| # taz.de -- Karl-Marx-Ausstellung in Trier: Der Staatenlose | |
| > Zum 200. Geburtstag würdigt die Stadt Trier Karl Marx in einer sehr | |
| > gelungenen Ausstellung. Sie fächert die Epoche in ihrem sozialen Wandel | |
| > auf. | |
| Bild: Carl Wilhelm Hübner: „Die schlesischen Weber“ (1844). Der Weberaufst… | |
| Trier steht Kopf. Karl Marx ist überall. Sogar [1][als Ampelmännchen gibt | |
| es ihn], in Hotels heißt es nicht „Do not disturb“, sondern „Schlaf ist | |
| mein Kapital“, der Dompropst sieht uns gemäß den Worten des | |
| Sozialphilosophen Nell-Breuning „alle auf den Schultern von Karl Marx“ | |
| stehen und die Trierer schimpfen ihn nicht mehr einen „greilije Kerl“, | |
| sondern machen ihn zum „Triera Jong“. Man kann das gespenstisch finden. | |
| Aber, um ein bekanntes Marx-Zitat zu bemühen – Marx wird zum 200. | |
| Geburtstag in Trier auch auf die Füße gestellt. | |
| Und um es gleich vorweg zu sagen: Die Landesausstellung, die auf 1.600 | |
| Quadratmetern an zwei Standorten Leben, Werk und Zeit von Karl Marx zeigt, | |
| ist wunderbar. Doch wie präsentiert man einen Denker, wenn es so gut wie | |
| keine Objekte gibt und der Nachlass nur aus Schriften besteht, die im | |
| Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, wo sich der | |
| größte Teil der Handschriften von Marx und Engels befindet, und in Moskau | |
| aufbewahrt werden? Was die Objekte anbelangt, so gibt es in der ebenfalls | |
| am Samstag eröffneten neu konzipierten Dauerausstellung im Geburtshaus von | |
| Karl Marx in der Trierer Brückenstraße Marx’ Taschenuhr und Lesesessel zu | |
| sehen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat ihn 2014 von Marx’ Ururenkelinnen | |
| gekauft. In diesem Sessel ist er angeblich am 14. März 1883 gestorben. So | |
| leitet man es aus einem Brief von Friedrich Engels ab: „Gestern Nachmittag, | |
| 2.45 Uhr, kaum zwei Minuten allein gelassen, fanden wir ihn sanft | |
| entschlafen im Sessel.“ | |
| Was die Schriften anbelangt, zeigt die temporäre große Landesausstellung | |
| die einzig verbliebene Manuskriptseite vom „Kommunistischen Manifest“, | |
| jener 1847/48 eilig verfassten Programmschrift für den Bund der | |
| Kommunisten, die auch die Handschrift Jenny von Westphalens trägt, sowie | |
| Marx’ persönliches Exemplar von „Das Kapital“, das nach nahezu 20 Jahren | |
| Forschungsarbeit 1867 als erste umfassende ökonomisch-gesellschaftliche | |
| Analyse erschien. Es trägt handschriftliche Anmerkungen, gleich nach | |
| Erscheinen hatte Marx schon wieder Korrekturen anzubringen. Die Originale | |
| beider Schriften, die zum Unesco-Weltdokumentenerbe gehören, sind | |
| verschollen. | |
| Das [2][„Kommunistische Manifest“ und „Das Kapital“] bilden das geistige | |
| Herzstück der Landesausstellung. Eine Reliquienschau ist sie nicht, sie | |
| schafft etwas ganz anderes, nämlich Karl Marx als Philosophen, | |
| Journalisten, Politökonomen und Revolutionär im Zusammenhang der | |
| politischen und sozioökonomischen Verhältnisse seiner Zeit jedem | |
| [3][verständlich zu machen] und ihn von allerlei Mythen und Ballast zu | |
| befreien. Es ist das erklärte Ziel der Ausstellungsmacher*innen: Marx aus | |
| den Dogmatisierungen und Verfälschungen des Marxismus-Leninismus | |
| herauszulösen und ein differenziertes Marx-Bild zu zeigen. Dafür wird Marx | |
| historisiert, also aus seiner Zeit heraus erklärt, was ja in der Regel | |
| bedeutet, Aktualisierungen zu verhindern und zu entpolitisieren. Doch | |
| dieses Urteil würde hier zu kurz greifen. Denn das Ausstellungsmaterial ist | |
| so klug ausgewählt und gut kontextualisiert, dass jeder selbst | |
| Aktualisierungen vornehmen kann, aber eben ohne sich einem pädagogischen | |
| oder moralischen Zeigefinger ausgesetzt zu sehen. | |
| Auch die gegenwärtig so beliebte Ausstellungspraxis, alles Material bloß | |
| zur Illustration einer gegenwartsbezogenen | |
| populistisch-kapitalismuskritischen Perspektive zu degradieren, wurde | |
| vermieden. Das Material, vor allem wenn es so redlich und unaufgeregt wie | |
| präzise aufbereitet ist wie in Trier, spricht für sich. | |
| So wird beispielsweise klar, dass Migrationsströme Mitte des 19. | |
| Jahrhunderts in die andere Richtung führten. Felix Schlesingers Gemälde | |
| „Auswanderer fahren an Bord“ aus dem Jahr 1851 verdeutlicht, wie die | |
| Genremalerei sich der Sozialgeschichte annahm. Was heute als | |
| Wirtschaftsflüchtling geschimpft wird, bedeutete damals etwa für Marx | |
| Heimat: Allein im Jahr 1846 waren es mehr als 800 Menschen aus der | |
| Eifel-Hunsrück-Mosel-Region, die auf der Flucht vor Hunger und Armut in | |
| Algerien von Bord gingen, wie eine kleine Recherche ergibt. Es macht großen | |
| Spaß, zu sehen wie die Ausstellung am Standort Simeonstift eine Epoche in | |
| ihrem tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandel | |
| auffächert. | |
| Entlang von Marx’ Wohnorten entsteht in Städteporträts, Gemälden, Werken | |
| aus der Literatur, vielen Auszügen aus dem Briefwechsel und der Darstellung | |
| des jeweiligen politischen, beruflichen und familiären Netzwerks von Marx | |
| ein eindrückliches Bild der Entwicklung seines Denkens.In Paris gibt es | |
| allein 74 Exilzeitungen, als Marx dort lebt und mit Arnold Ruge die | |
| „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ herausgibt. Es ist die Stadt der Ideen | |
| und des Aufruhrs vor der Haussmannisierung. Oder Brüssel: Belgien ist bis | |
| Ende des 19. Jahrhunderts zweitgrößte Industriemacht der Welt, nirgendwo in | |
| Europa war Liberalismus so ausgeprägt, war Pressefreiheit so entwickelt wie | |
| hier, als Marx und Engels in Brüssel ankamen. Auch der nordenglischen | |
| Industriestadt Manchester ist in der Ausstellung ein Raum gewidmet, man | |
| erreicht ihn durch ein schwarz getünchtes Treppenhaus. Marx besuchte seit | |
| 1845 Friedrich Engels mehrfach dort, der sich in der Stadt der 2.000 | |
| Baumwolllagerhäuser mit den sozialen Folgen der Industriellen Revolution | |
| befasste und Kontakt zu Frühsozialisten hatte. Hier wurden erstmals Frauen | |
| und Kinder außerhalb der Familien als Arbeitskräfte eingesetzt: Joan | |
| Planellas Gemälde „La nena obrera“ von 1885 ist eines der wenigen Gemälde | |
| des 19. Jahrhunderts, das die Kinderarbeit zum Thema macht – Katalonien war | |
| das Zentrum der Industrialisierung in Spanien. Für Marx ist Manchester der | |
| Punkt, an dem er sich vom Philosophen zum Ökonom entwickelt. | |
| ## Trierer Armenliste | |
| Johann Peter Hasenclevers Bild „Arbeiter vor dem Magistrat“ soll Marx | |
| selbst gesehen und gesagt haben, man sehe in ihm mehr als in den Schriften. | |
| Das Bild zeigt, wie erwerbslose Arbeiter beim Düsseldorfer Stadtrat eine | |
| Petition mit der Bitte um Weiterbeschäftigung abgeben. Es gilt als erste | |
| Darstellung selbstbewusst auftretender Arbeiter in der deutschen Malerei. | |
| Ein Höhepunkt der Ausstellung ganz anderer Art ist die computerbasierte | |
| Aufbereitung der Trierer Armenliste von 1832, die damals von der | |
| preußischen Obrigkeit im Rahmen der Cholera-Prävention erstellt wurde. Sie | |
| erfasste die Armen mit Details zu ihrer Lebenssituation im Vormärz, der | |
| Jugendzeit von Karl Marx. | |
| Forscher der Universität Trier haben die Armenliste auf einem Stadtplan | |
| visualisiert, über Wohnort, Namen und Kategorien der Armenliste selbst, wie | |
| etwa „Invalide, trunkergeben und bettelsüchtig“ oder „Schiffsknecht mit | |
| vielen Kindern“, bekommt man faszinierende Einblicke in die | |
| Sozialtopografie des damaligen Trier. 80 Prozent der Stadtbevölkerung waren | |
| arm, die Repressalien der verhassten preußischen Regierung im einst | |
| französischen, aufgeklärt-liberalen Trier enorm. Mit dem Wiener Kongress | |
| 1815 ging die französische Regentschaft zu Ende, doch das aufgeklärte | |
| Bürgertum blieb frankophil, auch Marx’ Vater Heinrich Marx zog nächtens die | |
| Marseillaise singend durch die Innenstadt. 1848 war Trier ein Zentrum der | |
| Revolution. | |
| Die Ausstellung liefert keine Interpretation von Marx im Sinne der | |
| Marxologie, die sich auf die Seite des philosophischen oder | |
| politökonomischen Marx, des humanistischen oder wissenschaftlichen Marx | |
| schlägt, sie fragt nicht ob Struktur oder Handlung, Krise oder Aufbruch ins | |
| Zentrum einer marxistischen Theorie zu stellen sind. | |
| Aber sie ergreift Partei für eine Einsicht, die Karl Marx wie kein anderer | |
| vor ihm in die Welt gebracht hat und hinter die niemand zurück kann: Dass | |
| es zu allererst die materiellen ökonomischen Verhältnisse sind, die unser | |
| Leben bestimmen. | |
| 8 May 2018 | |
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| Tania Martini | |
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