmilieus bereit sind, anstatt | |
sich immer nur in Opferrollen zu überbieten – das ist vielleicht eine der | |
wichtigsten Fragen in der derzeitigen Sozialpolitik. | |
10 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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