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# taz.de -- Reisen im Zeitalter des Internets: Fast so schön wie auf den Fotos
> Die Werkzeuge des digitalen Universums haben das Reisen einfacher,
> bequemer und demokratischer gemacht. Aber auch langweiliger.
Bild: So schön ist Patagonien! Selbst große Namen verlieren ihren Zauber, wen…
Wir kamen aus Norwegen zurück, sechs Wochen Lofoten, ohne Fernsehen, ohne
Zeitung, ohne Kontakt nach Deutschland. Als wir in Travemünde die Fähre
verließen und das Autoradio anschalteten, hörten wir, dass drei Tage zuvor
Olof Palme erschossen worden war. In Schweden, nicht allzu weit entfernt.
Europa befand sich in Aufruhr – und an uns war das spurlos vorübergegangen.
Es klingt undenkbar heute. Der Reisende des Jahres 2018 hat in langen
Sitzungen alle Angebote von Ferienwohnungen studiert. Er hat sich durch
Bewertungen anderer Gäste gewühlt und einen 360-Grad-Foto-Rundgang durch
sein künftiges Feriendomizil unternommen. Seine wichtigste Frage lautete
nicht: Wie sind die Angelmöglichkeiten? Sondern: Funktioniert das WLAN?
Vor Ort bekommt sein Tablet den Ehrenplatz am Tisch. Spiegel Online liefert
die notwendige Dosis Tagesnews, Mails werden dreimal am Tag gecheckt, und
die Fotos vom Terrassenfrühstück mit Krabben sofort mit allen
WhatsApp-Lieben geteilt.
„Ich bin dann mal weg“, und zwar radikal, gibt es nicht mehr. „We stay
connected“ heißt die Devise – natürlich bleiben wir in Verbindung. Bloß
keine Entzugserscheinungen! Wir holen die Welt nach Hause, und unser
Zuhause nehmen wir mit in die Welt.
Kein Zweifel: Die Werkzeuge des digitalen Universums haben das Reisen
einfacher, bequemer und demokratischer gemacht, der Wohlfühlfaktor ist
größer geworden. Früher war mehr Risiko beim Hinausgehen in die Welt – aber
auch mehr Zauber und mehr Wundertüte.
Der Flug, die Fähre, die Bahnfahrt markierten die Grenze zwischen dem
heimischen Vertrauten und den weiten, offenen Räumen, in denen alles
möglich schien. Man musste sich einlassen auf Unterkünfte, die man nur aus
Katalogen kannte – oder darauf vertrauen, irgendwelche am Weg zu finden.
Zug- oder Busfahrten außerhalb Europas vorab zu organisieren war fast
unmöglich, manche Verabredung musste man lange vorher per Brief treffen.
Hatte man Pech, landete man in einem lauten Dreckloch in Merida. Meinte es
der Reisegott gut mit einem, stieß man auf den Orkney-Inseln auf eine
einsame Steinhütte, in der man abends ganz allein beim Whisky den Nebel vor
dem Fenster hochsteigen sah. Die Adresse wurde von Mund zu Mund
weitergegeben und noch nicht als Geheimtipp durch sämtliche elektronischen
Communitys gejagt.
## Der Luxus, nicht erreichbar zu sein
Vor Ort gönnte man sich den Luxus, nicht erreichbar zu sein. Telefonieren
war teuer und in vielen Regionen nur auf dem Postamt möglich. Im Kopf
sammelte sich ein Stapel Fragen, die sich noch nicht stante pede per Google
beantworten ließen: Schlafen Seeschlangen eigentlich schwebend? Rechnet
sich das Verschiffen getrockneter Dorschköpfe von Norwegen nach Afrika? Wie
wurde wohl Majolika-Keramik erfunden? Nachfragen, nachlesen wollte man
hinterher – man ließ es dann meist doch.
Die Rückkehr nach Hause aber wurde zum Fest. Die Post mehrerer Wochen
wartete ungeöffnet. Der neueste Klatsch ebenso. Freunde hofften,
Geschichten zu erfahren. Und sie bekamen die volle Dröhnung ab.
Übersprudelnd erzählten die, die „draußen“ gewesen waren. So viele
Neuigkeiten aus einer unbekannten Region, soviel, was zu Hause passiert
war. Pures Erstaunen, dass die Welt sich ohne einen weitergedreht hatte.
Ein paar Tage später kamen dann die Dias aus dem Labor. Dies´ Glück, die
letzten Wochen noch einmal Tag für Tag nachzuerleben.
Heute sind die Fotos längst vorausgereist, die ganze Aufregung mit der
Fischplatte und der nächtlichen Kotzerei hinterher hat man schon am
nächsten Morgen per Skype Happen für Happen durchdiskutiert.
Ach ja? Und trauert irgendwer dieser Welt von damals hinterher – außer ein
paar technikdoofen Digital Naives, die ihren Laptop nicht virenfrei
kriegen? Auch ich bin alles andere als ein Festplattenstürmer. Auch ich
habe mein Handy dabei und rufe täglich meine Mails ab.
Wer fände es nicht praktisch, erreichbar zu sein, wenn die Tante kränkelt
oder der Kollege den wichtigen Beitrag verlegt hat? Kein Wälzen
zerfledderter Stadtpläne mehr Aus Tausenden Songs seine Lieblingsmusik
wählen, ohne dass der Rekorder die Kassette zerschreddert! Dank einer
elektronischen Besserwisserin durch den Pariser Feierabendverkehr
navigieren, ohne einen Herzinfarkt zu riskieren – wie großartig ist das
denn alles! Alles gut also – wäre das Reisen nur entspannter und nicht auch
seelenloser geworden. Etwas Wichtiges verschwindet: Das Unverständliche.
Der Glücksschrei. Die Ratlosigkeit. Die Unbehaustheit. Verloren geht so
etwas wie das Herz des Reisens.
## Das Glück des ersten Rundumschauens
Und noch etwas anderes, etwas Elementares fehlt. Wer sein Zuhause virtuell
mit sich trägt, nabelt sich nicht ab. Er heult nicht vor Heimweh, weil er
sich ja per Skype trösten lassen kann. Vorbuchung statt Schlangestehen,
Übersetzungsprogramm statt Kauderwelsch – dank elektronischer Hilfsmittel
muss der Reisende sich immer seltener durchbeißen und -boxen. Alles, was
wehtut am Unterwegssein, alles was verstört und aufwühlt, wird weniger.
Reisen verkommt zum Konsum – zum Konsum des ohnehin Bekannten. Samarkand,
Chichicastenango, Saskatchewan – selbst große Namen verlieren ihren Zauber,
wenn Bilder davon beliebig abrufbar sind. Warum noch hinfahren, wenn man
sich Medresen, Osterprozessionen und Bisonherden per Internet ins Haus
holen kann? Am Ende wartet nur die Enttäuschung: Das also ist Patagonien –
tja, fast so gelungen wie auf den Fotos.
Also ist dies am Ende nur die kauzige Kulturkritik eines etwas romantisch
veranlagten Zeitgenossen, der vielleicht die Welt liebt, sich aber mit Apps
nicht richtig auskennt? Ach was. I’m a user. Ich genieße die Vorteile der
digitalen Welt. Punkt.
Aber eine kleine, unzeitgemäße Verweigerung gönne ich mir. Vor einer Reise
an ein unbekanntes Ziel hüte ich mich ängstlich, Fotoblogs oder Magazine
darüber anzusehen. Das Recht des jungfräulichen Blicks, das Glück des
ersten Rundumschauens im Land selbst, darauf bestehe ich eifersüchtig. Eine
winzige Widerborstigkeit gegen den unaufhaltsamen Lauf der Zeit. Und ein
wenig rumgranteln wird man ja wohl noch dürfen.
30 Jun 2018
## AUTOREN
Franz Lerchenmüller
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