# taz.de -- Buchreihe über Naturphänomene: Im Sog der Hingabe | |
> Mit seiner Reihe „European Essays on Nature and Landscape“ gelingt dem | |
> Hamburger Verleger Klaas Jarchow eine fesselnde Neuentdeckung des | |
> Bekannten. | |
Bild: Wo die Wellen Muster hinterlassen: Priel im Wattenmeer zwischen Cuxhaven … | |
Es gibt Bücher, die öffnen dir die Welt, schon mit ihren allerersten | |
Sätzen. „Am Strand fing alles an“, schreiben etwa Karsten Reise und Hella | |
Kemper. „Unter einem nahezu runden April-Mond, der gerade damit begonnen | |
hatte, das Nordseewasser ablaufen zu lassen und den Meeresgrund | |
freizulegen, gingen wir los.“ So beginnt ihr Beitrag zur Reihe „European | |
Essays on Nature and Landscape“ des Hamburger KJM Buchverlag; betitelt ist | |
er, Sie ahnen es: „Strand“. | |
Ein wundervolles Buch, lehrreich und klug, feinsinnig und persönlich. | |
Bildunterschriften wie „Das Meer nimmt sich vom Strand, was ihm zusteht“ | |
oder „Am Strand kann man bis an den Rand der Sehnsucht gehen“ zeigen, wie | |
sehr Kemper und Reise ihr Thema verinnerlicht haben, durchdrungen. Ihre | |
Hingabe teilt sich mit. | |
Das ist so bei bisher allen Autoren der Edition, die Verleger und | |
Herausgeber Klaas Jarchow seit 2023 in die Buchläden bringt. Sieben Titel | |
sind im ersten Jahr erschienen, von „Unter Bäumen“ bis „Unterm Himmel“. | |
Weitere kommen Anfang 2024 dazu, von „Neuwald“ bis „An der Quelle“. Fü… | |
Herbst 2024 und das Frühjahr 2025 sind Titel wie „Bodden“ und „Binnenmee… | |
geplant, „Sumpf“ und „Am See“. | |
„Die Autoren sind sehr frei in ihrer Gestaltung“, beschreibt Jarchow das | |
Projekt, das ambitioniert auf eine „europäische Bibliothek der Landschaften | |
und Naturphänomene“ zielt. „Aber allen Texten ist zugleich etwas gemeinsam: | |
ein sehr persönlicher Ausgangspunkt und Erfahrungshorizont.“ Jeder Band | |
sei ein „Gang durch Wissen und Wahrnehmung“, schule beim Lesenden die | |
Neugier auf eigene Naturerfahrungen. | |
Wer mehrere Essays zur Hand nimmt, spürt: Ihre Themen greifen ineinander – | |
so wie die Landschaften, mit denen sie sich beschäftigen. Mit jedem neuen | |
Band komplettiert sich eine Symbiose, die den Wert der Grenzüberschreitung | |
zeigt – und damit des Gemeinsamen. Jarchow spricht von einem | |
„Landschaftsbegriff, der Rätsel lässt“. | |
Die Illustrationen unterscheiden sich, reichen von der historischen Post- | |
bis zur Geländekarte, vom familiären, atmosphärischen, reportagehaften | |
Foto bis zum naturwissenschaftlichen Messergebnis, zum botanischen, | |
geologischen und zoologischen Fakt. Umso homogenisierender ist da die | |
farblich das jeweilige Thema spiegelnde, sensibel-schlichte | |
Umschlaggestaltung, sind Rüdiger Tillmanns feingliedrige | |
SchwarzWeiß-Zeichnungen, die jedes der schmalen Bücher eröffnen. | |
Bibliophil ist das alles. Und so unterschwellig, wie die Edition Themen wie | |
[1][Naturschutz] und [2][Klimakrise] bewusst macht, so unterschwellig wirkt | |
auch ihre Haptik: „Das ist offenporiges Papier, und der Umschlag hat | |
Hanfanteile“, sagt Jarchow. „Das hat man gern in der Hand. Da hat man | |
sofort eine Berührung, mit dem Buch, mit dem Thema.“ | |
Obwohl die Autoren Empfehlungen beifügen, was zu besuchen sich lohnt, sind | |
die Essays keine Reiseführer, zu scharf ist dafür ihr ethischer wie | |
politischer Biss, zu groß ihre gedankliche Tiefe. Und zu dem, was die | |
Landschaften charakterisiert, vom Damals bis zur Zukunft, gehören auch | |
Härten, gehört auch die Mahnung: Das geht von der [3][brennenden | |
Ölplattform „Piper Alpha“] 1988 zwischen Schottland und Norwegen bis zum | |
noch heute oft blind idealisierten Heidedichter Hermann Löns, der | |
Unsägliches geschrieben hat wie „Ich bin Teutone hoch vier“, „Natürlich | |
passt das den Juden nicht“ und: „Wo auf der Erde etwas Großes geschaffen | |
wurde: immer gab blondes Blut den Anstoß dazu.“ | |
In den Büchern finden sich Tipps für die Beobachtung des Polarlichts, wir | |
lernen, dass zum Habitat der Fledermaus die Karsthöhle gehört, und wie das | |
Spiel der Wellen im Strandsand Rippelmuster erzeugt. Und wer sich nicht | |
scheut, in der Lüneburger Heide den [4][Talkessel Totengrund] zu besuchen, | |
bekommt mit auf den Weg: „Man putze seine imaginäre Brille, damit man das | |
alles mit dem inneren Auge sehen kann.“ Der Totengrund sei „eindringlich“, | |
sei „in einer Weise überlegen, wie Schumanns Träumerei einem Wagner’schen | |
Sturmgebläse aus dem Orchestergraben“. Er sei nicht tief, aber er habe | |
Tiefe. | |
Poetische Passagen wie diese zeigen, dass Jarchows Edition auch | |
literarische Qualitäten bereithält. Das zeigt sich auch beim [5][Thema | |
Wolf], zu dem allzu oft polemisiert wird, vor allem seitens Landwirten und | |
Jägern, die an seiner Wiederausrottung arbeiten. „Ein Wald, in dem du einem | |
Wolf begegnen kannst“, schreibt hingegen Helmut Schreier im Band „Unter | |
Bäumen“, „hat eine Möglichkeit zu bieten, die der wolflosen Baumplantage | |
abgeht: die Begegnung mit dem Wilden.“ Henry David Thoreaus „Im Wilden | |
liegt die Rettung der Welt“ habe „etwas Rätselhaftes, bis man begriffen | |
hat, dass ein Leben ohne Aussicht auf das Wilde – die Erfahrung von | |
Leidenschaft und Abenteuer – kümmerlich bleibt.“ Großartig ist das! | |
Die beanspruchte Grenzüberschreitung der „Essays“ spiegelt sich für den | |
Verlag auch „über den Inhalt der Bücher hinaus“: Für Kooperationen stehe | |
man „mit Polen im Gespräch, mit Irland“, sagt Jarchow. Mit Schweden hat es | |
schon geklappt: Matthias Eliassons „Moor“ ist soeben in beiden Ländern | |
parallel erschienen. Dort wie hier gilt: Die Edition ist zugangsoffen, | |
errichtet keine Hemmschwellen. Ja, naturwissenschaftliche Kenntnisse helfen | |
bei der Lektüre. „Und ein bisschen Kulturbeflissenheit schadet auch nicht“, | |
sagt Jarchow und lacht. Aber aus dieser Neuentdeckung des vermeintlich | |
Bekannten steigt niemand einfach wieder aus. | |
Apropos „europäische Bibliothek“: So ganz stimmt das nicht. Es geht auch um | |
die Heide der Azoren, um Waldbrände am kanadischen Lake Athabasca, um die | |
Mondfinsternis in Namibia. Landschaften haben ja auch keine Grenzen. | |
Es gibt Bücher, die orientieren dich in der Welt, und sie tun es bis zum | |
letzten Satz. „Abschied heißt: Einer geht, einer bleibt – das ist der | |
Standpunkt, der Point of view desjenigen, der am Strand steht“, so beenden | |
Reise und Kemper ihren Strand-Essay. „Die letzten Sekunden brennen sich in | |
die Erinnerung ein, jedes Detail bekommt eine besondere Bedeutung, die sich | |
später vielfach wandeln wird. Ob Schiffbruch oder Flucht, Strandung oder | |
Sturmflut: Etwas endet, anderes beginnt. Kommt die Ebbe, geht die Flut.“ | |
Nach solch magischen Sätzen hilft nur eins: Tasche packen, Wohnung | |
abschließen und aufbrechen. | |
4 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Naturschutz/!t5015167 | |
[2] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262 | |
[3] /Archiv-Suche/!1845113&s=Piper+Alpha&SuchRahmen=Print/ | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Totengrund_(Wilseder_Berg) | |
[5] /Woelfe/!t5019016 | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
## TAGS | |
Essay | |
Bücher | |
Natur | |
Hamburg | |
Landschaft | |
Tanz | |
Karl Marx | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Choreograf über Antarktis-Expedition: „Was auf See geschieht“ | |
Der Choreograf James Batchelor begleitete eine Expedition in der | |
antarktischen See. Ein Gespräch über Künstler als Seefahrer, Klima und die | |
Suche nach Unberührtem. | |
Landschaftstourismus als Ersatzreligion: Das Opium der Touristen | |
Marx, Heine und die Ökonomie des modernen Reisens: Sie waren Freunde, | |
Dichter, Philosophen und inspirierten sich gegenseitig. |