# taz.de -- Klimavorlesungen für Jugendliche: Fridays im Hörsaal | |
> Wissenschaftler*innen haben eine Klimavorlesungsreihe speziell für | |
> Jugendliche konzipiert. Die Zuhörer*innen sind oft bestens informiert. | |
Bild: Nach dem Schuleschwänzen fürs Klima geht's in die Vorlesung: Fridays-fo… | |
BERLIN taz | Entschuldigung, wo geht es zur Fridays-for-Future-Vorlesung? | |
Der Mann am Eingang lächelt, die Wegbeschreibung hat er heute schon | |
mehrfach gegeben. „Einmal am Brachiosaurus vorbei, nach links, durch das | |
Universum und dann geradezu aufs Experimentierfeld“, sagt er. Eine | |
eindeutige Beschreibung. Er reißt die Freikarte ein, der Eintritt zur | |
Vorlesung ist kostenlos. | |
„Humboldt for Future“ heißt die „Klimavorlesungsreihe“, die junge Mens… | |
in Fragen rund um die Erderwärmung und deren Folgen informieren will. Vier | |
Termine gibt es insgesamt, der vorerst letzte zum Thema „Die | |
wirtschaftlichen Chancen einer klugen Energiewende: Warum 100 Prozent | |
erneuerbar in Europa technisch machbar und wirtschaftlich lohnend ist“ fand | |
vergangene Woche statt. Selbstverständlich an einem Freitag, nach der Demo. | |
Nach den Sommerferien würden die Veranstalter*innen die Klimareihe gerne | |
fortsetzen. | |
Initiiert hat die „Humboldt for Future“-Reihe der Klimaphysiker | |
Carl-Friedrich Schleußner mit seinem Team von der Humboldt-Universität zu | |
Berlin und den so genannten Scientists for Future. Seit März 2019 | |
organisieren sich [1][mehr als 12.000 Wissenschaftler*innen] unter diesem | |
Namen zum Thema Klimaschutz, die Bewegung erhält weltweiten Zulauf. | |
Schleußner und sein Team haben in den WhatsApp-Gruppen der Berliner | |
Fridays-for-Future-Aktivist*innen nachgefragt, über welche Themen sie gerne | |
mehr lernen würden. Dabei kam heraus: Das Pariser Abkommen, Klimapolitik, | |
das 1,5-Grad-Ziel, erneuerbare Energien oder Wetterextreme und seine Folgen | |
interessieren besonders. An diesen Themen sind die Vorlesungen orientiert. | |
Die Berliner Humboldt-Universität ist mit ihrem Angebot nicht allein: | |
Einzelne Vorlesungen oder Reihen zum Thema Klimawandel, die die | |
Demonstrant*innen einladen, finden auch in anderen deutschen Städten statt. | |
Veranstaltungen gab es unter anderem bereits an der Technischen Universität | |
in Dortmund, der Leibniz Universität Hannover oder der Uni Jena. | |
## #LecturesForFuture | |
Und die Scientists for Future haben ihre Kolleg*innen weltweit aufgerufen, | |
[2][vom 14. bis 20. Juni in ihren Seminaren und Vorlesungen] statt der | |
geplanten Themen über das Klima zu sprechen. Der dazugehörige Hashtag: | |
[3][#LecturesForFuture]. Doch einen so passenden Ort wie das Berliner | |
Naturkundemuseum werden wohl nur die wenigsten Hochschulen anbieten können. | |
Vorbei am 13 Meter großen Dinoskelett geht es durch gedimmte Räume mit | |
ausgestopften Pinguinen und Weltraumkarten. Schließlich wieder ans Licht: | |
Das „Experimentierfeld“ ist ein heller Raum, in der Ecke steht eine | |
Holztribüne, davor hängt eine Leinwand. Hier bietet das Museum seit ein | |
paar Monaten ein Austauschforum an, um mit Expert*innen über politische | |
Lösungsmöglichkeiten der ökologischen Krise, CO2-Ausstoß oder | |
Klimaerwärmung zu diskutieren. Die Klima-Vorlesungsreihe ergänzt dieses | |
Angebot nun. | |
Carl-Friedrich Schleußner hat seinen PC angeschlossen, die Präsentation | |
fährt gerade hoch. Es ist der dritte Vorlesungsfreitag Ende Mai, Thema: | |
„Die Folgen des Nichthandelns – von Wetterextremen zu Kipppunkten des | |
Klimasystems“. Kipppunkte, wird Schleußner später erklären, sind | |
Zeitpunkte, zu denen ein System so stark verändert ist, dass die Folgen | |
irreversibel sind. Für den Klimawandel bedeute das: Werden die Ziele des | |
Pariser Abkommens verfehlt, wird das Überschreiten von Kipppunkten | |
wahrscheinlicher. Damit würden Prozesse im Erdsystem in Gang gesetzt | |
werden, die dann auch von zukünftigen Generationen nicht mehr rückgängig | |
gemacht werden können. „Es gibt keine zwei Wahrheiten bei dem Thema“, sagt | |
er. Deshalb begrüßt der Professor die Proteste: „Die Schülerinnen und | |
Schüler fordern Ehrlichkeit ein und haben recht damit.“ | |
Eine dieser Schülerinnen ist Elli, 16 Jahre alt. Ihre kurzen blonden Haare | |
hat sie in ein Haarband gesteckt, die Arme mit Kringeln und Punkten aus | |
Henna bemalt. Langsam füllen sich die Stufen der Holztribüne, Elli hat sich | |
im Schneidersitz in die vorletzte Reihe gesetzt. Sie ist zum ersten Mal bei | |
der Vorlesung, nimmt aber regelmäßig an den Demonstrationen teil. Seit sie | |
ihre Abschlusspräsentation zum Ende der 10. Klasse über die Verschmutzung | |
der Weltmeere gehalten hat, interessiert sie sich für den Klimawandel. | |
Aber auch für Kohleausstieg oder Klimapolitik, denn aus ihrer Sicht sind | |
„die Forderungen von Fridays for Future gerade im Zusammenhang wichtig“. | |
Zwar ist an diesem Freitag, direkt nach Himmelfahrt, eigentlich ein | |
Brückentag, sie könnte auch zu Hause bleiben. „Ich wollte aber gerade | |
deswegen herkommen“, sagt sie. | |
## Gesiezt wird hier nicht | |
Denn nach wie vor wird den jungen Aktivist*innen vorgeworfen, sie wollen | |
nur demonstrieren, um die Schule zu schwänzen. Außerdem fehle ihnen das | |
nötige Wissen, um die Folgen ihrer Forderungen zu verstehen. Kurz vor der | |
Berliner Großdemo mit der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg im | |
März hatte FDP-Chef Christian Lindner die globalen Zusammenhänge des | |
Klimawandels als „Sache für Profis“ bezeichnet und damit eine aufgeregte | |
Debatte provoziert. | |
Auch der Chef des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, sagte | |
[4][kürzlich im Interview mit der taz], dass bei den Schüler*innen noch | |
„erheblicher Fortbildungsbedarf“ bestehe. Zwar solle man, anders als | |
Lindner, mit ihnen auf Augenhöhe kommunizieren. Damit aber keine Begriffe | |
durcheinandergeworfen würden, solle die Schule Grundlagenwissen für | |
politische Willensbildung schaffen. | |
Wissen die jungen Leute also gar nicht, wofür genau sie auf die Straße | |
gehen? Gibt es Nachhilfebedarf, auf den die Forscher*innen der HU | |
reagieren wollen? Nein, sagt Carl-Friedrich Schleußner entschieden: Seiner | |
Erfahrung nach seien die Schüler*innen sehr gut informiert und stellten | |
ernsthafte, detailreiche Fragen. Und: „Auf Vorträgen mit älteren Semestern | |
erlebe ich häufiger Zuhörer, die sich wenige Fakten aneignen, aber starke | |
Meinungen vertreten.“ | |
Die Reihen sind mittlerweile voll, auch die zusätzlichen Hocker besetzt, | |
einige stehen. Etwa 120 Menschen sind gekommen. Bisher war es jeden Freitag | |
voller als beim letzten Mal, die Vorlesung spricht sich herum. Jüngere | |
Kinder mit ihren Eltern, viele Jugendliche, aber auch Studierende und so | |
manch „älteres Semester“ rutschen vor der Leinwand näher zusammen. | |
Schleußner steht vorn, an seinem Hemd pappt ein blauer Sticker, Aufschrift: | |
Hi, I’m Carl. Gesiezt wird hier nicht. | |
## Teilweise reichen die Fragen tief ins Detail | |
Dann erklärt Schleußner anhand von Daten und Statistiken unter anderem des | |
Weltklimarats: 4 bis 5 Grad wärmer werde es auf der Erde, sollten keine | |
politischen Maßnahmen getroffen werden. Derzeit steuere man weltweit auf | |
eine Erwärmung von etwa 3 Grad zu. Das führe zu häufigeren | |
Extremwetterereignissen, deren Auswirkungen schon heute spürbar seien. | |
Fluten in Südasien, Dürren im Mittelmeerraum. Besonders in ärmeren Ländern | |
verlieren Menschen dadurch ihre Heimat und müssten fliehen. | |
Die Zuhörer*innen der Vorlesung können über ihre Smartphones Fragen | |
schicken, vorn auf der Präsentation ploppen sie auf. Das komplexe Thema | |
setzt voraus, auch etwas schwierigere Formulierungen und Prognosen zu | |
verstehen – Zwischenfragen, gerade für die Jüngeren, können helfen. | |
Unterschätzen sollte man die Teilnehmer*innen jedoch nicht. Teilweise | |
reichen die Fragen tief ins Detail: Ist der Median Ice Extent für den Monat | |
September angegeben oder im Jahresmittel? Kann man messtechnisch | |
validieren, ob sich der Jetstream verschoben hat? Andere Fragen beziehen | |
sich auf das große Ganze: Sollten nicht gerade Wissenschaftler*innen – | |
anstatt von Klimawandel – besser von Klimakatastrophe sprechen? | |
Das müssen aber wohl weiterhin die Schüler*innen übernehmen. Schleußner | |
erklärt, dass er nicht inhaltlich werten möchte. Als Wissenschaftler sei er | |
zu Objektivität verpflichtet. Er vergleicht die Rolle der Wissenschaft mit | |
der eines behandelnden Arztes. Der würde Patient*innen auch nicht sagen, | |
dass die Lage „katastrophal“ sei. Vielmehr sei es seine Rolle, zu | |
informieren und aufzuzeigen, was getan werden muss, damit die Behandlung | |
gelingt. | |
Alles andere muss die Politik richten. Und bei der kommt langsam an, wie | |
wichtig vielen jungen Menschen das Thema Klima ist. Das hat die Europawahl | |
schließlich deutlich gezeigt. | |
12 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Fridays-for-Future/!5576668 | |
[2] https://www.scientists4future.org/2019/05/lectures-for-future/ | |
[3] https://lecturesforfuture.org/home/en/ | |
[4] /Lehrerverbandschef-zu-Fridays-for-Future/!5575715 | |
## AUTOREN | |
Anima Müller | |
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