# taz.de -- Kleine Kapitalismus-Wortkunde: Schnell mal Marx verstehen | |
> Viele Begriffe von Marx gehören nun zur Alltagssprache. Wie waren sie | |
> gemeint? Eine Übersicht der wichtigsten Schlagworte. | |
Bild: Die Ideen von Karl Marx sind so aktuell wie nie – man muss sie nur vers… | |
## 1. Materialismus | |
Materialismus ist ein Begriff, der das Ringen von Marx um Erkenntnis | |
zusammenfasst. Um Materie, Material oder etwas Stoffliches geht es dabei | |
vordergründig nicht. Auch nicht darum, nur auf das Materielle bezogen zu | |
sein, nur dem Habenwollen nachzugeben. | |
Mit Materialismus ist vielmehr ein Denkansatz von Marx gemeint: Er wollte, | |
dass man bei der Betrachtung der Welt auf das guckt, was da ist, und daraus | |
Ideen entwickelt, wie man Wirklichkeit, also die Welt der Arbeit und des | |
Alltags, verändern muss. | |
Dies ist eine Gegenposition zu Hegels Idealismus, der von den Ideen her die | |
Wirklichkeit verändern will. | |
Für Hegel war der tugendhafte Staat das Ideal, das auf die Bürger wirkt. | |
Marx hält dagegen: Nein, nein, die Bürger machen den Staat. Um das zu | |
können, muss der, der die Wirklichkeit verändern will, selbst Teil dieser | |
Wirklichkeit sein. | |
Und weil das so ist, ist der Staat nicht die Gesellschaft, sondern er steht | |
der Gesellschaft gegenüber und ist ihr Instrument. | |
## 2. Der Warencharakter der Arbeit | |
Marx wollte herausfinden, ob der Dynamik der modernen Gesellschaft ein | |
Gesetz zugrunde liegt. Dafür begann er, was er in der Gesellschaft sah, | |
immer weiter zu hinterfragen. Seine Ausgangsbeobachtung dabei: Der Reichtum | |
der modernen Gesellschaft erscheint in Form einer ungeheuren | |
Warenansammlung. | |
Und nun fragt er weiter: Was genau ist Ware? Die Antwort: Etwas, in dem | |
Arbeit steckt, denn um Waren herzustellen, wird Arbeit benötigt. – Und was | |
ist dann Arbeit? – Die Herstellung von Nutzen, von nützlichen Dingen, also | |
Gebrauchswerten. – Wie kommt man an den Nutzen? (Das meiste kann man ja | |
nicht selbst herstellen.) – Über Austausch. – Und wie gelingt Austausch? �… | |
Indem der Aufwand für die Produktion des Nutzens durch eine Tauschware, die | |
vom Wert her dem Produkt entspricht, ausgelöst wird. | |
Nun sieht er ein Problem: Dass nämlich alle, die ihren Aufwand im Tausch | |
ausgelöst bekommen wollen, mit allen anderen, die das auch wollen, | |
konkurrieren. Marx zieht daraus den Schluss: Eine Gesellschaft, deren | |
Mitglieder sich in dieser Weise verhalten, baut darauf, dass ein Teil der | |
Warenproduzenten die Produktivität steigert, um den Aufwand zu senken, ein | |
anderer Teil aber untergeht, weil er das nicht schafft, und alle daher in | |
ständiger Konkurrenz zueinander stehen. | |
Für Marx ist die Konkurrenz ein Gesetz der modernen Gesellschaft. Sie ist | |
für alle eine ungeheure Herausforderung, weil dadurch große Unsicherheiten | |
entstehen. Das ist die Folge, wenn Arbeit Ware ist. | |
## 3. Entfremdung | |
Verdinglichung, Versachlichung, Fetischisierung sind drei Formen der | |
Entfremdung, die nach Marx in der Produktion der Waren zwingend entsteht. | |
## 3.1. Verdinglichung | |
Marx’ Überlegungen gehen von der Frage aus, was Reichtum ist, und führen zu | |
der Beobachtung, dass kleine Warenproduzenten in der vorkapitalistischen | |
Zeit nur kleinen Reichtum schaffen konnten. | |
Der bescheidene Wohlstand ist aber trotzdem großartig. Die Leute | |
produzierten frei und sie hatten nun Dinge. Solche, mit denen sie | |
produzieren konnten, und solche zum Konsumieren. Dass Städte etwa | |
aufblühten in den Anfängen der Warenproduktion, hat etwas mit den Dingen zu | |
tun, die plötzlich da waren. | |
Wohlstand zeigt sich daran, dass Menschen Dinge um sich haben. Sogar unsere | |
Beziehungen sind dinglich vermittelt: Dinge sind zuverlässig. Dinge ärgern | |
nicht. Dinge bauen Distanz auf, um Nähe auszuhalten. Um Dinge kann man | |
streiten. Dinge verkörpern unsere Zivilisation. Wohlstand und Wohlfahrt | |
gehen nicht ohne die Welt der Dinge. Verdinglichung bedeutet demnach: Wir | |
leben in einer Gesellschaft, in der die Dinge Grundlage sind. | |
## 3.2. Versachlichung | |
Durch zunehmende Routine bei der Warenproduktion verändert sich der Blick | |
des Produzenten jedoch: Nicht mehr die Herstellung eines Unikats, sondern | |
der Austausch größerer Mengen gleicher Produkte rückt in den Vordergrund. | |
Dadurch entsteht eine größere Distanz des Produzenten sowohl zu seinen | |
Werkzeugen als auch zum Produkt. Dies ist der erste Schritt der | |
Versachlichung und damit nach Marx der erste Schritt der Entfremdung. Der | |
nächste Schritt der Versachlichung tritt ein, wenn die Austauschware gegen | |
Geld getauscht wird. | |
Die Ware, die der Produzent hergestellt hat, verschwindet nun im Geld, und | |
die Ware, die er hätte dafür bekommen können, verschwindet ebenfalls im | |
Geld. Das Ding, das einen konkreten Zweck erfüllen sollte, verwandelt sich | |
in eine abstrakte Sache. | |
## 3.3. Fetischisierung | |
Die Versachlichung stellt die Beziehung zwischen Produzenten und | |
Konsumenten einseitig dar – sie ist nur noch auf den Austausch gerichtet. | |
Der nächste Schritt der Entfremdung tritt ein, wenn der Produzent seine | |
Handelsfunktion an Händler abgibt. Er produziert zwar noch, verkauft aber | |
alles an einen Händler, der nun den Tauschprozess vollzieht. | |
Gegen einen Preisabschlag gibt der Produzent in der Regel auch einen Teil | |
seines Tauschrisikos ab. Der Produzent rutscht dadurch in die gegenteilige | |
Rolle, er taucht auf dem Markt nur noch als Käufer auf. Damit verschwindet | |
aber der Produzent auch im Konsumenten. Der Käufermarkt wird sein Ort. Es | |
tritt also eine völlige „Verkehrung“ der Verhältnisse ein – Marx nennt … | |
so. | |
Die Verkehrung führt dazu, dass für den Produzenten die verkehrte | |
Wahrnehmung das Wirkliche ist: So wird die Ware zum Fetisch. Der Produzent | |
wird sich als Teil des Marktes fühlen, obwohl er den Markt ursprünglich | |
gebildet hat. Jetzt wenden Geld und Markt ihn an; er ist Objekt der Ware | |
und nicht die Ware sein Objekt. Das erscheint nun völlig normal. Und je | |
größer die Produktion, desto mehr tritt der Produzent hinter dem Käufer | |
zurück. | |
Am Ende dreht sich alles um Konsum mittels Geld. In diesem Prozess steckt | |
eine ungeheure Antriebskraft, noch mehr und besser und schneller zu | |
produzieren. | |
## 4. Mehrwert | |
Mit dem, was wir bisher herausgefunden haben, werde, fand Marx, nicht der | |
große Reichtum der bürgerlichen Gesellschaft erklärt, sondern der kleine | |
Reichtum der Handwerker. Der große Reichtum kann nicht von Schwankungen | |
zwischen Angebot und Nachfrage kommen oder von der Differenz zwischen dem | |
Wert einer Ware und ihrem Preis, sondern, überlegte Marx, es muss ein | |
Medium geben, das mehr Wert produziert, als es selbst verbraucht. | |
Wo jedoch kommt dieses Mehr an Wert, dieser Mehrwert her, der die Quelle | |
großen Reichtums ist? Für Marx ist klar, dieses Medium, das Mehrwert | |
schafft, muss irgendwie mit der Arbeit zu tun haben. Der Mehrwert muss aus | |
der Anwendung einer besonderen Ware kommen, deren Kauf mehr Wert einbringt, | |
als zu ihrem Erhalt nötig ist. Und diese Ware, sagt Marx, ist die | |
Arbeitskraft des doppelt freien Arbeiters. Frei ist er von | |
Produktionsmitteln (sonst wäre er Unternehmer) und frei ist er auch im | |
politischen Sinne (anders als Leibeigene, Sklaven oder 1-Euro-Jobber). Er | |
muss weniger als seine Arbeit anbieten: nämlich seine Arbeitskraft. | |
Die Fähigkeit, unentgeltlich Mehrarbeit zu leisten, ist ein besonderer | |
Gebrauchswert dieser Ware Arbeitskraft. Im Unterschied nämlich zu einem | |
einfachen Warenproduzenten, der seine Arbeit als Produkt verkauft, muss der | |
Käufer bei einem, der seine Arbeitskraft verkauft, nur das bezahlen, was | |
nötig ist, damit die Arbeitskraft des Arbeitskraftverkäufers nicht | |
versiegt. | |
Auf diese Differenz setzt der Käufer. Der Käufer weiß, einer, der gezwungen | |
ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, weil er keine Produktionsmittel hat, | |
ist auch gezwungen, so viel zu arbeiten wie der Unternehmer von ihm | |
verlangt und das muss mehr sein, als für den täglichen Erhalt der | |
Arbeitskraft des Arbeiters nötig ist. | |
Dadurch entsteht Mehrwert, den sich der Käufer „äquivalenzlos aneignen | |
kann“, so Marx. Diesen Vorgang nennt Marx „Ausbeutung“. Der Käufer geht | |
selbstverständlich davon aus, dass der Mehrwert ihm gehört, er hat den | |
Arbeiter ja bezahlt. Laut Gesetz der Warenwirtschaft hat der Käufer sogar | |
einen legitimen Anspruch darauf. | |
Aber, taucht nun die Frage auf, wie groß ist denn der Wert der | |
Arbeitskraft? Dabei kommt Marx zu dem Schluss, dass es nicht reicht, den | |
Verkäufer der Arbeitskraft nur in die Lage zu versetzen, am nächsten Tag | |
wieder seine Arbeitskraft zu verkaufen, sondern in den Wert der | |
Arbeitskraft müsse auch ein „historisch-moralisches Element“ einfließen, … | |
zu gewährleisten, dass die Arbeitskraft dauerhaft und in der nötigen | |
Qualität zur Verfügung steht: nämlich Bildung, Gesundheit, die Kosten für | |
eine Familie und der Gewerkschaftsbeitrag. Letzteres, um zu verhindern, | |
dass die, die die Ware Arbeitskraft verkaufen, gegeneinander konkurrieren. | |
Das ist durchaus auch im Interesse des Kapitalisten, um sicher zu sein, | |
dass er seinen Mehrwert bekommt. | |
Indem die Gewerkschaften sich dafür einsetzen, die Arbeitskraft des | |
Arbeitenden über gute Arbeitslöhne dauerhaft zu sicher, sichern sie | |
paradoxerweise auch die Mehrwertproduktion – und ermöglichen damit die | |
Ausbeutung. | |
## 5. Akkumulation | |
Um Mehrwert zu produzieren, muss die Arbeitskraft zur Ware werden. Marx | |
sieht, dass die Unternehmen erfinderisch werden, wenn es um die Abschöpfung | |
des Mehrwerts geht. Begrenzen Staat und Gewerkschaften etwa die | |
Arbeitszeit, überlegen die Unternehmen, wie sie doch an den Mehrwert | |
kommen, beispielsweise durch mehr und schnellere Maschinen. | |
Durch immer mehr Mehrwertabschöpfung wächst auch das Kapital, also der | |
Reichtum. Das ist die erste Stufe der Akkumulation. Marx nennt das: | |
„Konzentration des Kapitals“. Allerdings wächst der Reichtum über die | |
Konzentration eigentlich nur langsam. | |
Marx beobachtet nun, wie die Banken als neuer Player ins Spiel kommen und | |
im nächsten Schritt das Kapital zur Ware machen: Man kann bei den Banken | |
Kapital kaufen über Kredit. Mit dem so erworbenen neuen Kapital kaufen die, | |
die es bekommen, in der Regel keine Yacht und kein Schloss, sondern sie | |
kaufen schon vorhandene, meist kleinere oder bankrotte Unternehmen. Damit | |
wächst das Kapital der kreditwürdigen Unternehmen sprunghaft. Marx nennt | |
diesen Prozess „Zentralisation“. Es ist die zweite Stufe der Akkumulation. | |
Marx stellt nun fest, dass es die Banken sind, die entscheiden, welches | |
Unternehmen Kredit bekommt und welches nicht. Die Banken steuern damit – | |
als unabhängiger Akteur – die Konkurrenz. Die Unternehmen handeln nicht | |
mehr frei. | |
Die Kontrolle der Banken über Unternehmen bei der Frage der Kreditvergabe | |
bindet die Unternehmen und die Banken zusammen. Diesen Prozess nennt Marx | |
„Assoziation“ – die dritte Stufe der Akkumulation. | |
Mit diesem Prozess entsteht eine ganz neue Art des Kapitalwachstums und der | |
Reichtumsbildung. Vergesellschafteter Reichtum (das Geld der Anleger und | |
Sparer) wird genutzt, um die Reichtumsvermehrung einzelner Unternehmen zu | |
fördern. | |
Marx fragt sich nun: Wo geht diese Gesellschaft hin? Was ist die | |
„historische Tendenz“ der Akkumulation? Seine Hoffnung: Dass die gebildete, | |
assoziierte Arbeiterklasse, die komplizierte Arbeit leisten muss und | |
zunehmend auch die Produktion steuert, die Unternehmen eigentlich | |
übernehmen könnte. Wenn sie nur wollte. Notfalls könnte eine Revolution das | |
bewerkstelligen, hoffte er. | |
Das vergesellschaftete Kapital kann dann der Gesellschaft zurückgegeben | |
werden. Die Akkumulation sollte es möglich machen, dass die Enteigner | |
selbst durch die Arbeiterklasse enteignet werden. „Das Kapital produziert | |
seine Totengräber“, sagt Marx. | |
5 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Reinfried Musch | |
Waltraud Schwab | |
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