# taz.de -- Karl Marx' Werk: Mal eben das Proletariat erfunden | |
> Vom Philosophen zum Kommunisten zum Analytiker des Kapitalismus: Wie Marx | |
> sein Denken veränderte, als die Revolution scheiterte. | |
Bild: Marx' Ansichten waren auch geprägt von Wandel. Seine Karriere begann er … | |
Karl Marx lebte in dem Wissen, hochbegabt zu sein. Bereits seine Eltern | |
waren davon überzeugt, dass von ihren neun Kindern am meisten von Karl zu | |
erwarten sei. Als Marx schon studierte, schrieb ihm sein Vater: „Mein Herz | |
schwelgt zuweilen in Gedanken an Dich und Deine Zukunft.“ | |
Über Karls Bruder Hermann hieß es hingegen: „Von seinem Fleiße erwarte ich | |
viel, von der Intelligenz desto weniger … Schade daß der herzensgute Junge | |
nicht mehr im Kopf hat!“ | |
Auch Marx’Kommilitonen waren beeindruckt von seiner Geisteskraft. Der | |
damals 29-jährige Schriftsteller Moses Hess schrieb an seinen Freund | |
Berthold Auerbach: „Du wirst Dich freuen, hier einen Mann kennenzulernen, | |
der jetzt auch zu unseren Freunden gehört … Du kannst Dich darauf gefasst | |
machen, den größten, vielleicht den einzigen jetzt lebenden eigentlichen | |
Philosophen kennenzulernen, der nächstens die Augen Deutschlands auf sich | |
ziehen wird. | |
Dr. Marx, so heißt mein Abgott, ist noch ein ganz junger Mann (etwa | |
höchstens 24 Jahre alt), der der mittelalterlichen Religion und Politik den | |
letzten Stoß versetzen wird; er verbindet mit dem tiefsten philosophischen | |
Ernst den schneidendsten Witz; denke Dir Rousseau, Voltaire, Holbach, | |
Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt; ich sage vereinigt, | |
nicht zusammengeschmissen – so hast Du Dr. Marx.“ | |
Einem Genie beim Denken zusehen | |
Marx selbst war nie bescheiden. Bereits als junger Student wollte er „ein | |
neues metaphysisches Grundsystem“ entwerfen, wurde dann aber „meiner ganzen | |
früheren Bestrebungen Verkehrtheit einzusehn gezwungen“, wie er dem Vater | |
schrieb. Doch dem Ziel blieb Marx treu. An einem philosophischen | |
Gesamtsystem hat er lebenslang gearbeitet. Fertig geworden ist es nie, hat | |
sich unterwegs auch gewandelt. Nicht alle Theorien waren richtig, aber wer | |
Marx liest, kann einem Genie beim Denken zusehen. | |
Schon als Student machte Marx eine Entdeckung, die ihn lebenslang prägen | |
sollte. Er las „Hegel von Anfang bis Ende“ und begeisterte sich vor allem | |
für Hegels „dialektische Methode“, die aus dem Dreischritt von „These, | |
Antithese und Synthese“ bestand. Denn Hegel bewies damit die seltene | |
Fähigkeit, in Prozessen zu denken. Er betonte das Werden, nicht das Sein. | |
Damit hob er sich von den anderen Philosophen seiner Zeit ab, die dazu | |
neigten, in statischen Begriffen zu verharren. | |
Allerdings war Hegel Idealist: In der Wirklichkeit glaubte er das Walten | |
eines absoluten Geistes zu erkennen und nannte Napoleon begeistert die | |
„Weltseele zu Pferde“. Diesen Ansatz würde Marx später „vom Kopf auf die | |
Füße“ stellen. Für ihn war nicht der geistige Überbau entscheidend – | |
sondern die materielle Basis. In einem seiner berühmtesten Zitate | |
formulierte er: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, | |
sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein | |
bestimmt.“ | |
Selbst konservative Historiker würden heute nicht mehr bestreiten, dass die | |
Lebenswirklichkeit beeinflusst, was ein Mensch denkt und denken kann. | |
Insofern sind auch sie von Marx geprägt, oft ohne es zu wissen. | |
Philosoph statt Revolutionär | |
Marx hat nicht als Revolutionär begonnen. Als Student interessierte er sich | |
weder für Wirtschaft noch für Armut; seine Dissertation befasste sich mit | |
den beiden antiken Philosophen Demokrit und Epikur. Doch im Alter von 25 | |
Jahren trat eine rasante Wandlung ein: In nur wenigen Monaten mutierte Marx | |
vom Liberalen zum Kommunisten. | |
Er war damals bereits mit Jenny von Westphalen verheiratet, lebte halb | |
freiwillig in Paris und wollte zusammen mit dem Philosophen Arnold Ruge | |
„Französisch-Deutsche Jahrbücher“ herausgeben. Das Projekt scheiterte zwar | |
bald, aber im Januar 1844 erschien immerhin eine Doppelnummer – und in | |
dieser einzigen Ausgabe fand sich auch ein kurzer Artikel von Marx, der den | |
etwas sperrigen Titel „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. | |
Einleitung“ trug. | |
Dieser kleine Artikel gehört zu den stilistisch schönsten Texten, die Marx | |
je geschrieben hat. In rasanter, furioser Dialektik begann Marx bei der | |
Religionskritik und endete mit der klassenlosen Gesellschaft, die durch | |
eine bemerkenswerte Allianz hervorgebracht werden sollte: „Der Kopf dieser | |
Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.“ | |
Auf dieses Proletariat stieß Marx jedoch nicht etwa, indem er die | |
Wirklichkeit empirisch untersucht hätte – es war eine dialektische | |
Erfindung, eine idealistische Kopfgeburt. Was bei Hegel der „Weltgeist“, | |
war bei Marx die Arbeiterklasse. Sie war eine philosophische Konstruktion, | |
die als Treiber der Geschichte betrachtet wurde. | |
Die erhoffte Revolution scheiterte in ganz Europa | |
Heute mag dieses deduktive Vorgehen etwas seltsam wirken, aber so viel ist | |
sicher: Durch reine Beobachtung der Wirklichkeit hätte Marx 1843 niemals | |
auf das Proletariat stoßen können, denn „echte“ Fabrikarbeiter gab es in | |
Deutschland damals kaum. Armut war zwar weit verbreitet, aber die meisten | |
Menschen darbten noch immer als Tagelöhner, Landarbeiter oder | |
Handwerksgesellen. | |
Nicht nur Marx sagte damals eine Revolution voraus; auch die Monarchen | |
fürchteten ihr Volk. Ab 1845 wurde die weit verbreitete Armut noch durch | |
Missernten verschärft. In Preußen stiegen die Preise für Roggen um 88 | |
Prozent, für Weizen um 75 Prozent und für Kartoffeln um 135 Prozent. Der | |
Hunger kehrte ein letztes Mal zurück. | |
Die Revolution war sogar noch schneller als Marx: Sein „Kommunistisches | |
Manifest“ war noch im Druck, als im Februar 1848 der Aufstand in Paris | |
losbrach – und sofort auf Deutschland übersprang. Doch es kam anders als | |
von Marx erwartet: Die Proletarier schüttelten nicht ihre Ketten ab, die | |
Revolution scheiterte in ganz Europa. Spätestens ab Juli 1849 saßen die | |
Monarchen überall wieder fest auf ihrem Thron. | |
Marx war besonders enttäuscht, dass es selbst im revolutionserprobten | |
Frankreich nicht zu Reformen gekommen war. Stattdessen führten die Wirren | |
nur dazu, dass ein Neffe Napoleons, Louis Bonaparte, die Macht übernahm. | |
Die Ökonomwerdung | |
Bonaparte errichtete eine Militärdiktatur, die Marx wenig später in seinem | |
berühmten Buch „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ analysierte �… | |
bis heute einer der wichtigsten Texte zur Theorie und Geschichte von | |
Revolutionen. Denn Marx arbeitete weitsichtig heraus, dass diese | |
Militärdiktatur radikal neu war. Erstmals wurde bis dahin Unvereinbares | |
miteinander verschmolzen: Freiheit und Unterdrückung. Politisch hatte das | |
französische Bürgertum zwar nichts zu melden, dafür durfte es sich | |
ökonomisch und kulturell ungestört entfalten. | |
Marx war Realist. Er ging ins Londoner Exil und erwartete fortan nicht | |
mehr, dass es zu einer neuen Revolution in Europa kommen würde. Da er | |
jedoch vom dialektischen Materialismus nicht lassen wollte, musste es einen | |
Akteur geben, der den Sozialismus selbst dann hervorbrachte, wenn das | |
Proletariat als revolutionäres Subjekt ausfiel. Dieser subversive Agent | |
konnte nur noch der Kapitalismus selbst sein. Es galt also, die | |
Widersprüche in diesem komplexen System zu entdecken. | |
Marx hatte schon vorher Adam Smith und andere bürgerliche Theoretiker | |
gelesen, aber erst jetzt wurde er zum Ökonomen. Fast zwanzig Jahre | |
arbeitete er an seinem Hauptwerk „Das Kapital“, bis dann endlich im | |
September 1867 zumindest der erste Band erschien. Zunächst fand das Werk | |
nur wenige Leser, aber es machte Marx zu einem der größten Ökonomen aller | |
Zeiten. | |
Denn Marx’bleibendes Verdienst ist es, dass er die Dynamik des Kapitalismus | |
erstmals richtig beschrieben hat (siehe auch das [1][taz-Glossar der | |
Fachbegriffe zu Karl Marx]). Die moderne Wirtschaft ist ein permanenter | |
Prozess – und kein Zustand. Besitz existiert nicht per se, es gibt ihn nur, | |
wenn er sich ständig verwertet. Einkommen ist niemals garantiert, sondern | |
entsteht nur, wenn unablässig investiert wird. | |
Marx erwartete den Untergang des Kapitalismus | |
Der moderne Kapitalismus hatte sich noch nicht vollständig entfaltet, als | |
Marx lebte. Trotzdem erkannte er bereits, dass der Kapitalismus zur | |
Konzentration neigt und dass immer größere Konglomerate die kleinen Firmen | |
verdrängen – bis die Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet ist. Der | |
Kapitalismus ist also gerade keine Marktwirtschaft, in der viele Firmen | |
miteinander im Wettbewerb stehen. Stattdessen dominiert das Oligopol, und | |
die wichtigen Branchen werden von wenigen Konzernen beherrscht. | |
Marx sah diese Konzentrationsprozesse mit Freude. Er hoffte, dass der | |
Kapitalismus von selbst untergehen würde – indem sich die Kapitalisten | |
gegenseitig enteigneten, bis nur noch wenige Unternehmer übrig wären. „Je | |
ein Kapitalist schlägt viele tot“, was die Revolution vereinfachte: Am Ende | |
müsste die „Volksmasse“ nur noch „wenige Usurpatoren“ entfernen. „Die | |
Expropriateure werden ‚expropriiert‘.“ Bekanntlich kam es anders. Der | |
Kapitalismus hat sich als deutlich langlebiger erwiesen, als Marx es je für | |
möglich gehalten hätte. | |
Marx war dennoch einer der innovativsten Theoretiker aller Zeiten, wie | |
schon die immense Resonanz bezeugt. Der US-amerikanische Ökonom John | |
Kenneth Galbraith schrieb ironisch: „Hätte sich Marx vor allem geirrt, wäre | |
sein Einfluss schnell verflogen. Die vielen Tausend, die sich | |
hingebungsvoll dem Nachweis seiner Fehler gewidmet haben, hätten sich | |
andere Beschäftigungen gesucht.“ | |
4 May 2018 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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