# taz.de -- Armin Nassehis Buch „Gab es 1968?“: Die große Inklusion | |
> 1968 führte zur Einbeziehung ausgeschlossener Akteure in die | |
> Gesellschaft. Das habe den Konservatismus gerettet, schreibt Armin | |
> Nassehi – ein Auszug. | |
Bild: Schüler und Studenten protestieren am 15. Mai 1968 in Düsseldorf gegen … | |
Wer sich an „1968“ erinnert, kann zweierlei in den Blick bekommen: zum | |
einen die kurze sichtbare Phase eines explizit linken, kaum mit der | |
politischen Ordnung der Bundesrepublik kompatiblen Protests, der | |
tatsächlich organisatorisch schnell in sich zusammenfiel; zum anderen eine | |
implizit linke Veränderung in der Gesellschaft, die die deutsche | |
Gesellschaft bis heute prägt und das wirksame Erbe der Generationslage | |
„1968“ darstellt. | |
Als wirksames Erbe haben sich Inklusionsschübe vollzogen, in deren Folge es | |
zu einer Generalinklusion der Bevölkerung kam. Dadurch ist es, so meine | |
These, in allen westeuropäischen Ländern zu einem mehr oder weniger | |
merklichen impliziten Linksruck gekommen – nicht explizit links gemäß der | |
Vorstellung der radikalen Revolutionsperspektive des kleinen harten Kerns | |
von „1968“, wonach die Gesellschaft ein umbaubares Objekt darstellt. Doch | |
die Inklusionsdynamik hat durchaus zu einer diskursiven Beteiligung | |
größerer Gruppen geführt, und es kam zu einer gruppenübergreifenden | |
Prämiierung von Abweichung allein deshalb, weil die „Arbeitsteilung“ von | |
Schichten und Milieus durcheinandergeriet. | |
So plausibel das erscheinen mag, so unbeantwortet ist die Frage danach, was | |
das mit einer impliziten Linken zu tun hat. Nachdem weder Bildung noch | |
kulturelle und künstlerische Betätigung, weder der Zugang zu Massenmedien | |
noch die Möglichkeit von Fernreisen und nicht zuletzt Konsum jenseits des | |
Notwendigen ausschließlich den bürgerlichen Schichten vorbehalten war, | |
pluralisierte sich Teilhabe und Mitsprache. | |
Zugleich kam es zu erheblichen Komplexitätssteigerungen industrieller und | |
planerischer Intelligenz in Kombination mit weltweiten Verflechtungen und | |
wachsenden Interdependenzketten, also zu einem Trend dahin, dass sich | |
Eindeutigkeiten auflösten und es stets so etwas wie eine zweite Version | |
einer möglichen Interpretation gab. Die daraus folgende Verstärkung des | |
deliberativen Elements öffentlicher Kommunikation hat tatsächlich eine | |
implizite oder latente Form des Linken hervorgebracht. Inklusionsschübe | |
sorgen nicht nur für eine Angleichung von Lebenslagen und Lebenschancen, | |
etwa im Sinne von Helmut Schelskys „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“, | |
sondern eben auch als Pluralisierung von Möglichkeiten und Emanzipation des | |
Neuen. Solche Phasen prosperierender Kommunikationsmöglichkeiten erzeugen | |
fast automatisch das, was ich mit diesem Begriff des implizit Linken | |
belegen möchte. | |
Solche Inklusionsschübe haben es ermöglicht, legitime Sprecherpositionen | |
auszuweiten. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons hat schon in den | |
1960er Jahren formuliert, Modernisierungs- und Differenzierungsprozesse | |
bedeuteten vor allem die Inklusion von zuvor marginalisierten Gruppen als | |
Vollmitglieder der Gesellschaft. Der Testfall für Parsons waren übrigens | |
Schwarze, the Negro Americans, wie es damals noch hieß – für ihn der | |
Lackmustest einer vollständigen Modernisierung der Gesellschaft, | |
geschrieben in einer Zeit, in der in vielen Bereichen noch sogenannte | |
„Rassentrennung“ herrschte – rechtlich, politisch, kulturell, materiell. | |
Kennzeichnend für westliche Industrieländer nach dem Zweiten Weltkrieg | |
waren nicht nur jene beschriebenen Inklusionsschübe, sondern vor allem auch | |
eine „Politisierung von Inklusion“. Man denke etwa an die Förderung von | |
Bildungsmöglichkeiten für bildungsferne Schichten, an die Organisierung | |
sozialen Aufstiegs, an die wohlfahrtsstaatliche Idee angemessener | |
Lebenslagen und nicht zuletzt an einen kalkulierbaren Lebenslauf. | |
In der Generationslage der 68er kam es, vor allem in den 1970er Jahren, zu | |
einer Erweiterung sozialer Hilfe von der reinen kompensatorischen | |
Geldzahlung zur lebensweltorientierten sozialen Arbeit und | |
Sozialpädagogik, typische Berufe jener sozialen Aufsteiger, die in ihren | |
Familien die erste Generation mit einem Hochschulabschluss darstellten. Die | |
Akademisierung der sozialen Arbeit ist Ausdruck der Politisierung von | |
Inklusionsschüben zu Inklusionsstrategien, die gleichzeitig mit der | |
Individualisierung von Lebenslagen korrelierte. | |
Damit wird der Staat zum Subjekt und Objekt von Ansprüchen, denn die | |
etablierten Formen der Inklusionshilfe erzeugen Anspruchsberechtigungen, | |
die nicht auf Gnade, Freiwilligkeit und Dankespflichten beruhen, sondern | |
rechtliche Ansprüche gründen, man denke etwa an das 1971 in Kraft getretene | |
„Bundesausbildungsförderungsgesetz“ (BAföG). Erst mit dem BAföG etablier… | |
sich ein einklagbarer Rechtsanspruch auf Förderung der schulischen, | |
beruflichen und akademischen Ausbildung zur Kompensation von | |
Chancenungleichheit. Soziale Ungleichheit, Bildungsungleichheit wurde | |
staatlicherseits nicht einfach als naturwüchsiges Ergebnis | |
gesellschaftlicher Evolution (oder gar natürlicher Differenzierungen) | |
angesehen, sondern zum Gegenstand kollektiv bindender, heißt politischer | |
Entscheidungen gemacht. | |
Man kann diese Politisierung von Inklusion als eine Art Übersetzung | |
politischer Protestformen in staatliche Inklusionsvermittlung bezeichnen. | |
Die sozialen Bewegungen der westlichen Moderne – Arbeiterbewegung, | |
Bürgerrechtsbewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung, | |
Homosexuellenbewegung usw. – haben interessanterweise nicht zu | |
großflächigen Massenprotesten geführt, sondern ganz im Gegenteil zu | |
inklusionsfördernden Reaktionen des Staates, der damit den Bewegungen | |
zugleich recht gab und ihren unkontrollierbaren Protest unterminieren | |
konnte. Der Wohlfahrtsstaat westlichen Typs ist in der Lage, visionären | |
Protest in die Form des Verwaltungsakts zu bringen. Damit war womöglich die | |
Protestgeneration der 1960er Jahre selbst ein Produkt der Folgenlosigkeit | |
von Massenprotest im Wohlfahrtsstaat bei gleichzeitiger Anerkennung seiner | |
politisierbaren und erreichbaren Ziele. | |
Die Politisierung der Inklusion ist das, was ich hier als das implizit | |
Linke bezeichnen möchte. Es ist links, weil es die egalitären, auf soziale | |
Ungleichheit zielenden Formen von Mitgliedschaft und Generalinklusion von | |
Bevölkerungen offensiv angeht und sich mit jedem Schritt in Richtung | |
Generalinklusion die Unmöglichkeit einhandelt, solche Formen wieder | |
zurückzudrehen. Und es ist implizit links, weil es für die Verfolgung | |
solcher Politik keiner explizit linken Semantik und Programmatik bedarf. | |
Das führt denn auch dazu, dass eine prinzipielle Orientierung an | |
Inklusionspolitik auch von nicht sozialdemokratischen politischen Akteuren | |
nicht mehr vollständig vermieden werden kann. | |
Zwar wurden die politischen Konflikte auf dem Feld inklusionspolitischer | |
Themen geführt – aber letztlich mussten sich vor allem konservative Akteure | |
am Ende geschlagen geben und selbst Strategien der Inklusionspolitik | |
verfolgen. Dass die Inklusionsschübe nach dem Zweiten Weltkrieg schlicht | |
eine normative Kraft des Faktischen erzeugt haben, lässt sich wohl kaum | |
bestreiten. Es war zugleich Ursache, aber auch Effekt jener | |
Inklusionsschübe, die die Generationslage der 68er ausgemacht haben. | |
Vielleicht wird vor diesem Hintergrund deutlich, wie doppelt merkwürdig und | |
geradezu paradox es erscheint, wenn ein derzeitiges Selbstbewusstsein | |
konservativer Politiker sich darin ausdrücken will, „1968“ endlich hinter | |
sich zu lassen und loszuwerden. In aller Vorsicht formuliert: Vielleicht | |
ist „1968“ als Generationslage bei Konservativen und Liberalen noch viel | |
wirksamer gewesen als bei Sozialdemokraten, die von Ende der 1960er bis | |
Anfang der 1980er die Agenda bestimmt haben. | |
Gerade der Konservatismus hat sich in Deutschland pluralisiert, nach Westen | |
geöffnet und ist schichtendurchlässiger geworden. Diejenigen, die die | |
Sozialdemokratisierung der CDU beklagen, haben völlig recht: Die | |
Inklusionsschübe gesellschaftsstruktureller Natur haben vor niemandem | |
haltgemacht, auch vor ihnen nicht. Das ist das implizit Linke, das mit dem | |
explizit Linken wenig zu tun hat. | |
Dass es dem Wohlfahrtsstaat nicht gelungen ist, ein charismatisches | |
Narrativ zu entwickeln, könnte mit diesem Verhältnis von implizit und | |
explizit Linkem zu tun haben. Das Fehlen einer charismatischen Programmatik | |
des Wohlfahrtsstaates und der Politisierung von Inklusionsansprüchen bringt | |
paradoxerweise zum Ausdruck, dass die Funktion der Inklusionspolitik | |
aufgeht: Versöhnung mit den Institutionen der Gesellschaft bei | |
gleichzeitiger Individualisierung von Unzufriedenheit. | |
War „1968“ eine linke Bewegung? Ja, das war sie, aber anders als gedacht. | |
Die ortlosen Utopien eines radikalen Gesellschaftsumbaus sind semantische | |
Ikonen. Der Sound von Rudi Dutschke und die eschatologische | |
Selbstermächtigung des harten Kerns sind das Ergebnis eines | |
Freiheitsschubes, einer Möglichkeit der Abweichungsverstärkung. Sie sind | |
nicht selbst der Schub und auch nicht die entscheidende Abweichung. Dafür | |
waren sie zu kurz und zu laut. Aber sie bleiben Erzählanlässe, deren Gehalt | |
mit der Erzählung verschwindet. Das lässt sich in der Unterscheidung einer | |
implizit linken Veränderung der Gesellschaft von dem explizit linken | |
Erzählanlass aufdecken. Also: Ja, es gab 1968. Es war das Ergebnis einer | |
impliziten linken gesellschaftlichen Evolution, die erst die | |
konsequenzfreie Rede von der explizit linken Revolution möglich gemacht | |
hat. Deren Anfänge aber liegen nicht dort, wo üblicherweise gesucht wird. | |
16 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Armin Nassehi | |
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