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# taz.de -- Soziologe über Klimawandel: „Ziele formulieren kann jeder“
> Wie kann man die Erderhitzung stoppen? Die einen glauben an Greta, die
> anderen an den Markt. Der Soziologe Armin Nassehi hat eine bessere Idee.
Bild: Soziologe Nassehi in Schwarz an Grün
Deutschlands wichtigster Gegenwartsanalytiker kommt morgens um 10 Uhr in
die taz-Kantine in Berlin-Kreuzberg. Die Kollegin vom Service sagt: „Und
was hättest du gern?“ Armin Nassehi zuckt keine Sekunde und bestellt. Er
ist Sohn einer Schwäbin und eines Iraners, Schalke-Fan, trägt immer Schwarz
und den Kopf haarfrei. Nassehi ist aus München eingeflogen für einen
Spottpreis, das ist halt so. Am Nachmittag trifft er eine
Spitzenpolitikerin, am Abend geht er ins klassische Konzert. Jetzt soll er
erklären, warum über die Zukunft nicht entscheidet, ob Grün-Rot-Rot oder
Grün-Schwarz regiert.
taz am wochenende: Herr Nassehi, manche halten Sie für einen unsicheren
Kantonisten, weil Sie das Rechts-links-Denken überwunden haben.
Armin Nassehi: Und weil ich mich nicht darauf einlasse, dass es eine
eindeutige oder einfach durchführbare oder gar revolutionäre Lösung unserer
Probleme gibt. Gibt es nicht. Wir müssen die Probleme mit den Bordmitteln
dieser Gesellschaft lösen, denn andere haben wir nicht.
Das wird von theoriebewussten Linken vehement bestritten, dass die Mitte
der bürgerlichen Gesellschaft etwas für alle voranbringen würde oder
könnte.
Was meint die „Mitte der bürgerlichen Gesellschaft“? Diese Mitte immer nur
als Mittemilieu oder so zu denken, ist doch langweilig. Zunächst gilt: Am
laufenden Motor kannst du keine Revolution machen, ohne ihn stillzulegen.
Ich will sagen: Die Widerständigkeit der Gesellschaft, ihre Struktur, ihre
Trägheit und ihre Unbeeindruckbarkeit ist enorm. Man muss einfach sehen,
wie schwierig der Eingriff in Systeme, Gewohnheiten, Lebenspraxis in einer
strukturell komplexen Welt ist. Das ist die entscheidende Frage, die aber
in politischen Diskussionen kaum mehr auftaucht: Wie funktionieren
Strategien?
Die Bundesregierung hat die Pariser Klimaziele mitbeschlossen – tut aber
nichts dafür, sie einzuhalten und den dafür nötigen sozialökologischen
Umbau voranzubringen.
Das Problem ist, dass wir nur noch Ziele haben. Ziele formulieren kann
jeder. Ich habe kürzlich einen Vortrag vor den versammelten
deutschsprachigen Klimaforschern gehalten, 400 Leute, die sagten, dass sie
den Politikern immer erklärten: Ihr müsst den CO2-Ausstoß um soundsoviel
Prozent senken oder auf diese oder jene Technologie setzen. Und die
unterschreiben dann Klimaschutzziele, teilweise mit bestem Wissen und
Gewissen – aber es gelingt schon deshalb nicht, weil man das Ziel bereits
für den Weg hält. Wer ein genaues Ziel vorgibt, scheitert womöglich daran,
dass das Ziel schon wie die Lösung aussieht. Dabei ist es der Weg dorthin,
um den es geht. Das gilt auch bei anderen operativen Fragen: Wenn jemand
seinen Blutdruck von 170/110 auf 120/70 senken soll, ist die Information
des wünschenswerten Ziels geradezu simpel im Vergleich zu der Frage, wie
man da hinkommt. Und wenn man das nicht fragt, wirkt jeder kleine Schritt
in die richtige Richtung lächerlich im Vergleich zum Ziel.
Haben Sie noch ein Beispiel?
Wenn man über ein 3-Liter-Auto sagt: Das verbraucht exakt drei Liter zu
viel. Die großen Ziele sind von einer sehr großen Hybris geprägt und
ignorieren das Operative und aktuell Mögliche. Es gibt aber auch eine
Entwertung durch Anerkennung. Nehmen Sie Fridays for Future: Die können
sich vor Anerkennung kaum retten, weil die Ziele so groß sind und als
letzte Dinge der Menschheit formuliert werden. Diese Anerkennung entwertet
das Engagement, weil es demonstriert, wie blank manche Konzepte doch sind.
Warum?
Weil Politik, Parteien, öffentliche Meinung und Unternehmen das Ziel loben,
aber kaum konkrete Lösungen zur Verfügung stellen. So gibt es im Hinblick
auf Fridays for Future nur Zustimmung oder Nichtzustimmung, beides löst das
Problem aber nicht. Die Unsäglichen von der AfD kehren den Spieß einfach
um. Also gibt es bei ihnen den Klimawandel gar nicht.
Wenn es um den Weg geht: Haben Sie denn einen?
Die klassische Industriegesellschaft war um zwei Achsen gebaut: das
Besitzverhältnis gegenüber den Produktionsmitteln und das Verhältnis
zwischen kulturellem Konservatismus und liberaler Öffnung. Heute geht es um
die Komplexitätsfolgen der Moderne, die politisch nicht mehr mit der alten
Parteidifferenzierung bearbeitet werden können.
Die Entscheidung fällt also nicht zwischen Grün-Schwarz, Grün-Rot-Rot oder
Jamaika?
Politisch schon, aber Politik ist nur ein System von vielen und in der
eigenen Logik gefangen. Es gibt auch eine rechtliche Logik, technische
Logik, wirtschaftliche Logik, wissenschaftliche Logik. Es geht nicht um das
Zusammenschließen von bestimmten Parteien oder ähnlich tickenden Milieus,
es geht heute um Bündnisse zwischen den Denkungsarten unterschiedlicher
Systeme und Funktionslogiken. Und man sollte sich nichts vormachen: An
Lösungen etwa für den Klimawandel wird außerhalb der Parlamente bereits
akribisch gearbeitet, in wissenschaftlichen Labors, in Unternehmen, in der
Stadtplanung, in der Architektur. Vieles davon bleibt erstaunlich
unsichtbar.
Viele denken: Die Systeme müssen sich halt zum Wohl des Großen und Ganzen
ändern.
Das ist schön gesagt, ein starker Satz, der wie die Lösung aussieht, aber
eher das Problem beschreibt. Wenn man etwas aus einer
gesellschaftstheoretischen Perspektive lernen kann, dann dies: Das Wohl des
Großen und Ganzen erscheint stets nur aus der Perspektive konkreter
Handlungsmuster und Perspektiven. Das Ganze ist eben nicht adressierbar und
nicht erreichbar. Das ist bitter, aber leider die unhintergehbare
Ausgangsbedingung. Die Funktionen der Systeme sind kaum zu ändern, aber man
kann ihre Ressourcen durchaus sehr unterschiedlich nutzen. Es geht darum,
die Kompetenzen innerhalb der Systeme anzuzapfen und nicht sie
auszuschalten. Es geht eher um konkrete Updates statt um Gesamtlösungen.
Was heißt das?
Keines dieser Systeme kann seine je eigene Logik außer Kraft setzen, um
sich dem Wohl des Großen und Ganzen zu verschreiben. In der Wirtschaft muss
man Geld verdienen können. Als Politiker muss man wiedergewählt werden
können, um Macht ausüben zu können. Rechtliche Normen müssen gelten dürfen.
Medien brauchen jeden Tag etwas zu melden. Diese Logiken arbeiten zum Teil
gegeneinander und sind nicht von einer Stelle aus kausal zu steuern.
Entscheidend ist, wie sich die unterschiedlichen Logiken ineinander
übersetzen lassen. Und es gilt: Ohne wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und
politische Stabilität wird es eng, nicht nur mit dem Klimawandel.
Der Moralist wird jedoch weiterhin sagen: Um die Erderhitzung zu begrenzen,
müssen wir unsere Leben und unsere Gesellschaftsform radikal ändern.
Am Klimathema kann man aber das Problem dabei genau sehen: Eine
Gesellschaft kennt keine Gesamtlösung. Die Idee der Gesamtlösung ist in
einem differenzierten System eine paradoxe Form. Eigentlich kann sich schon
demokratische Politik kaum auf ökologische Gefahren einstellen, weil
diejenigen, deren Verhalten sich ändern soll, wählen. Nicht wenige träumen
deshalb von durchaus autoritären Formen des Verbots, der Vorschrift und der
zentralen Lenkung. Es weht manchmal ein chinesischer Wind. Die Tragik
lautet: Die größten Ziele sind nur mit den kleinsten Schritten erreichbar.
Wie im richtigen Leben.
Jetzt haben wir einen pseudopolitischen Diskurs, in dem gesagt wird, die
Grünen werden wieder linker, die Union wird wieder rechter – je nach
Sichtweise gut oder schlimm? Was fängt man damit an?
Es sind beides falsche Bewegungen. Es geht eben nicht darum, linker zu
werden, auch nicht rechter zu werden, denn im Prinzip führen diese
Bewegungen weg von dem Problem, über das wir hier gerade sprechen. Über
Rechte muss man kaum reden. Die ethnischen Fragen und die um kulturelle
Differenz sind nicht unser Grundproblem, das ist eine aufgebauschte
Geschichte, für die es Lösungen gibt, auch durchaus restriktive, die aber
nicht rechts sein müssen. Dass auf der anderen Seite Gerechtigkeitsformen
organisiert werden müssen, speziell, wenn durch die Digitalisierung neue
Jobs entstehen, aber viele rausfallen oder viele einen Job haben, von dem
sie nicht leben können – das muss man lösen, das ist doch keine Frage.
Die Lösungen sind dann aber wieder nicht radikal genug?
Okay, man kann die radikale Lösung wollen, man kann sagen, dass man sofort
alles verbieten muss, und wird auch ein paar Leute finden, die das gut
finden. Aber das ist natürlich überhaupt nicht mehrheitsfähig. Am Ende
bricht sich Politik immer an dieser einen Frage, dass du damit Mehrheiten
organisieren musst. Das ist nun einmal das einzige politische Kriterium,
das funktioniert.
Aber kann ich den Gedanken ertragen, profaner Teil einer Mehrheit zu sein?
Das ist kulturell nicht eingeübt.
Der Luxus, zur Minderheit gehören zu wollen, setzt ein großes Vertrauen in
die Mehrheit voraus.
Sie meinen, es lief ja letztlich ganz gut bei Schmidt und Kohl und Schröder
und Merkel?
Das ist die Schlüsselszene in „Das Leben des Brian“. Die Judäische
Volksfront sitzt zusammen und fragt sich, wer eigentlich der Feind ist. Und
dann sagen sie: Die Römer? Nein, die direkte Konkurrenz, die Volksfront von
Judäa. Und dann zählen sie auf, was die Römer ihnen alles gebracht haben:
Kanalisation, soziale Sicherheit, Ordnung auf den Straßen und all diese
Sachen.
Könnten Sie noch mal begründen, warum klassische Volksparteien mit den
Problemen der Gegenwart nicht klarkommen?
Die Idee der klassischen Volkspartei war, dass ein bestimmtes Interesse mit
einem Milieu einigermaßen identisch war. Kapital und Arbeit, Union und
Sozis. Das war ein stabile Unterscheidung mit Teilen, die in einer stabilen
Unterscheidung direkt voneinander abhängig waren. Und das ist nicht mehr
da. Darauf kann man heute keine Volksparteien mehr bauen. Das kann man
heute nur, wenn man die unterschiedlichen gesellschaftlichen Logiken und
Systeme angemessen aufeinander bezieht.
Trotzdem will die SPD wieder linker werden, die Union konservativer?
Das Godesberger Programm der SPD von 1959 hatte die Idee, das politische
System und die dynamische Wirtschaft und das Rechtssystem so aufeinander zu
beziehen, dass neue Verbindungen entstehen. Dadurch wurde die
Sozialdemokratie viel größer und nicht nur für Arbeiter, sondern auch für
Intellektuelle interessant. Der linksliberale Lehrer war immer SPD, der
Lateinlehrer im Philologenverband war immer CDU. Diese Grundformen haben
wir immer noch im Kopf, und es gibt und gab wenige Politiker, die darüber
hinausgreifen. Aber genau diese Figuren sind entscheidend. Angela Merkel
ist hier vielleicht der paradigmatische Fall, verbunden übrigens mit der
Tragik der SPD, dass ihre unbestreitbaren Leistungen in der Groko nicht ihr
selbst zugerechnet werden.
Wer kann aktuell in der Bundespolitik die alten Grenzen sprengen?
Es ist kein Zufall, dass sich Kompetenzzuschreibung der angedeuteten Art
derzeit nicht unbedingt in den alten Volksparteien konzentriert, sondern
eher bei den Grünen, was sich ja in Wahlergebnissen und Umfragewerten auch
zeigt. Die Aggression, die sie derzeit zum Teil bei Rechtskonservativen
ernten, ist eine Art Umleitung der Aggression gegen Merkel, der man diese
Kompetenz des Denkens über die Lager hinweg dort übel genommen hat. Dass
jemandem wie Robert Habeck das derzeit offensichtlich gelingt, ist
beeindruckend.
Es gehört zur Wahrheit, dass Sie Ihr Konzept der neuen Bündnisse für die
Grünen entwickelt haben. Warum?
Na ja, ich arbeite seit langer Zeit über Übersetzungsfragen, und das hat
mit den Grünen zunächst nichts zu tun. Aber ich war mit Robert Habeck
darüber im Gespräch, auch mit Katrin Göring-Eckardt. Mein Vorschlag lautet:
Denkt über Bündnisse von Akteuren unterschiedlicher Systemlogiken nach.
Gründet Orte dafür, Foren, in denen sich die unterschiedlichen Logiken
gegenseitig verunsichern können und wo auch die Übersetzungskonflikte hart
ausgetragen werden können. Und dass die Verteilung der Klugen sich nicht an
Parteigrenzen hält, wissen wir. Aber hier muss jemand die
Meinungsführerschaft übernehmen und sich den Konflikten auch stellen.
Die Gesellschaft hat gerade angefangen, die Bundesgrünen durch Annalena
Baerbock und Robert Habeck neu zu sehen, manchen Medien wird die
Aufmerksamkeit schon wieder zu viel.
Die anbiedernde Geste vieler Medien der Person Habeck gegenüber ist
peinlich und ein Ausdruck des Verlusts von Urteilskraft bei einem großen
Teil der kommentierenden Klasse. Das ändert nichts an seinem
lagerübergreifenden Denken. Fast noch beeindruckender finde ich, wie es
Annalena Baerbock gelingt, etwa vor Wirtschaftsvertretern zu reüssieren und
inhaltliche Brücken in andere Logiken zu bauen. Das ist offensichtlich die
beginnende Kompetenz, die unterschiedlichen Logiken der Gesellschaft
aufeinander beziehen zu können. Strukturell ähnelt das der
Nach-Godesberg-SPD, aber in einer ganz anderen historischen Situation.
Und es wäre von der Logik her etwas anderes als die Idee der linken
Mehrheit mit Polarisierungspotenzial, wofür etwa Katja Kipping steht.
Ist die Idee der linken Mehrheit tot?
Weiß man nicht.
Ich meine inhaltlich.
Inhaltlich schon. Es gibt auch ein Milieu, das Grün nur wählen würde, wenn
nicht R2G dabei rauskäme.
Was ist das Problem?
Das ist nicht die alte Linkenkritik, da sitzen genug vernünftige Leute.
Wahrscheinlich muss eine politische Kraft sich wenigstens einem politischen
Paradigmenwechsel stellen. Es geht nicht mehr um die Links-rechts-Achse,
sondern eher um die Frage, ob es gelingt, politische und ökonomische
Dynamiken, wissenschaftliches Wissen und rechtliche Formen aufeinander zu
beziehen. Genaugenommen ist das immer das zentrale Thema des Kapitalismus
und seiner Folgen gewesen – aber die klassische Akteurskonstellation hat
das in Milieus aufgelöst. Heute wird es nicht anders gehen, als ökonomische
Akteure, die Wirtschaft, wie wir gern sagen, ins Boot zu holen. Ich
fürchte, dass eine linke Mehrheit eher die klassischen Konfliktlinien
verlängert.
Die sozialökologische Bewegung und auch die grüne Partei wurden bisher von
ihren Gegnern als bürgerliche Postmaterialisten auf Sinnsuche skizziert.
Nun haben wir eine Jugend auf der Straße, die einfordert, dass ihre
materielle Grundlage, die Erde, nicht zerstört und ihre Zukunft verheizt
wird.
Genau darum geht es: nicht mehr nur um die üblichen milieudifferenzierenden
Fragen, sondern um ein externes Problem. Bei allen anderen Dingen kann man
interpretieren: Freiheitsverlust? Gibt es nicht. Gerechtigkeit? Haben wir
längst. Aber Erderhitzung kann man nicht weginterpretieren. Bisher war
Umwelt mehr eine interne Frage, nämlich, wie wir sie verteilen. Die
Marxisten hatten eine Idee von materieller Umwelt, aber es war nur eine
Frage der Produktivkräfte, ob man das entsprechend ausbeuten und dann
gerecht verteilen kann. Jetzt sind die Produktivkräfte das Problem und
nicht die Lösung. Da ist die Frage: Muss man die Produktivkräfte loswerden,
um das Problem zu lösen, muss man sie ändern oder womöglich gar steigern?
Diese Herausforderung ist mit den klassischen Bordmitteln nicht zu lösen.
Deshalb funktionieren die klassischen Milieus nicht und die klassischen
Konflikte auch nicht.
Konkret?
Das CO2-Problem wird sich weder als Gerechtigkeitsproblem lösen lassen noch
mit der eher bürgerlichen Idee des freiwilligen Verzichts und schon gar
nicht mit Staatslenkung und Verboten. Aber es gibt schon sehr
unterschiedliche milieubedingte Energieverbrauchsmuster. Eine CO2-Steuer
würde sicher sinnvolle Anreize für die Industrie setzen, für das
individuelle Verhalten ist es in den sozial schwachen Milieus eher
bedeutungslos, weil dort ohnehin weniger Energie verbraucht wird. Es würde
dort sogar zu Entlastungen kommen. Und bei den Besserverdienenden wird der
Benzinpreis oder eine CO2-Steuer die Leute kaum am Fahren oder Fliegen
hindern, eine perfekte Infrastruktur aber vielleicht schon, etwa der ICE
Berlin–München. Wäre übrigens auch ein schönes Investitionsprogramm. Solc…
Konzepte sind möglich, werden aber zu wenig verfolgt, was ein großes
Misstrauen in die politischen Problemlösungskapazitäten hineinbringt. Warum
triggert denn Fridays for Future eine ganze Generation?
Wie wird aus dem generationellen Protest ernsthafte Klimapolitik?
Richard David Precht etwa meint, die Leute wollten Verbote. Ich würde eher
von praktikabel erscheinenden klaren Regeln sprechen. Aber die Frage ist,
wie und wer davon profitieren kann. Darum geht es. Wenn man Menschen etwas
wegnimmt, muss man ihnen was anderes geben. Damit meine ich nicht Geld,
sondern Lösungen für das, was sie nicht mehr machen sollen. In der
Mobilität, beim Fleischessen und so weiter. Das funktioniert wie auf
Märkten – und vielleicht sollte man die Angst vor der Marktlogik verlieren.
Es fallen mir genügend Bereiche der Gesellschaft ein, bei denen die
Marktlogik versagt und sogar eher schädliche Folgen hat. Aber wenn es ums
konkrete Verhalten geht, geht nichts über Anreizstrukturen.
Selbst über Industriefleischreduktion kann man bisher nicht vernünftig
reden.
Die Herausforderungen sind so groß, da bleibt uns nichts anderes übrig, als
das große Gespräch zu führen, wie Willy Brandt das genannt hat. Wir haben
die Westbindung hingekriegt, dann die Ostpolitik, die soziale
Aufstiegspolitik mit ihren ideologischen Debatten, immer verbunden mit den
Warnungen, dass das Land zugrunde geht und es am Ende unendlich
profitierte.
Ausgerechnet die Grünen sollen dieses neue Willy-Gespräch voranbringen?
Eine verbreitete Annahme ist immer noch, dass die Grünen ein
selbstbezogenes Milieu von okay verdienenden Weltbürgern seien.
Die Grünen sind ja insofern eine moderne Partei, dass sie nicht mehr wie
Volksparteien der Industriegesellschaft die Sachprobleme ihrer Milieus
abbildeten und bearbeiteten. Mir geht es aber nicht um den Milieubereich,
dazu gibt es widersprüchliche Forschungsergebnisse. Mir geht es jetzt um
die Streuung in den Funktionssystemen. Da sitzen Wissenschaftler,
Unternehmer, Lehrer, Ärzte, Anwälte, Techniker, Gewerkschafter zuzüglich
weiblicher Formen natürlich. Man kann nicht sagen, das sei eine Partei, die
eher auf der Seite von Kapital oder Arbeit steht, die eher soziale
Gerechtigkeit oder Bewahrung will.
Sondern?
Das ist eine, die dazwischen steht, was ihnen von den Linken immer übel
genommen wurde. Darin sind sie übrigens der Union viel ähnlicher als der
Sozialdemokratie, weil auch dort mit ähnlichen Bezugsproblemen gearbeitet
werden muss. Ich denke, dass die entscheidende strategische Partnerschaft
für das Experiment einer Politik der Bündnisse mit unterschiedlichen
Logiken am ehesten mit der Union möglich ist, auch weil das das eigentliche
Thema eines modernen Konservatismus sein müsste. Mal sehen, ob sich da
entsprechendes Personal herausbildet. Es sieht gerade nicht so aus, aber
ich hätte ein paar Namen im Sinn. Die Grünen wollen eine radikale
Transformation ohne radikale Revolution. Und sie glauben an technische
Lösungen. Sie sind sowohl wirtschaftsnah als auch protestnah.
Ist das jetzt ein Vorteil?
Man kann selbstverständlich sagen, ich will den Kapitalismus gar nicht,
aber damit setzt man seine Logik nicht außer Kraft. Man muss die Marktlogik
so einsetzen, dass sie die Sache voranbringt. Wir müssen denen helfen, mit
den richtigen Sachen Gewinne zu machen, wie etwa Ralf Fücks seine liberale
Idee skizziert hat. Vertragliche Modelle zwischen Staat und Wirtschaft, ein
ganz neues Verhältnis zu den Gewerkschaften, die sich auch auf
Transformationen einstellen, nicht zuletzt die Frage intelligenter
Steuerung durch technische, rechtliche und ökonomische Anreizformen – nur
damit kann man langfristige Politik machen. Die unterschiedlichen Logiken
ineinander übersetzen und nicht in einer zentralen Idee aufheben – das wäre
jene Transformation, die die Tradition der liberalen Idee der
Gewaltenteilung von der politischen Sphäre in die Gesellschaft hineinholen
will. Diese Übersetzungsleistung – das wäre für mich eine gute Strategie.
Vielleicht müssen die Grünen nicht linker werden und nicht konservativer,
aber liberaler vielleicht in dem Sinne, dass sie Andockstellen an ganz
unterschiedliche Systemlogiken finden müssen. Beim Liberalen ist noch viel
Luft nach oben.
Diese Übersetzung versuchen Kretschmann, Habeck, Al-Wazir seit Jahren.
Aber für viele Funktionäre ist es ein radikaler Widerspruch zu dem, was sie
gelernt haben, was sie fühlen, wie sie aufgewachsen sind?
Ja, aber nicht nur für die Grünen, das ist für alle ein Widerspruch.
Irgendwie müssen sie alle Federn lassen, damit ihnen neue wachsen. Wir
sehen es doch in der Union, die keine Idee davon hat, was sie da eigentlich
bewahren will. Wir sehen es bei den Liberalen, für die derzeit eigentlich
Hochzeit sein müsste. Wir sehen es bei den Sozialdemokraten, die ihren
Fokus völlig verloren haben. Und wir sehen es bei den Linken, die ja
durchaus einen interessanten Lernprozess hinter sich haben. Aber es geht
nicht mehr mit der Hybris einer Kontrolllogik. Ein komplexes System lässt
sich nicht gängeln.
Wie geht es?
Es geht um intelligente Gängelung, um die Entfachung von Eigendynamiken.
Welche?
Wir haben genügend Beispiele. Wenn man Schutzrechte für Arbeitnehmer
einbaut, geht jedes Mal das Abendland unter, das kennen wir doch.
Kündigungsschutz, Mutterschutz, Mindestlohn, immer sagen wirtschaftliche
Akteure: Geht nicht. Zwei Jahre später gewöhnen sie sich dran. Man darf
doch nicht glauben, dass die Leute das tun, was sie sagen. Sie tun, was
sich bewährt. Ich bin da illusionsfrei, dass es über Aufklärung läuft. Sie
müssen sich an bestimmte Argumente und Praktiken gewöhnen.
Die bequemere Denkungsart geht andersherum: Mit denen geht das nicht.
Es ist strukturell ähnlich mit dem, was ich Bündnisse der unterschiedlichen
Logiken nenne: Man müsste mit denen arbeiten, die eher maximal
unterschiedlich als maximal ähnlich sind. Das wäre die Grundlogik, die
Übersetzungslogik, die ich vorschlage.
Das müsste man.
Ich weiß, das hört sich unglaublich naiv an, aber es ist die einzige
Möglichkeit. Es geht um das Äquivalent dessen, was in der Wissenschaft
Interdisziplinarität heißt. Natürlich haben die Leute je eigene Interessen.
Aber es muss klar werden, dass die nur in strategischen Partnerschaften
erreicht werden können. Man muss über die Grenzen hinausdenken. Das können
nur die Schlauen. Und das ist nicht nur ein politisches Programm, das muss
auch unternehmerisch, gewerkschaftlich, wissenschaftlich, rechtlich und
nicht zuletzt technisch gedacht werden.
Das ist elitär, damit werden die Dummen nicht glücklich sein.
Natürlich ist das elitär, das ist immer elitär gewesen. Die pädagogische
und politische Kunst der Eliten ist es, den Leuten Dinge zu sagen, von
denen sie denken, dass sie sie selbst gesagt haben. Leider ist das auch die
Kunst der Unsäglichen. Die AfD schafft es, bei Leuten Ressentiments zu
produzieren, die vorher gar nicht auf die Idee gekommen wären. Aber das
Entscheidende sind die Übersetzungsleistungen. Ich selbst bin dadurch erst
auf Fragen gekommen, auf die ich mit meinen eigenen Mitteln nicht gekommen
wäre. Daraus muss man mehr machen. Das ist Kompetenz. Das ist es, was
Eliten können müssen – Übersetzung leisten. Und wenn ich noch eine
Bemerkung zum Anfang des Gesprächs machen darf: Der Vorwurf des unsicheren
Kantonisten ist für mich als engagiertem Chorsänger natürlich schon
niederschmetternd.
15 Jun 2019
## AUTOREN
Peter Unfried
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