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# taz.de -- Zum Gedenken an Rudi Dutschke: Sein Tod war das Ende einer Epoche
> Zwischen träumerischer Utopie, marxistischer Kultur und nüchterner
> Kritik: Ein Pariser Weggefährte erinnert sich an Rudi Dutschke.
Bild: Der perfekte Repräsentant des neuen Deutschland, das sich von seiner Naz…
Am Abend des 9. Oktober 1967, als ich die Nachricht vom Tod Che Guevaras
erhielt, rief ich Rudi Dutschke an. Was wir im Einzelnen besprachen, weiß
ich nicht mehr. Ohne Zweifel aber markierte für uns, die wir vom
Vietnamkrieg besessen waren – in dem die Bombenangriffe zu jenem Zeitpunkt
ihren Höhepunkt erreicht hatten und die Zahl der Marinekämpfer über 400.000
–, der Tod Guevaras das Ende dieser utopischen Epoche, in der es laut
seiner „Botschaft an die Trikontinentale Konferenz“ 1967 notwendig gewesen
wäre, „zwei, drei, viele Vietnams“ zu schaffen.
Che Guevara verkörperte für uns damals einen anderen Weg, als ihn die
sowjetischen Stalinisten oder die Maoisten in China gingen. Aber wir lagen
falsch. Und zwar erheblich.
Che war ein „Partisan des Autoritarismus mit Leib und Seele“, wie der
französische Intellektuelle und ehemalige Weggefährte Guevaras, Régis
Debray, es in seiner Autobiografie schrieb. Er spannte selbst die
kubanische Jugend für seine Zwecke ein. Vor allem aber war er
verantwortlich für den Tod einer sehr großen Zahl von Menschen, war er doch
für die Verurteilung und Hinrichtung von Widersachern zuständig. Er war es,
der ab 1960 die ersten sogenannten Umerziehungslager einrichtete, tropische
Äquivalente der sowjetischen Gulags oder der Laogai, der chinesischen
Arbeitslager.
Das alles wussten wir damals nicht. Wir waren und blieben gefesselt von der
Ikone, obwohl wir uns hätten hüten sollen vor einem Mann, der sagte, er
wolle einen „neuen Menschen“ erschaffen – einen neuen Menschen, der sodann
in eine Form gepresst würde, die ihm helfen sollte, mit einer entfremdeten
Vergangenheit reinen Tisch zu machen. Gerade Rudi hätte auf der Hut sein
sollen, hatte er diese Ideologie des „neuen Menschen“ doch wenige Jahre
zuvor in der DDR erlebt, die er kurz vor dem Mauerbau verlassen hatte.
## Rudi mit der ewigen Lederjacke
Ein Jahr nach Guevaras Tod gab Dutschke seinem ältesten Sohn den Vornamen
Che, wenngleich er diesem noch den Namen eines der Propheten des Alten
Testaments voranstellte: Hosea. Den christlichen Sozialismus seiner Jugend
hatte nicht vergessen: „Ich bin ein Sozialist, der in der christlichen
Tradition steht. Ich bin stolz auf diese Tradition. Ich sehe das
Christentum als spezifischen Ausdruck der Hoffnungen und Träume der
Menschheit.“
Für mich verkörperte Rudi mit seiner ewigen Lederjacke, seinen dicken
Pullovern und seiner näselnden Stimme, mit seinen rednerischen und
pädagogischen Talenten dermaßen gut die neue deutsche Bewegung, dass auch
sein Tod das Ende einer Epoche markierte. Er war der perfekte Repräsentant
des neuen Deutschland, das sich von seiner Nazivergangenheit, seinen Vätern
zu lösen begann.
Dutschke kam gleichermaßen aus dem Osten, wo er geboren worden war, wie aus
dem Westen, wo er es geschafft hatte, sich politisch zu verwirklichen. Er
war fest verwurzelt in der unterbrochenen Tradition des deutschen
demokratischen Sozialismus, aber zugleich offen für die Experimente der
neuen amerikanischen Bewegungen.
In seinem Wunsch nach einer „Organisation ohne Berufspolitiker, ohne
Apparat“ kehrte er mit Anleihen bei Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zur
radikalen Utopie zurück, doch seine Erfahrungen mit der DDR machten ihn
sensibler für das, was später als Totalitarismus bezeichnet wurde.
Aber: Auch wenn er sich gelegentlich in Utopien und Träumereien verlor, hat
Dutschke nie die geringste Nachsicht gegenüber dem Terrorismus gezeigt.
Nach der Ermordung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von
Drenkmann durch die Bewegung 2. Juni schrieb er in einem Brief an den
Spiegel: „Die Ermordung eines antifaschistischen und sozialdemokratischen
Kammer-Präsidenten ist aber als Mord in der reaktionären deutschen
Tradition zu begreifen.“ Und im Dezember 1978 unterstrich er nochmals:
„Individueller Terror aber ist massenfeindlich und antihumanistisch. Jede
kleine Bürgerinitiative, jede politisch-soziale Jugend-, Frauen-,
Arbeitslosen-, Rentner- und Klassenkampfbewegung in der sozialen Bewegung
ist hundertmal mehr wert und qualitativ anders als die spektakulärste
Aktion des individuellen Terrors.“
## Ein modellierbarer Diskurs
Zweifelsohne brachte das Attentat, dem er zum Opfer fiel, ihn nicht dazu,
den „bewaffneten Kampf“ in dessen terroristischer Spielart zu unterstützen.
Denjenigen, die ihm vorwarfen, ein intellektueller Wegbereiter des
Terrorismus zu sein, entgegnete er, dass dieses Attentat ein „mentales,
politisches und psychosoziales Klima der Unmenschlichkeit“ geschaffen habe.
Für ihn führte „individueller Terror zum Despotismus und nicht zum
Sozialismus“.
Selbst wenn heute einige von Dutschkes Reden und Äußerungen einem anderen
Zeitalter entsprungen zu sein scheinen, in dem Utopien mit der
Schwerfälligkeit marxistischer Phraseologie flirteten, ist die
Modellierbarkeit seines Diskurses bemerkenswert. Inspiriert von den
Philosophen Herbert Marcuse und André Gorz, bot er die heute bekannte
Strategie eines „langen Marsches durch die Institutionen“ an. Das Ziel
dieses „langen Marsches“ war es, Gegeninstitutionen aufzubauen. Befreite
Zonen in einer bürgerlichen Gesellschaft, die den Zonen entsprächen, die
die Partisanen Maos in China während des langen Bürgerkriegs der
chinesischen Kommunisten befreit hatten.
Auch wenn Dutschke von der marxistischen Kultur beeinflusst war, verstand
er es, sich sehr schnell eine kritische, modernere Lektüre zu eigen zu
machen, die von der Frankfurter Schule inspiriert war. Es ist kein Zufall,
dass er schon 1964 nach Berkeley gegangen war, um dort Vorlesungen von
Herbert Marcuse zu hören. Das geschah genau zu dem Zeitpunkt, als an dieser
amerikanischen Universität das „Free Speech Movement“ begann – eine
Bewegung für Meinungsfreiheit, von der die Berliner Bewegung zahlreiche
Aktionsformen übernahm.
Zwischen der amerikanischen und der bundesdeutschen Gesellschaft gab es zu
jener Zeit viele Ähnlichkeiten. Auf der einen Seite die autoritären
Strukturen der Bundesrepublik – immer noch geprägt von der Verstrickung
eines großen Teils der herrschenden Klasse mit dem Nazismus –, auf der
anderen die von Marcuse als „eindimensional“ beschriebene Gesellschaft, in
der die Demokratie nichts anderes als ein autoritäres Regime sei, das
seinen Charakter verschleiert.
## Die Notwendigkeit des „revolutionären Subjektes“
Marcuse war in Frankreich vor 1968 weitgehend unbekannt. Anders als in
Deutschland, wo der Einfluss der Frankfurter Schule stark blieb – besonders
an der Frankfurter Universität, wo Adorno in diesen Jahren noch
unterrichtete. Marcuse war erster Bezugspunkt des Sozialistischen Deutschen
Studentenbunds (SDS) sowie die höchste Instanz zur Legitimation eines
Aufstands. Er präsentierte philosophische Argumente in der Tradition des
Rechts auf Widerstand in einem Kontext, der es erleichterte, sie sich zu
eigen zu machen. In einem Schreiben an Rudi Dutschke betonte Marcuse jedoch
den sektiererischen und unrealistischen Blickwinkel vieler Studenten.
Später verurteilte er eindeutig den Terrorismus der RAF – und das war auch
die Position von Rudi Dutschke.
Indem er die Thesen von Marcuse aufgriff, entlarvte Dutschke das „falsche
Bewusstsein“ der Massen, die er für unfähig hält, die strukturelle Gewalt
des Staats wahrzunehmen. Daraus folgt die Notwendigkeit der Intervention
eines „revolutionären Subjektes“, das bereit ist, den langen Marsch durch
die Institutionen anzutreten. Am 3. Dezember 1967 erklärte Dutschke in
einem Fernsehinterview, er lehne das parlamentarische System ab. Es sei
unnötig, repräsentiere nicht die „wahren Interessen unserer Bevölkerung“,
trete nicht in einen kritischen Dialog und halte das Volk klein.
Dutschke war für die Errichtung einer Räterepublik, inspiriert von den
Räterepubliken von Luxemburg und Liebknecht am Ende des Ersten Weltkriegs.
Zwar war sein Blick auf die Entwicklungen im Westen gerichtet. Dennoch warf
er der westeuropäischen Linken vor, die Bevölkerungen Osteuropas
ausgeschlossen zu haben. In einem Interview mit dem französischen
Historiker und Osteuropa-Experten Jacques Rupnik im Jahre 1978 erklärte er,
dass das entscheidende Ereignis des Jahres 1968 nicht die Proteste in Paris
gewesen seien – von denen er erst auf seinem Krankenhausbett erfuhr –
sondern Prag, wo der Versuch, den Sozialismus menschlicher zu machen,
das absolute Gegenteil der von der französischen Linken verteidigten
stalinistischen Linie dargestellt habe.
1979 machte Rudi aktiv Wahlkampf für die Grüne Liste in Bremen und wurde
zum Delegierten für den Gründungsparteitag der Grünen gewählt. Am 24.
Dezember 1979 starb er und konnte seine Ämter nicht mehr wahrnehmen. Als
der Gründungskongress der Grünen im Januar 1980 stattfand, blieb ein
symbolischer Platz am Tisch leer.
Übersetzung: Barbara Oertel und Johanna Roth
13 Apr 2018
## AUTOREN
Jean-Marcel Bouguereau
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