# taz.de -- Soziologe über Klimawandel: „Ziele formulieren kann jeder“ | |
> Wie kann man die Erderhitzung stoppen? Die einen glauben an Greta, die | |
> anderen an den Markt. Der Soziologe Armin Nassehi hat eine bessere Idee. | |
Bild: Soziologe Nassehi in Schwarz an Grün | |
Deutschlands wichtigster Gegenwartsanalytiker kommt morgens um 10 Uhr in | |
die taz-Kantine in Berlin-Kreuzberg. Die Kollegin vom Service sagt: „Und | |
was hättest du gern?“ Armin Nassehi zuckt keine Sekunde und bestellt. Er | |
ist Sohn einer Schwäbin und eines Iraners, Schalke-Fan, trägt immer Schwarz | |
und den Kopf haarfrei. Nassehi ist aus München eingeflogen für einen | |
Spottpreis, das ist halt so. Am Nachmittag trifft er eine | |
Spitzenpolitikerin, am Abend geht er ins klassische Konzert. Jetzt soll er | |
erklären, warum über die Zukunft nicht entscheidet, ob Grün-Rot-Rot oder | |
Grün-Schwarz regiert. | |
taz am wochenende: Herr Nassehi, manche halten Sie für einen unsicheren | |
Kantonisten, weil Sie das Rechts-links-Denken überwunden haben. | |
Armin Nassehi: Und weil ich mich nicht darauf einlasse, dass es eine | |
eindeutige oder einfach durchführbare oder gar revolutionäre Lösung unserer | |
Probleme gibt. Gibt es nicht. Wir müssen die Probleme mit den Bordmitteln | |
dieser Gesellschaft lösen, denn andere haben wir nicht. | |
Das wird von theoriebewussten Linken vehement bestritten, dass die Mitte | |
der bürgerlichen Gesellschaft etwas für alle voranbringen würde oder | |
könnte. | |
Was meint die „Mitte der bürgerlichen Gesellschaft“? Diese Mitte immer nur | |
als Mittemilieu oder so zu denken, ist doch langweilig. Zunächst gilt: Am | |
laufenden Motor kannst du keine Revolution machen, ohne ihn stillzulegen. | |
Ich will sagen: Die Widerständigkeit der Gesellschaft, ihre Struktur, ihre | |
Trägheit und ihre Unbeeindruckbarkeit ist enorm. Man muss einfach sehen, | |
wie schwierig der Eingriff in Systeme, Gewohnheiten, Lebenspraxis in einer | |
strukturell komplexen Welt ist. Das ist die entscheidende Frage, die aber | |
in politischen Diskussionen kaum mehr auftaucht: Wie funktionieren | |
Strategien? | |
Die Bundesregierung hat die Pariser Klimaziele mitbeschlossen – tut aber | |
nichts dafür, sie einzuhalten und den dafür nötigen sozialökologischen | |
Umbau voranzubringen. | |
Das Problem ist, dass wir nur noch Ziele haben. Ziele formulieren kann | |
jeder. Ich habe kürzlich einen Vortrag vor den versammelten | |
deutschsprachigen Klimaforschern gehalten, 400 Leute, die sagten, dass sie | |
den Politikern immer erklärten: Ihr müsst den CO2-Ausstoß um soundsoviel | |
Prozent senken oder auf diese oder jene Technologie setzen. Und die | |
unterschreiben dann Klimaschutzziele, teilweise mit bestem Wissen und | |
Gewissen – aber es gelingt schon deshalb nicht, weil man das Ziel bereits | |
für den Weg hält. Wer ein genaues Ziel vorgibt, scheitert womöglich daran, | |
dass das Ziel schon wie die Lösung aussieht. Dabei ist es der Weg dorthin, | |
um den es geht. Das gilt auch bei anderen operativen Fragen: Wenn jemand | |
seinen Blutdruck von 170/110 auf 120/70 senken soll, ist die Information | |
des wünschenswerten Ziels geradezu simpel im Vergleich zu der Frage, wie | |
man da hinkommt. Und wenn man das nicht fragt, wirkt jeder kleine Schritt | |
in die richtige Richtung lächerlich im Vergleich zum Ziel. | |
Haben Sie noch ein Beispiel? | |
Wenn man über ein 3-Liter-Auto sagt: Das verbraucht exakt drei Liter zu | |
viel. Die großen Ziele sind von einer sehr großen Hybris geprägt und | |
ignorieren das Operative und aktuell Mögliche. Es gibt aber auch eine | |
Entwertung durch Anerkennung. Nehmen Sie Fridays for Future: Die können | |
sich vor Anerkennung kaum retten, weil die Ziele so groß sind und als | |
letzte Dinge der Menschheit formuliert werden. Diese Anerkennung entwertet | |
das Engagement, weil es demonstriert, wie blank manche Konzepte doch sind. | |
Warum? | |
Weil Politik, Parteien, öffentliche Meinung und Unternehmen das Ziel loben, | |
aber kaum konkrete Lösungen zur Verfügung stellen. So gibt es im Hinblick | |
auf Fridays for Future nur Zustimmung oder Nichtzustimmung, beides löst das | |
Problem aber nicht. Die Unsäglichen von der AfD kehren den Spieß einfach | |
um. Also gibt es bei ihnen den Klimawandel gar nicht. | |
Wenn es um den Weg geht: Haben Sie denn einen? | |
Die klassische Industriegesellschaft war um zwei Achsen gebaut: das | |
Besitzverhältnis gegenüber den Produktionsmitteln und das Verhältnis | |
zwischen kulturellem Konservatismus und liberaler Öffnung. Heute geht es um | |
die Komplexitätsfolgen der Moderne, die politisch nicht mehr mit der alten | |
Parteidifferenzierung bearbeitet werden können. | |
Die Entscheidung fällt also nicht zwischen Grün-Schwarz, Grün-Rot-Rot oder | |
Jamaika? | |
Politisch schon, aber Politik ist nur ein System von vielen und in der | |
eigenen Logik gefangen. Es gibt auch eine rechtliche Logik, technische | |
Logik, wirtschaftliche Logik, wissenschaftliche Logik. Es geht nicht um das | |
Zusammenschließen von bestimmten Parteien oder ähnlich tickenden Milieus, | |
es geht heute um Bündnisse zwischen den Denkungsarten unterschiedlicher | |
Systeme und Funktionslogiken. Und man sollte sich nichts vormachen: An | |
Lösungen etwa für den Klimawandel wird außerhalb der Parlamente bereits | |
akribisch gearbeitet, in wissenschaftlichen Labors, in Unternehmen, in der | |
Stadtplanung, in der Architektur. Vieles davon bleibt erstaunlich | |
unsichtbar. | |
Viele denken: Die Systeme müssen sich halt zum Wohl des Großen und Ganzen | |
ändern. | |
Das ist schön gesagt, ein starker Satz, der wie die Lösung aussieht, aber | |
eher das Problem beschreibt. Wenn man etwas aus einer | |
gesellschaftstheoretischen Perspektive lernen kann, dann dies: Das Wohl des | |
Großen und Ganzen erscheint stets nur aus der Perspektive konkreter | |
Handlungsmuster und Perspektiven. Das Ganze ist eben nicht adressierbar und | |
nicht erreichbar. Das ist bitter, aber leider die unhintergehbare | |
Ausgangsbedingung. Die Funktionen der Systeme sind kaum zu ändern, aber man | |
kann ihre Ressourcen durchaus sehr unterschiedlich nutzen. Es geht darum, | |
die Kompetenzen innerhalb der Systeme anzuzapfen und nicht sie | |
auszuschalten. Es geht eher um konkrete Updates statt um Gesamtlösungen. | |
Was heißt das? | |
Keines dieser Systeme kann seine je eigene Logik außer Kraft setzen, um | |
sich dem Wohl des Großen und Ganzen zu verschreiben. In der Wirtschaft muss | |
man Geld verdienen können. Als Politiker muss man wiedergewählt werden | |
können, um Macht ausüben zu können. Rechtliche Normen müssen gelten dürfen. | |
Medien brauchen jeden Tag etwas zu melden. Diese Logiken arbeiten zum Teil | |
gegeneinander und sind nicht von einer Stelle aus kausal zu steuern. | |
Entscheidend ist, wie sich die unterschiedlichen Logiken ineinander | |
übersetzen lassen. Und es gilt: Ohne wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und | |
politische Stabilität wird es eng, nicht nur mit dem Klimawandel. | |
Der Moralist wird jedoch weiterhin sagen: Um die Erderhitzung zu begrenzen, | |
müssen wir unsere Leben und unsere Gesellschaftsform radikal ändern. | |
Am Klimathema kann man aber das Problem dabei genau sehen: Eine | |
Gesellschaft kennt keine Gesamtlösung. Die Idee der Gesamtlösung ist in | |
einem differenzierten System eine paradoxe Form. Eigentlich kann sich schon | |
demokratische Politik kaum auf ökologische Gefahren einstellen, weil | |
diejenigen, deren Verhalten sich ändern soll, wählen. Nicht wenige träumen | |
deshalb von durchaus autoritären Formen des Verbots, der Vorschrift und der | |
zentralen Lenkung. Es weht manchmal ein chinesischer Wind. Die Tragik | |
lautet: Die größten Ziele sind nur mit den kleinsten Schritten erreichbar. | |
Wie im richtigen Leben. | |
Jetzt haben wir einen pseudopolitischen Diskurs, in dem gesagt wird, die | |
Grünen werden wieder linker, die Union wird wieder rechter – je nach | |
Sichtweise gut oder schlimm? Was fängt man damit an? | |
Es sind beides falsche Bewegungen. Es geht eben nicht darum, linker zu | |
werden, auch nicht rechter zu werden, denn im Prinzip führen diese | |
Bewegungen weg von dem Problem, über das wir hier gerade sprechen. Über | |
Rechte muss man kaum reden. Die ethnischen Fragen und die um kulturelle | |
Differenz sind nicht unser Grundproblem, das ist eine aufgebauschte | |
Geschichte, für die es Lösungen gibt, auch durchaus restriktive, die aber | |
nicht rechts sein müssen. Dass auf der anderen Seite Gerechtigkeitsformen | |
organisiert werden müssen, speziell, wenn durch die Digitalisierung neue | |
Jobs entstehen, aber viele rausfallen oder viele einen Job haben, von dem | |
sie nicht leben können – das muss man lösen, das ist doch keine Frage. | |
Die Lösungen sind dann aber wieder nicht radikal genug? | |
Okay, man kann die radikale Lösung wollen, man kann sagen, dass man sofort | |
alles verbieten muss, und wird auch ein paar Leute finden, die das gut | |
finden. Aber das ist natürlich überhaupt nicht mehrheitsfähig. Am Ende | |
bricht sich Politik immer an dieser einen Frage, dass du damit Mehrheiten | |
organisieren musst. Das ist nun einmal das einzige politische Kriterium, | |
das funktioniert. | |
Aber kann ich den Gedanken ertragen, profaner Teil einer Mehrheit zu sein? | |
Das ist kulturell nicht eingeübt. | |
Der Luxus, zur Minderheit gehören zu wollen, setzt ein großes Vertrauen in | |
die Mehrheit voraus. | |
Sie meinen, es lief ja letztlich ganz gut bei Schmidt und Kohl und Schröder | |
und Merkel? | |
Das ist die Schlüsselszene in „Das Leben des Brian“. Die Judäische | |
Volksfront sitzt zusammen und fragt sich, wer eigentlich der Feind ist. Und | |
dann sagen sie: Die Römer? Nein, die direkte Konkurrenz, die Volksfront von | |
Judäa. Und dann zählen sie auf, was die Römer ihnen alles gebracht haben: | |
Kanalisation, soziale Sicherheit, Ordnung auf den Straßen und all diese | |
Sachen. | |
Könnten Sie noch mal begründen, warum klassische Volksparteien mit den | |
Problemen der Gegenwart nicht klarkommen? | |
Die Idee der klassischen Volkspartei war, dass ein bestimmtes Interesse mit | |
einem Milieu einigermaßen identisch war. Kapital und Arbeit, Union und | |
Sozis. Das war ein stabile Unterscheidung mit Teilen, die in einer stabilen | |
Unterscheidung direkt voneinander abhängig waren. Und das ist nicht mehr | |
da. Darauf kann man heute keine Volksparteien mehr bauen. Das kann man | |
heute nur, wenn man die unterschiedlichen gesellschaftlichen Logiken und | |
Systeme angemessen aufeinander bezieht. | |
Trotzdem will die SPD wieder linker werden, die Union konservativer? | |
Das Godesberger Programm der SPD von 1959 hatte die Idee, das politische | |
System und die dynamische Wirtschaft und das Rechtssystem so aufeinander zu | |
beziehen, dass neue Verbindungen entstehen. Dadurch wurde die | |
Sozialdemokratie viel größer und nicht nur für Arbeiter, sondern auch für | |
Intellektuelle interessant. Der linksliberale Lehrer war immer SPD, der | |
Lateinlehrer im Philologenverband war immer CDU. Diese Grundformen haben | |
wir immer noch im Kopf, und es gibt und gab wenige Politiker, die darüber | |
hinausgreifen. Aber genau diese Figuren sind entscheidend. Angela Merkel | |
ist hier vielleicht der paradigmatische Fall, verbunden übrigens mit der | |
Tragik der SPD, dass ihre unbestreitbaren Leistungen in der Groko nicht ihr | |
selbst zugerechnet werden. | |
Wer kann aktuell in der Bundespolitik die alten Grenzen sprengen? | |
Es ist kein Zufall, dass sich Kompetenzzuschreibung der angedeuteten Art | |
derzeit nicht unbedingt in den alten Volksparteien konzentriert, sondern | |
eher bei den Grünen, was sich ja in Wahlergebnissen und Umfragewerten auch | |
zeigt. Die Aggression, die sie derzeit zum Teil bei Rechtskonservativen | |
ernten, ist eine Art Umleitung der Aggression gegen Merkel, der man diese | |
Kompetenz des Denkens über die Lager hinweg dort übel genommen hat. Dass | |
jemandem wie Robert Habeck das derzeit offensichtlich gelingt, ist | |
beeindruckend. | |
Es gehört zur Wahrheit, dass Sie Ihr Konzept der neuen Bündnisse für die | |
Grünen entwickelt haben. Warum? | |
Na ja, ich arbeite seit langer Zeit über Übersetzungsfragen, und das hat | |
mit den Grünen zunächst nichts zu tun. Aber ich war mit Robert Habeck | |
darüber im Gespräch, auch mit Katrin Göring-Eckardt. Mein Vorschlag lautet: | |
Denkt über Bündnisse von Akteuren unterschiedlicher Systemlogiken nach. | |
Gründet Orte dafür, Foren, in denen sich die unterschiedlichen Logiken | |
gegenseitig verunsichern können und wo auch die Übersetzungskonflikte hart | |
ausgetragen werden können. Und dass die Verteilung der Klugen sich nicht an | |
Parteigrenzen hält, wissen wir. Aber hier muss jemand die | |
Meinungsführerschaft übernehmen und sich den Konflikten auch stellen. | |
Die Gesellschaft hat gerade angefangen, die Bundesgrünen durch Annalena | |
Baerbock und Robert Habeck neu zu sehen, manchen Medien wird die | |
Aufmerksamkeit schon wieder zu viel. | |
Die anbiedernde Geste vieler Medien der Person Habeck gegenüber ist | |
peinlich und ein Ausdruck des Verlusts von Urteilskraft bei einem großen | |
Teil der kommentierenden Klasse. Das ändert nichts an seinem | |
lagerübergreifenden Denken. Fast noch beeindruckender finde ich, wie es | |
Annalena Baerbock gelingt, etwa vor Wirtschaftsvertretern zu reüssieren und | |
inhaltliche Brücken in andere Logiken zu bauen. Das ist offensichtlich die | |
beginnende Kompetenz, die unterschiedlichen Logiken der Gesellschaft | |
aufeinander beziehen zu können. Strukturell ähnelt das der | |
Nach-Godesberg-SPD, aber in einer ganz anderen historischen Situation. | |
Und es wäre von der Logik her etwas anderes als die Idee der linken | |
Mehrheit mit Polarisierungspotenzial, wofür etwa Katja Kipping steht. | |
Ist die Idee der linken Mehrheit tot? | |
Weiß man nicht. | |
Ich meine inhaltlich. | |
Inhaltlich schon. Es gibt auch ein Milieu, das Grün nur wählen würde, wenn | |
nicht R2G dabei rauskäme. | |
Was ist das Problem? | |
Das ist nicht die alte Linkenkritik, da sitzen genug vernünftige Leute. | |
Wahrscheinlich muss eine politische Kraft sich wenigstens einem politischen | |
Paradigmenwechsel stellen. Es geht nicht mehr um die Links-rechts-Achse, | |
sondern eher um die Frage, ob es gelingt, politische und ökonomische | |
Dynamiken, wissenschaftliches Wissen und rechtliche Formen aufeinander zu | |
beziehen. Genaugenommen ist das immer das zentrale Thema des Kapitalismus | |
und seiner Folgen gewesen – aber die klassische Akteurskonstellation hat | |
das in Milieus aufgelöst. Heute wird es nicht anders gehen, als ökonomische | |
Akteure, die Wirtschaft, wie wir gern sagen, ins Boot zu holen. Ich | |
fürchte, dass eine linke Mehrheit eher die klassischen Konfliktlinien | |
verlängert. | |
Die sozialökologische Bewegung und auch die grüne Partei wurden bisher von | |
ihren Gegnern als bürgerliche Postmaterialisten auf Sinnsuche skizziert. | |
Nun haben wir eine Jugend auf der Straße, die einfordert, dass ihre | |
materielle Grundlage, die Erde, nicht zerstört und ihre Zukunft verheizt | |
wird. | |
Genau darum geht es: nicht mehr nur um die üblichen milieudifferenzierenden | |
Fragen, sondern um ein externes Problem. Bei allen anderen Dingen kann man | |
interpretieren: Freiheitsverlust? Gibt es nicht. Gerechtigkeit? Haben wir | |
längst. Aber Erderhitzung kann man nicht weginterpretieren. Bisher war | |
Umwelt mehr eine interne Frage, nämlich, wie wir sie verteilen. Die | |
Marxisten hatten eine Idee von materieller Umwelt, aber es war nur eine | |
Frage der Produktivkräfte, ob man das entsprechend ausbeuten und dann | |
gerecht verteilen kann. Jetzt sind die Produktivkräfte das Problem und | |
nicht die Lösung. Da ist die Frage: Muss man die Produktivkräfte loswerden, | |
um das Problem zu lösen, muss man sie ändern oder womöglich gar steigern? | |
Diese Herausforderung ist mit den klassischen Bordmitteln nicht zu lösen. | |
Deshalb funktionieren die klassischen Milieus nicht und die klassischen | |
Konflikte auch nicht. | |
Konkret? | |
Das CO2-Problem wird sich weder als Gerechtigkeitsproblem lösen lassen noch | |
mit der eher bürgerlichen Idee des freiwilligen Verzichts und schon gar | |
nicht mit Staatslenkung und Verboten. Aber es gibt schon sehr | |
unterschiedliche milieubedingte Energieverbrauchsmuster. Eine CO2-Steuer | |
würde sicher sinnvolle Anreize für die Industrie setzen, für das | |
individuelle Verhalten ist es in den sozial schwachen Milieus eher | |
bedeutungslos, weil dort ohnehin weniger Energie verbraucht wird. Es würde | |
dort sogar zu Entlastungen kommen. Und bei den Besserverdienenden wird der | |
Benzinpreis oder eine CO2-Steuer die Leute kaum am Fahren oder Fliegen | |
hindern, eine perfekte Infrastruktur aber vielleicht schon, etwa der ICE | |
Berlin–München. Wäre übrigens auch ein schönes Investitionsprogramm. Solc… | |
Konzepte sind möglich, werden aber zu wenig verfolgt, was ein großes | |
Misstrauen in die politischen Problemlösungskapazitäten hineinbringt. Warum | |
triggert denn Fridays for Future eine ganze Generation? | |
Wie wird aus dem generationellen Protest ernsthafte Klimapolitik? | |
Richard David Precht etwa meint, die Leute wollten Verbote. Ich würde eher | |
von praktikabel erscheinenden klaren Regeln sprechen. Aber die Frage ist, | |
wie und wer davon profitieren kann. Darum geht es. Wenn man Menschen etwas | |
wegnimmt, muss man ihnen was anderes geben. Damit meine ich nicht Geld, | |
sondern Lösungen für das, was sie nicht mehr machen sollen. In der | |
Mobilität, beim Fleischessen und so weiter. Das funktioniert wie auf | |
Märkten – und vielleicht sollte man die Angst vor der Marktlogik verlieren. | |
Es fallen mir genügend Bereiche der Gesellschaft ein, bei denen die | |
Marktlogik versagt und sogar eher schädliche Folgen hat. Aber wenn es ums | |
konkrete Verhalten geht, geht nichts über Anreizstrukturen. | |
Selbst über Industriefleischreduktion kann man bisher nicht vernünftig | |
reden. | |
Die Herausforderungen sind so groß, da bleibt uns nichts anderes übrig, als | |
das große Gespräch zu führen, wie Willy Brandt das genannt hat. Wir haben | |
die Westbindung hingekriegt, dann die Ostpolitik, die soziale | |
Aufstiegspolitik mit ihren ideologischen Debatten, immer verbunden mit den | |
Warnungen, dass das Land zugrunde geht und es am Ende unendlich | |
profitierte. | |
Ausgerechnet die Grünen sollen dieses neue Willy-Gespräch voranbringen? | |
Eine verbreitete Annahme ist immer noch, dass die Grünen ein | |
selbstbezogenes Milieu von okay verdienenden Weltbürgern seien. | |
Die Grünen sind ja insofern eine moderne Partei, dass sie nicht mehr wie | |
Volksparteien der Industriegesellschaft die Sachprobleme ihrer Milieus | |
abbildeten und bearbeiteten. Mir geht es aber nicht um den Milieubereich, | |
dazu gibt es widersprüchliche Forschungsergebnisse. Mir geht es jetzt um | |
die Streuung in den Funktionssystemen. Da sitzen Wissenschaftler, | |
Unternehmer, Lehrer, Ärzte, Anwälte, Techniker, Gewerkschafter zuzüglich | |
weiblicher Formen natürlich. Man kann nicht sagen, das sei eine Partei, die | |
eher auf der Seite von Kapital oder Arbeit steht, die eher soziale | |
Gerechtigkeit oder Bewahrung will. | |
Sondern? | |
Das ist eine, die dazwischen steht, was ihnen von den Linken immer übel | |
genommen wurde. Darin sind sie übrigens der Union viel ähnlicher als der | |
Sozialdemokratie, weil auch dort mit ähnlichen Bezugsproblemen gearbeitet | |
werden muss. Ich denke, dass die entscheidende strategische Partnerschaft | |
für das Experiment einer Politik der Bündnisse mit unterschiedlichen | |
Logiken am ehesten mit der Union möglich ist, auch weil das das eigentliche | |
Thema eines modernen Konservatismus sein müsste. Mal sehen, ob sich da | |
entsprechendes Personal herausbildet. Es sieht gerade nicht so aus, aber | |
ich hätte ein paar Namen im Sinn. Die Grünen wollen eine radikale | |
Transformation ohne radikale Revolution. Und sie glauben an technische | |
Lösungen. Sie sind sowohl wirtschaftsnah als auch protestnah. | |
Ist das jetzt ein Vorteil? | |
Man kann selbstverständlich sagen, ich will den Kapitalismus gar nicht, | |
aber damit setzt man seine Logik nicht außer Kraft. Man muss die Marktlogik | |
so einsetzen, dass sie die Sache voranbringt. Wir müssen denen helfen, mit | |
den richtigen Sachen Gewinne zu machen, wie etwa Ralf Fücks seine liberale | |
Idee skizziert hat. Vertragliche Modelle zwischen Staat und Wirtschaft, ein | |
ganz neues Verhältnis zu den Gewerkschaften, die sich auch auf | |
Transformationen einstellen, nicht zuletzt die Frage intelligenter | |
Steuerung durch technische, rechtliche und ökonomische Anreizformen – nur | |
damit kann man langfristige Politik machen. Die unterschiedlichen Logiken | |
ineinander übersetzen und nicht in einer zentralen Idee aufheben – das wäre | |
jene Transformation, die die Tradition der liberalen Idee der | |
Gewaltenteilung von der politischen Sphäre in die Gesellschaft hineinholen | |
will. Diese Übersetzungsleistung – das wäre für mich eine gute Strategie. | |
Vielleicht müssen die Grünen nicht linker werden und nicht konservativer, | |
aber liberaler vielleicht in dem Sinne, dass sie Andockstellen an ganz | |
unterschiedliche Systemlogiken finden müssen. Beim Liberalen ist noch viel | |
Luft nach oben. | |
Diese Übersetzung versuchen Kretschmann, Habeck, Al-Wazir seit Jahren. | |
Aber für viele Funktionäre ist es ein radikaler Widerspruch zu dem, was sie | |
gelernt haben, was sie fühlen, wie sie aufgewachsen sind? | |
Ja, aber nicht nur für die Grünen, das ist für alle ein Widerspruch. | |
Irgendwie müssen sie alle Federn lassen, damit ihnen neue wachsen. Wir | |
sehen es doch in der Union, die keine Idee davon hat, was sie da eigentlich | |
bewahren will. Wir sehen es bei den Liberalen, für die derzeit eigentlich | |
Hochzeit sein müsste. Wir sehen es bei den Sozialdemokraten, die ihren | |
Fokus völlig verloren haben. Und wir sehen es bei den Linken, die ja | |
durchaus einen interessanten Lernprozess hinter sich haben. Aber es geht | |
nicht mehr mit der Hybris einer Kontrolllogik. Ein komplexes System lässt | |
sich nicht gängeln. | |
Wie geht es? | |
Es geht um intelligente Gängelung, um die Entfachung von Eigendynamiken. | |
Welche? | |
Wir haben genügend Beispiele. Wenn man Schutzrechte für Arbeitnehmer | |
einbaut, geht jedes Mal das Abendland unter, das kennen wir doch. | |
Kündigungsschutz, Mutterschutz, Mindestlohn, immer sagen wirtschaftliche | |
Akteure: Geht nicht. Zwei Jahre später gewöhnen sie sich dran. Man darf | |
doch nicht glauben, dass die Leute das tun, was sie sagen. Sie tun, was | |
sich bewährt. Ich bin da illusionsfrei, dass es über Aufklärung läuft. Sie | |
müssen sich an bestimmte Argumente und Praktiken gewöhnen. | |
Die bequemere Denkungsart geht andersherum: Mit denen geht das nicht. | |
Es ist strukturell ähnlich mit dem, was ich Bündnisse der unterschiedlichen | |
Logiken nenne: Man müsste mit denen arbeiten, die eher maximal | |
unterschiedlich als maximal ähnlich sind. Das wäre die Grundlogik, die | |
Übersetzungslogik, die ich vorschlage. | |
Das müsste man. | |
Ich weiß, das hört sich unglaublich naiv an, aber es ist die einzige | |
Möglichkeit. Es geht um das Äquivalent dessen, was in der Wissenschaft | |
Interdisziplinarität heißt. Natürlich haben die Leute je eigene Interessen. | |
Aber es muss klar werden, dass die nur in strategischen Partnerschaften | |
erreicht werden können. Man muss über die Grenzen hinausdenken. Das können | |
nur die Schlauen. Und das ist nicht nur ein politisches Programm, das muss | |
auch unternehmerisch, gewerkschaftlich, wissenschaftlich, rechtlich und | |
nicht zuletzt technisch gedacht werden. | |
Das ist elitär, damit werden die Dummen nicht glücklich sein. | |
Natürlich ist das elitär, das ist immer elitär gewesen. Die pädagogische | |
und politische Kunst der Eliten ist es, den Leuten Dinge zu sagen, von | |
denen sie denken, dass sie sie selbst gesagt haben. Leider ist das auch die | |
Kunst der Unsäglichen. Die AfD schafft es, bei Leuten Ressentiments zu | |
produzieren, die vorher gar nicht auf die Idee gekommen wären. Aber das | |
Entscheidende sind die Übersetzungsleistungen. Ich selbst bin dadurch erst | |
auf Fragen gekommen, auf die ich mit meinen eigenen Mitteln nicht gekommen | |
wäre. Daraus muss man mehr machen. Das ist Kompetenz. Das ist es, was | |
Eliten können müssen – Übersetzung leisten. Und wenn ich noch eine | |
Bemerkung zum Anfang des Gesprächs machen darf: Der Vorwurf des unsicheren | |
Kantonisten ist für mich als engagiertem Chorsänger natürlich schon | |
niederschmetternd. | |
15 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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