# taz.de -- Betrachtungen zum Charakter des 1. Mai: Aus der Umlaufbahn geworfen | |
> Was ist Revolution? Die autonome Neudefinition von Regeln? Zum | |
> bevorstehenden internationalen „Kampftag der Arbeiterklasse“ lohnt der | |
> Rückblick. | |
Bild: Der Kampf für Freiheit muss immer weiter fortgeschrieben werden | |
Auch in diesem Jahr 2018 rufen verschiedenste Gruppen dazu auf, für einen | |
„revolutionären 1. Mai“ auf die Straße zu gehen. Reibereien mit der Poliz… | |
sind dabei oftmals nicht unerwünscht. Aber was genau ist eigentlich eine | |
„Revolution“? Und was der „1. Mai?“ | |
Letzteres hierzulande zu allererst ein gesetzlicher Feiertag. Ein Erfolg | |
also der kämpferischen Arbeiterbewegung – so könnte man meinen. Indes, es | |
waren die Nationalsozialisten, die den 1. Mai als „Nationalfeiertag des | |
deutschen Volkes“ 1933 verstaatlicht hatten. Noch länger zuvor, in den | |
Jahren 1856 und 1886, waren es Arbeiterorganisationen in Australien und den | |
USA, die am 1. Mai für die Einführung eines Achtstundentags demonstrierten. | |
Die Forderung nach Arbeitszeitreduzierung, nicht eben revolutionär, aber | |
doch eben gut reformistisch. Aber was hat es dann eigentlich genau mit dem | |
1. Mai und dem Begriff der Revolution auf sich? | |
Ausgerechnet diese Woche trafen sich unter viel Pomp in Washington die | |
umstrittenen Präsidenten jener Nationen, die zuerst eine Revolution | |
erfuhren, Donald Trump und Emmanuel Macron. Wir erinnern uns: Am 4. Juli | |
1776 wurde mit der „Declaration of Independence“ die US-amerikanische | |
Revolution besiegelt, am 14. Juli 1789 brach in Paris die Französische | |
Revolution aus. Seit Längerem weist die Begriffsgeschichte gern darauf hin, | |
dass der Ursprung des Begriffs in der astronomischen Wissenschaft liegt. Er | |
bezeichnete ursprünglich den Umlauf der Himmelskörper, um spätestens 1688 | |
in England mit der „Glorious Revolution“ seinen heutigen Sinn zu gewinnen. | |
Eine Revolution sei – wie Wikipedia so treffend schreibt, eine „meist durch | |
militante Mittel, seltener auf friedlichem Wege erzwungene grundlegende | |
Änderung einer bestehenden staatlichen Ordnung“. | |
Es war jedoch keine geringere als die Theoretikerin Hannah Arendt, die | |
darauf hingewiesen hat, dass die amerikanische Revolution mehr als zwanzig | |
Jahre vor der Französischen Revolution stattfand. Und dass ihrer Meinung | |
nach die amerikanische Revolution tiefer ging, da sie nicht nur die | |
„Befreiung von Unterdrückung“, sondern vor allem auch die | |
Institutionalisierung von Freiheit anstrebte – „Constitutio Libertatis“. | |
## Frauen und Schwarze waren der Revolution egal | |
So garantierte die erste Verfassung der USA, die Unabhängigkeitserklärung | |
von 1776, „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“. Dass dies für die | |
versklavten Schwarzen nicht galt, wollte Arendt allerdings nur widerwillig | |
einsehen. Aber auch die Französische Revolution mit ihrem Slogan „Liberté, | |
Egalité, Fraternité“ tat sich zum Beispiel mit dem Schicksal und der | |
Gleichberechtigung von Frauen schwer. Frauen erhielten in Frankreich das | |
Wahlrecht erst 1936. | |
So stimmig also die Definition von „Revolution“ als „meist durch militante | |
Mittel, seltener auf friedlichem Wege erzwungene grundlegende Änderung | |
einer bestehenden staatlichen Ordnung“ sein mag, so wenig ermisst sie doch | |
das, was sich viele von einer „Revolution“ erhoffen. Oder gar befürchten. | |
Tiefer geht da eine neue Studie von Gunnar Hindrichs. Der Autor lehrt | |
Philosophie in Basel und hat letztes Jahr das Buch „Philosophie der | |
Revolution“ veröffentlicht. Er betont, dass Regeln keine vorgefundene | |
Gegebenheiten darstellen, sondern von Menschen gesetzt und veränderbar | |
sind. Es zeigt sich dann, dass der Begriff der Revolution darauf zielt, | |
„Regeln von selbst neu zu setzen“. „Und etwas von selbst setzen zu könne… | |
erfordert“, so Hindrichs, „die Autonomie der Setzung“, eine Autonomie der | |
Subjekte, die wiederum nicht naturgesetzlich erklärt werden kann. | |
Karl Marx – sein zweihundertster Geburtstag wird am 5. Mai begangen – | |
drückte das 1843 in seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ so | |
aus: Es geht letztlich darum, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der | |
Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein | |
verächtliches Wesen ist“. Weder die amerikanische, noch die Französische, | |
noch die russische und schon gar nicht die chinesische Revolution haben dem | |
freilich entsprochen. | |
## Aufforderung, vor allem sich selbst zu verändern | |
An diesem Ungenügen setzt Hindrichs an, wenn er Michael Walzers Studie über | |
den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten als der ersten Freiheitserzählung | |
unserer Kultur einer tiefgreifenden Kritik unterzieht. Walzers exzellenter, | |
1988 auf Deutsch erschienener Essay „Exodus und Revolution“ setze nämlich | |
fehlerhaft „Befreiung“ mit „Revolution“ gleich. Für diese Behauptung b… | |
Hindrichs ein steiles theologisches Argument: Nach dem Auszug aus Ägypten | |
offenbart sich gemäß der Bibel der befreiende Gott mit seinem Namen: „Ich | |
werde sein, der ich sein werde“ – so im zweiten Buch Mose 3, 14. | |
Aus der Gleichzeitigkeit von Bundesschluss und rätselhaftem, auf die | |
Zukunft verweisenden Gottesnamen schließt Hindrichs, dass die Geschichte | |
nach vorne offen, dass sie unabgeschlossen ist und daher jede je erreichte | |
Befreiung eines weiteren Fortgangs zum Reich der Freiheit bedarf. | |
Ist es das, was Karl Marx, der revolutionäre Denker par excellence, will, | |
wenn er in den Thesen über Feuerbach fordert, dass die Erzieher, also die | |
LehrerInnen der Revolution, selbst erzogen werden müssen? | |
Dann aber kann das Postulat einer revolutionären Veränderung der | |
Verhältnisse nur zu einen unendlichen Regress führen oder eben doch dem | |
entsprechen, was Hindrichs ausschließen wollte: einer von außen | |
beobachtbaren, evolutionären Veränderung der Verhältnisse gemäß der | |
Entwicklung von Produktivkräften, Produktions- und Klassenverhältnissen. | |
Wenn aber genau das als „Revolution“ ausgeschlossen werden soll, bleibt | |
keine andere Möglichkeit, denn Marxens dritte These zu Feuerbach als eine | |
Forderung an seine LeserInnen zu verstehen – als Aufforderung, vor allem | |
sich selbst (revolutionär!) zu verändern. | |
## Nicht mehr als der Ausdruck guten moralischen Sinns | |
Spätestens hier zeigt sich eine überraschende Parallelität zwischen den | |
ansonsten als gegensätzlich beurteilten Denkern Kant und Marx. | |
Immanuel Kant lebte von 1724 bis 1804 und verbrachte den größten Teil | |
seines Lebens ausschließlich in Königsberg als Untertan des zwar | |
aufgeklärten, aber nichtsdestoweniger autoritären Absolutismus Preußens. In | |
den letzten Lebensjahren Kants regierte in Preußen Friedrich Wilhelm II., | |
der in Abwehr der Französischen Revolution einen Zensur- und | |
Überwachungsstaat diktierte. | |
Mithin war auch für einen freiheitsliebenden Aufklärer Vorsicht angebracht. | |
Eine der letzten veröffentlichten Schriften Kants erschien 1798, „Der | |
Streit der Fakultäten“. | |
Dort lesen wir über die Französische Revolution: „Die Revolution eines | |
geistreichen Volkes […] mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und | |
Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohlmeinender Mensch sie, wenn | |
er sie zum zweiten Male unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, | |
doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde – | |
diese Revolution […]findet doch in den Gemütern aller Zuschauer […] eine | |
Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt, und deren | |
Äusserung selbst mit der Gefahr verbunden war, die also keine andere, als | |
eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.“ | |
Demnach wäre der begeisterte Wunsch nach einer Revolution Ausdruck eines | |
guten moralischen Sinns – aber eben nicht mehr! Gleichwohl beweist die | |
Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, dieses – so Eric Hobsbawm – | |
„Zeitalters der Extreme“, beweisen die Abermillionen Toten der Revolution | |
der Bolschewiki sowie der chinesischen Kommunisten, dass genau diese | |
Begeisterung in massenhaftes Unglück und zu Unfreiheit führen kann. | |
## Marx durfte noch hoffen | |
Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass Revolutionen stattfanden, stattfinden | |
und auch künftig stattfinden werden. Ob sie wünschenswert sind, ihre | |
enthusiastisch proklamierten Ziele erreichen, ist eine ganz andere Frage. | |
Marx immerhin durfte 1848, im „Kommunistischen Manifest“ noch hoffen, dass | |
nach der Revolution an die Stelle von Klassengegensätzen die Assoziation | |
tritt, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie | |
Entwicklung aller ist“. | |
30 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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