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# taz.de -- Landschaftstourismus als Ersatzreligion: Das Opium der Touristen
> Marx, Heine und die Ökonomie des modernen Reisens: Sie waren Freunde,
> Dichter, Philosophen und inspirierten sich gegenseitig.
Bild: Gespräch unter Freunden: Karl und Jenny Marx sowie Heinrich Heine
Eine Zeichnung des sowjetischen Grafikers Nikolai N. Schukow zeigt Heinrich
Heine, Karl und Jenny Marx im Gespräch. Es ist Winter in Paris, 1844. Die
drei befinden sich in einem kleinen, kahlen Salon eng beieinander vor dem
lodernden Kamin. Heine sitzt im Sessel – mit einer Decke über der Lehne –
und spricht zu Jenny, die Heine träumerisch zuhört. Neben ihr, am Kamin
lehnend, steht Karl mit kritisch-nachdenklichem Blick.
Die Zeichnung illustriert das Verhältnis zwischen Heine und Marx, soweit
wir dies heute rekonstruieren können: Der 25-jährige Marx lernt den über 20
Jahre älteren Dichter im Dezember 1843 kurz nach seiner Ankunft in Paris
kennen. Die beiden freunden sich schnell an und verbringen im folgenden
Jahr viel Zeit miteinander: in den zugequalmten Redaktionsräumen des
Vorwärts! oder in der Wohnung des jungen Ehepaars Marx.
Deren Tochter Eleanor erinnerte sich an Erzählungen ihrer Eltern: Heine sei
oft vorbeigekommen, mit neuen Versen unterm Arm, und habe gemeinsam mit
Karl stundenlang an den Gedichten gefeilt. Marx schätzte Heines „Buch der
Lieder“ wie auch dessen „Reisebilder“-Prosa und hatte selbst während sei…
Gymnasial- und Studienzeit – zuweilen in Heine’scher Manier – gedichtet.
Beide liebten Lyrik, und zudem verband sie eine politische
Interessengemeinschaft: Heine suchte neue Bundesgenossen im literarischen
Kampf für „Emanzipation“ und „Freiheitsrechte“. Im jungen Marx bewunde…
er – wenn auch mit düsteren Vorahnungen – die von ihm selbst prophezeite
konsequente Entwicklung der Philosophie des Deutschen Idealismus: vom Geist
hin zur Tat.
Marx und der Schriftsteller Arnold Ruge wiederum brauchten den berühmten
Dichter, um die Auflagenzahl ihrer Zeitschriften zu erhöhen. Man kann sich
nicht vorstellen, und wohl auch der Revolutionszeichner Schukow nicht, dass
Marx und Heine nur über Lyrik sprachen; zu sehr hatte sich Heine in
Frankreich in die politische Philosophie vertieft und darüber in seinen
Korrespondenzartikeln für Cottas Augsburger Allgemeine Zeitung berichtet,
nicht zuletzt über den aufkommenden Kommunismus.
## Entlaufene Hegel-Schüler
Der Heine-Biograf Wolfgang Hädecke bezeichnete die Freundschaft zwischen
Heine und Marx als eine zwischen „dem philosophisch gebildeten Dichter und
dem poetisch interessierten Philosophen“. Diese Formulierung verbirgt, dass
beide, Marx und Heine, sowohl Philosophen als auch Dichter sind: Konrad
Paul Liessmann erkennt zu Recht in Marx den Sprachkünstler und in dessen
Texten „große Prosa“, ja „Wissenschaftspoesie“, „wie sie im 19. Jahr…
zwar nicht selten war, aber in dieser Qualität nahezu konkurrenzlos“. Und
der Germanist Klaus Briegleb fordert schon lange, Heine gegenüber endlich
eine philosophische Lektürehaltung zu kultivieren. Für Philosophen wie Karl
Löwith, der den Schluss von Heines Buch „Zur Geschichte der Religion und
Philosophie in Deutschland“ einer Anthologie linkshegelianischer Texte
voranstellte, war dies schon immer selbstverständlich.
Ab 1844 finden sich Heine-Zitate in Marx’ Aufsätzen. Marx’ Adaption
Heine’scher Formulierungen funktioniert deshalb so gut, weil diese
philosophisch imprägniert sind – wie die berühmte Metapher von der Religion
als dem „Opium des Volks“, die ein Zitat aus Heines „Börne“-Schrift is…
So hat Heine verschiedene Marx’sche Gedanken eher antizipiert, als dass er
von ihm beeinflusst wurde. Beide hatten ähnliche philosophische Wurzeln:
Sie waren jüdische Intellektuelle, die in die Hegel-Schule gegangen sind;
Heine hatte bei Hegel selbst noch Vorlesungen gehört. Und beide haben sich
kritisch – nach links – von Hegel entfernt, wenn sie auch zu bestimmten
politischen und philosophischen Fragen unterschiedliche Positionen
entwickelten.
Sozioökonomische Themen interessierten Heine schon in den 1820er Jahren. Es
lohnt sich, seine „Reisebilder“ mit einem an Marx geschulten Blick zu
lesen. Die „Reisebilder“ reflektieren nämlich nicht nur Entfremdungs- und
Verdinglichungsprozesse des modernen Tourismus, für die Marx und später
Georg Lukács das Begriffsvokabular prägten; sondern sie beschreiben auch
sehr präzise die Kommodifizierung, das Zur-Ware-Werden des Reisens, dessen
Höhepunkt wir gegenwärtig im Billigflug- und Kreuzfahrtschiff-Tourismus
erleben.
So stellt schon die 1826 erschienene „Harzreise“ die Brockenwanderung als
das Eintauchen in eine inszenierte Konsumsphäre dar. Die „Englischen
Fragmente“, die nach Heines 18-wöchiger Englandreise 1827 entstanden,
konfrontierten den Leser erstmals mit der detaillierten Beschreibung eines
Schaufensters, in dem die ausgestellten Waren „den größten Effekt“ machen:
„Die Kunst der Aufstellung, Farbenkontrast und Mannigfaltigkeit gibt den
englischen Kaufläden einen eigenen Reiz; selbst die alltäglichsten
Lebensbedürfnisse erscheinen in einem überraschenden Zauberglanze.“
Marx wird 40 Jahre später im ersten Buch des „Kapitals“ vom
„Fetischcharakter der Ware und seinem Geheimnis“ sprechen: Der „mystische
Charakter“ der Ware entspringe nicht ihrem Gebrauchswert, sondern bestünde
darin, dass die schön drapierte Ware „den Menschen die gesellschaftlichen
Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der
Arbeitsprodukte selbst“ widerspiegele.
Heines großformatiger Beschreibung des glänzenden Schaufensters folgt der
desillusionierende Zusatz, dass die Menschen, welche die schönen Waren
verkaufen, nicht heiter sind. Zudem seien Schnitt und Farbe ihrer Kleidung
„gleichförmig wie ihre Häuser“. Dann verändert sich die Einstellungsgrö…
hin zur Totalen, und wie mit einem Kameraschwenk führt Heine den Leser ins
Londoner Westend mit breiten Straßen, großen Häuser und Squares. „Überall
starrt Reichtum und Vornehmheit“, doch „hineingedrängt in abgelegene
Gäßchen und dunkle, feuchte Gänge wohnt die Armut mit ihren Lumpen und
ihren Tränen“, eine Armut, die Marx später selbst in London erfuhr. Mit
stummen, sprechenden Augen „starrt“ sie „flehend empor zu dem reichen
Kaufmann, der geschäftig-geldklimpernd vorübereilt“. Deutlich wird nicht
nur der soziale Antagonismus, sondern im wiederholten Bild der leblosen
Starre zeigt sich die Kälte der kapitalistischen Gesellschaft. So sind denn
auch Heines „Reisebilder“ immer Reisen in die eigene Gegenwart.
## Natur als Kulisse
In der „Harzreise“misslingt dem Ich-Erzähler die Flucht aus der spießigen
Enge Göttingens in die Natur des Harzgebirges; denn die Spießer,
rationalistisch-bieder oder deutschnational-bierlaunig, sind schon da.
Längst ist der Harz touristisch und industriell zugerichtet. Nicht einmal
mehr die Bergwerkswelt kann man romantisch betrachten – angesichts der
„unheimlichen Maschinenbewegung“, die der Ich-Erzähler in den Klausthaler
Gruben wahrnimmt. Die ironisch-reportagenhafte Beschreibung des
Grubenabstiegs zeigt unverdeckt die industrielle Ausbeutung der Natur. Und
der Bericht über die Besichtigung der Münze mündet in eine kritische
Reflexion über Tauschwert und Zirkulation des Geldes, das als die alles
bestimmende gesellschaftliche Verkehrsform gedeutet wird. Anhand solcher
Passagen wird heutigen Leserinnen und Lesern sofort klar, weshalb Marx die
„Reisebilder“ Heines so sehr schätzte.
Dem wandernden Ich-Erzähler ist die Entzweiung von Mensch und Natur
bewusst, wird die Natur doch schon seit der Neuzeit wissenschaftlich
vergegenständlicht und industriell erschlossen. An Hegel geschult, hält
Heine diese Entzweiung für den unhintergehbaren Grund menschlicher
Subjektivität und Freiheit. Deswegen überzieht er auch naturkitschige
Verkleisterungsversuche, die ein ungebrochenes, ganzheitliches
Landschaftserlebnis reklamieren, mit Spott: Etwa wenn sich die
Brockentouristen auf dem Aussichtsturm ’zum Sonnenuntergangsgebet
versammeln. Gemeinsam wollen sie den Panoramablick genießen und „in Andacht
versunken“ die Sonne untergehen sehen. Diese für jeden Brockenbesucher
obligatorische Veranstaltung wird vom Ich-Erzähler ironisch kommentiert:
„Naturschönheiten genießt man erst recht, wenn man sich auf der Stelle
darüber aussprechen kann“.
Bereits auf dem Weg zur Turmwarte erzählen die einen von vergangenen
Italienreisen, ein anderer ruft sehnsüchtig ins Abendrot hinein: „Wie ist
die Natur doch im Allgemeinen so schön!“ Das permanente klischeehafte
Zuschwatzen von Naturerlebnissen zeigt, dass die Brockenbesucher ihre
Entfremdung selbst gar nicht wahrnehmen. Natur ist ihnen zur bloßen Kulisse
verkommen.
Sowohl die „Harzreise“ als auch die italienischen „Reisebilder“ karikie…
Reisende, die enthusiastisch Naturverbundenheit ausdrücken und doch nur
Floskeln stammeln; „grüne Lügen“, die offenbaren, dass Naturwahrnehmung
schon längst verdinglicht ist. So „schnalzt“ ein deutscher Tourist, der in
den „Bädern von Lucca“ auf ein Tal in der Toskana blickt, „mit der Zunge…
Gaumen vor andächtiger Bewunderung“: „Gott, Gott! Alles wie gemalt!“ Das
Andachtsvokabular verweist darauf, dass Landschaftstourismus zur
Ersatzreligion geworden ist. Die Naturkulisse ist das Opium der Touristen.
## Sehnsucht nach Resonanz
Heines „Reisebilder“ sind immer auch Touristensatire. Sie zeigen Engländer,
die sich mit Reiseführern in der Hand im Innsbrucker Dom verirren, oder
stellen dem Leser ausführlich Eintragungen ins sogenannte Brockenbuch vor –
„verschimmelte Hochgefühle“ und „pathetische Seelenergüsse“. Sie
reflektieren aber auch die moderne Sehnsucht nach ganzheitlicher
Naturerfahrung. Insofern illustrieren sie die These von Joachim Ritter und
Odo Marquard, dass der von der Natur entzweite moderne Mensch diese
Verlusterfahrung naturästhetisch, und zwar kontemplativ, zu kompensieren
versucht.
Das Scheitern dieses Versuchs ist als melancholische Spur vielen
romantischen Texten eingeschrieben. Bei Heine werden die romantischen
Gefühle dann zerschnitten – „der Wahrheit wegen“, wie er selbst sagt. Und
Marx’ ökonomische Schriften explizieren schließlich – post-romantisch –…
gesellschaftlich vermittelte Verhältnis von Mensch und Natur.
Der Begriff „Tourist“ taucht erstmals um 1800 in deutschen Wörterbüchern
auf. Kurz darauf zeigen Heines „Reisebilder“ die zerstörerische Dialektik
des Reisens, gleichsam in der Take-off-Phase des modernen Tourismus. Heine,
dialektisch ebenso geschult wie Marx, weiß, dass die Reise aus der
Warenwelt nun ihrerseits zur Ware geworden ist. Er weiß auch, dass gerade
reiche Engländer aufgrund der fortgeschrittenen Industrialisierung und
neuen Produktionsverhältnisse Geld und Zeit zum Reisen haben.
So führt die Flucht aus der kapitalistischen Welt direkt wieder in sie
hinein, sei es, dass einen die „Brockenmädchen“ mit Blumensträußen
verabschieden oder dass man vorgeplante Segeltörns vor Norderney bucht.
Gernot Böhme nennt das – in Erweiterung der Marx’schen Dichotomie von
Gebrauchswert und Tauschwert – den Inszenierungswert der Ware. Versprochen
und verkauft wird: Brockenaufstieg mit Sonnenuntergangsromantik und
wolkenloser Himmel überm Sonnendeck.
Gerade die Nordsee-„Reisebilder“ illustrieren am Beispiel der
Inselprostitution das Zerstörerische touristischer Welterschließung. Hans
Magnus Enzensberger hat die historische Genese dieser destruktiven
Dialektik vor 60 Jahren in seiner „Theorie des Tourismus“ nachgezeichnet.
Das, was man sucht, wird zugleich vernichtet: „unberührte“ Natur,
Traditionen, Andersheit. Enzensbergers Essay endet mit dem lakonischen
Hinweis, dass wir heute die von der Reiseindustrie inszenierten Abenteuer-,
Freiheits- und Resonanzversprechen als Massenbetrug selbstverständlich
hinnehmen.
Resonanz perdu? Hartmut Rosa denkt in seinem „Resonanz“-Buch darüber nach,
wie Natur dem spätmodernen Menschen noch als Resonanzraum begegnen kann,
und liest Heines Texte als einen „intellektuellen Sturmlauf“ gegen falsche
Resonanzhoffnungen. Wie Marx in den „Pariser Manuskripten“ habe Heine die
Entfremdungserscheinungen der modernen Gesellschaft aufzudecken versucht.
Doch so sehr Heine romantische Ganzheitssehnsüchte ironisch bloßstellt,
wird doch eine resonante Naturerfahrung nie gänzlich vernichtet.
Gerade die virtuos gestalteten imaginativen Naturbeschreibungen zeigen,
auch wenn sie ins Prosaische kippen, die Möglichkeit von momenthafter
Resonanz: weil der Ich-Erzähler der „Reisebilder“ sich der touristisch
zugerichteten Welt durchaus bewusst ist.
## Nachhall
Als Marx und Heine in Paris über tagesaktuelle Themen wie den Weberaufstand
diskutierten oder religionskritische Fragen erörterten, lag die Marx’sche
Lektüre der „Reisebilder“ schon länger zurück; doch diese Lektüre
hinterließ Spuren. Wem verdanken wir nicht wesentliche Einsichten, von
denen wir später glauben, sie seien unsere eigenen!
Anfang Februar 1845 musste Marx auf Druck der preußischen Regierung aus
Paris ausreisen. Er schrieb an Heine: „Von Allem, was ich hier an Menschen
zurücklasse, ist mir die Heinesche Hinterlassenschaft am unangenehmsten.
Ich möchte Sie gern mit einpacken.“ Diesen Wunsch versteht man beim
Betrachten von Schukows Zeichnung.
6 May 2018
## AUTOREN
Nils Schulz
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