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# taz.de -- Aus "30 Jahre taz": 1989: Wir waren dabei. Mehr nicht
> Am 9. November 1989 öffnen die Bürger der DDR die Berliner Mauer. Dann
> verkommt die Revolution schnell zur "Wende". Alles Flausen, was 1989 für
> die Besserung des Weltzustandes gedacht wurde?
Bild: Und wo warst du, als die Mauer fiel?
Wo warst du am 9. November 1989, als die Berliner Mauer fiel? Jedem, der
dabei war, fällt bei diesem Gesellschaftsspiel eine gute Geschichte ein.
Und wie immer, so gilt auch hier: Selbst wenn nicht wahr, so doch gut
erfunden. Die große weltgeschichtliche Umwälzung von 1989, die "Große
Erzählung", überkreuzt sich mit den vielen kleinen Erzählungen. Ob auf der
Straße oder ängstlich hinter der Gardine - wir, die ZeitgenossInnen von
damals, können heute sagen: Wir sind dabei gewesen.
Das wars aber auch schon. Die großen Ereignisse des Jahres 1989 haben in
Deutschland das historische Bewusstsein nicht umgepflügt. Zu Ende des
Jahres 1989 war für die öffentliche Meinung in den beiden deutschen Staaten
noch klar, dass in der DDR etwas Unerhörtes geschehen war, eine
demokratische Revolution, noch dazu keine steckengebliebene wie die von
1848 oder von 1918, deren Niederlage von vorneherein besiegelt war.
Auch als bei den Leipziger Montagsdemonstrationen des Herbsts 1989 sich der
entscheidende Parolenwechsel von "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk"
vollzog, hofften die DDR-Revolutionäre doch, im dann anlaufenden Prozess
der Einigung auf gleicher Augenhöhe mit der Bundesrepublik verhandeln zu
können und ein eigenständiges Gut einzubringen, eben die geglückte
demokratische Revolution.
Für den Fehlschlag dieser Hoffnung ist kein Ereignis kennzeichnender als
der vergebliche Versuch, eine gemeinsame Verfassung für die zukünftig
vereinte Republik zu erarbeiten. Das Unternehmen, durchgeführt von
demokratischen Oppositionellen der DDR und einer Reihe westdeutscher
Staatsrechtler, mündete in einem Verfassungstext, der zwei Grundelemente
der demokratischen Opposition in den realsozialistischen Ländern
Ostmitteleuropas und der DDR aufnahm: die Einarbeitung der
Bürgergesellschaft, der "Civil Society", als eigenständiger Akteur
gegenüber der Staatsmacht und der umfassende Bezug auf die Menschenrechte -
und nicht nur auf die Grundrechte der Deutschen. "Jeder schuldet Jedem die
Anerkennung als Gleicher", wie es im Entwurf des Verfassungstextes hieß.
Als Ursache für diesen Fehlschlag ist oft benannt worden, dass die
übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung den "Anschluss" ohne Wenn und Aber
einklagte. Sie sah in der Bundesrepublik die Antwort auf eine doppelte
Forderung: die nach rascher Verbesserung ihrer materiellen
Lebensbedingungen und die nach Einführung eines demokratischen
Rechtsstaats. Zweifellos war die Forderung nach der Währungseinheit, die
der politischen Einheit präludierte und die wider alle ökonomische Vernunft
1990 beschlossen wurde, von den Einwohnern der DDR gewünscht. Die ultimativ
vorgebrachte Losung lautete: Entweder die D-Mark kommt zu uns oder wir
kommen zur D-Mark.
Aber rechtfertigt dieser historische Befund die Dampfwalz-Methode, mit der
alles, was in 40 Jahren DDR entwickelt worden war, plattgedrückt wurde?
Einschließlich des Stolzes der DDR-Bürger auf ihre Revolution, die rasch
zur "Wende" verkam?
Kein Theoretiker hat eindringlicher als Jürgen Habermas schon 1990 das
Schicksal der demokratischen Revolution in der DDR und in Ostmitteleuropa
beschrieben. Er erkannte in ihr eine "rückspulende Revolution, die den Weg
freimacht, um versäumte Entwicklungen nachzuholen". Es artikuliert sich der
Wunsch, an das Erbe der bürgerlichen Revolutionen und
gesellschaftspolitisch an die Verkehrs- und Lebensformen des entwickelten
Kapitalismus, insbesondere an die EG, Anschluss zu finden. Für Habermas war
augenfällig, dass die demokratischen Revolutionen in der DDR und in
Ostmitteleuropa durch einen "fast vollständigen Mangel an innovativen,
zukunftsweisenden Ideen" gekennzeichnet waren.
Dagegen wurde später, zum Beispiel von dem Historiker Timothy Garton Ash,
eingewandt, das Neue an den Revolutionen von 1989 liege nicht so sehr in
deren Zielen, sondern in den praktizierten Methoden. Grundlegend sei deren
durchgehalten gewaltfreier Charakter gewesen, die Mischung aus
Massenaktionen des zivilen Ungehorsams und der Bereitschaft, in
Verhandlungen mit der Staatsmacht Kompromisse einzugehen und den
Realsozialisten einen gangbaren Ausweg zu zeigen. So richtig diese Analyse
ist, sie vergisst doch, wie genau Mittel und Ziele zusammenhängen. Im Fall
der polnischen Solidarnosc beispielsweise, wo erstmals 1980/81 die
Strategie der "sich selbst begrenzenden" Revolution angewandt wurde,
beschloss die Gewerkschaft gleichzeitig als Ziel die "sich selbst
verwaltende" Republik, mit der Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben
als Kernstück. Nach 1990 wurde diese Programmatik als pure Taktik gegenüber
den realsozialistischen Machthabern bezeichnet, und dies gerade von einer
Reihe von Intellektuellen, die sich zur Zeit der legalen Solidarnosc
1980/81 dem Solidarnosc-Programm verschrieben hatten. Jetzt, nach 1990,
galt nur noch die Minimalposition "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz".
Zweifellos waren die Ideen eines "Dritten Weges" zwischen Kapitalismus und
realem Sozialismus 1989 diskreditiert, nicht zuletzt wegen der tiefen
ökonomischen Krise im sowjetischen Hegemonialbereich. Aber war Ende 1989
plötzlich jeder Gedanke an die Arbeiterselbstbestimmung weggefegt? Hatte
sich der ungarische Theoretiker Ferenc Fehér nur schlicht geirrt, als er
prognostizierte, jeder Versuch der Privatisierung von Staatsbetrieben hätte
mit dem Widerstand der ArbeiterInnen zu rechnen? Die Einförmigkeit, mit der
über den "Dritten Weg" das historische Urteil verkündet wird, stimmt
bedenklich. Sie hat den strengen Geruch einer Propagandaformel, mit der
jede Alternative zum Kapitalismus als erledigt abgetan werden soll.
II
Wer die weltweiten Kriege und Bürgerkriege der letzten 20 Jahre, wer den
Ausbruch nationalistischer Leidenschaften auch in Europa selbst miterlebt
hat, der kann es kaum noch nachvollziehen, welche heißen Hoffnungen das
Jahr 1989 begleiteten. Mit dem Ende der ost-westlichen Systemkonfrontation
und des Kalten Krieges sah man auch das Ende der Militärblöcke
heraufziehen. Schluss mit Nato und Warschauer Pakt. An deren Stelle sollte
in Europa ein System umfassender Kooperation treten. Wie auch global ein
Zeitalter des Friedens avisiert wurde, mit den Vereinten Nationen als
effektiver Friedensmacht. Die Schrift eines Königsberger Philosophen war
plötzlich en vogue. Deren Titel nahm den Namen einer Kneipe in der Nähe des
heimatlichen Friedhofs ironisch auf: "Zum ewigen Frieden". Immanuel Kant,
der Verfasser der Schrift, war kein Utopist. Er glaubte, auch eine Welt
voller Teufel, sofern sie nur rationalen Argumenten aufgeschlossen wäre,
würde aus wohlverstandenem Eigeninteresse seine Vorschläge zur
Friedenssicherung aufnehmen. Auch die Friedensfreunde des Jahres 1989
machten realistische Vorschläge. Jetzt, wo die Blockade durch die
Konkurrenz zweier Supermächte, der USA und der Sowjetunion, beseitigt war,
sahen sie die Chance, die einvernehmliche Bearbeitung der globalen Probleme
in Angriff zu nehmen: Stärkung der UNO-Institutionen, Errichtung
internationaler Regime im Bereich des Umweltschutzes und der
Ressourcenschonung, eine neue, gerechtere Ordnung der internationalen
Wirtschaftsbeziehungen, effektive internationale Institutionen für den
Schutz der Menschenrechte. All diese Reformen entsprächen den Interessen
jedes Mitglieds der Staatengemeinschaft. Auf das Jahr der Hoffnung 1989
folgten die Jahre der Bitternis. Konflikte, die zur Zeit des Kalten Krieges
von den Supermächten unter Kontrolle gehalten worden waren, brachen jetzt
aus. Statt der Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen der
Rekurs auf militärische Gewalt, statt des Multilateralismus
gleichberechtigter Staaten der Unilateralismus der USA als führender
Militärmacht. Statt Entschärfung von Krisen der vorsorgliche Militärschlag,
der "preemptive strike". Das Freiheitspathos des Jahres 1989 wurde jetzt
von Präsident George W. Bush in den Dienst einer verlogenen Propaganda im
"Krieg gegen den Terrorismus" gestellt.
Alles Flausen, was 1989 für die Besserung des Weltzustandes gedacht wurde?
So sehen es die Anhänger der "realistischen Schule" in den
Staatenbeziehungen. Hier, meinen sie, gilt nur der Naturzustand, das
Wolfsgesetz. Aber erfreulicherweise wird diese Einladung zum Zynismus nicht
überall begeistert aufgenommen. Das Beispiel des langen, letztlich
erfolgreichen Kampfs um die Errichtung eines internationalen
Strafgerichtshofs zeigt, dass die Ideen von 1989 nicht allesamt mausetot
sind. Baltasar Gracián, ein spanischer Jesuit des 17. Jahrhunderts, hat uns
eine Anleitung zur Weltklugheit hinterlassen. In ihr schlägt er vor, das
Wort Enttäuschung auseinanderzuschreiben: Ent-Täuschung. Getäuscht haben
sich die Protagonisten des Jahres 1989 hinsichtlich der Mühen des Weges.
Hinsichtlich ihres Ziels brauchen sie sich nicht zu ent-täuschen.
26 Sep 2008
## AUTOREN
Christian Semler
## TAGS
Oskar Lafontaine
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