| # taz.de -- Lauren Groffs Roman „Matrix“: Nonnen, Gärten und Sex | |
| > „Matrix“ heißt Lauren Groffs neuer Roman. Er handelt von einem | |
| > Nonnenleben im 12. Jahrhundert und aktuellen Debatten über MeToo und | |
| > Priesterinnen. | |
| Bild: Zwei echte Nonnen im englischen Eastbourne, die literarischen von Lauren … | |
| Im Jahr 1158 betritt eine Mischung aus Superwoman und seltsamer Heiliger | |
| die Weltbühne. Mit 17 Jahren wird Marie aus Frankreich von ihrer Königin | |
| Eleonore von Aquitanien in ein heruntergewirtschaftetes, von Krankheit und | |
| Hunger geplagtes Kloster irgendwo in England entsandt. Die junge Halbwaise, | |
| „mehr Riesin als Mädchen“, soll dort Priorin werden, also gleich nach der | |
| Äbtissin der Glaubensgemeinschaft vorstehen. | |
| In den folgenden Jahren und Jahrzehnten erblüht, wächst und prosperiert | |
| unter ihrer Führung das Kloster; nicht nur die Nonnen, auch das Umland und | |
| die Krone profitieren davon. Zugleich schottet sich die Gemeinschaft | |
| zunehmend nach außen ab: ein Zivilisationsprojekt, für einmal ohne Männer. | |
| ## Eine historische Utopie | |
| Die US-amerikanische Schriftstellerin Lauren Groff hat schon einmal einen | |
| Roman über eine historische Utopie geschrieben – „Arcadia“ (2012) erzäh… | |
| vom Aufstieg und Fall einer Hippiekommune während der 1970er Jahre im Staat | |
| New York –, dem deutschsprachigen Lesepublikum wurde sie aber vor allem mit | |
| ihrem Eheroman „Licht und Zorn“ (Fates and Fury, 2015) [1][und der | |
| Kurzgeschichtensammmlung „Florida“ aus einer vom Klimawandel geprägten | |
| Gegenwart (2018) bekannt]. | |
| In beiden Büchern machte sich die 1978 geborene Autorin die Perspektiven | |
| ihrer Protagonist:innen zu eigen, bohrte sich tief in deren | |
| Wahrnehmung, spielte virtuos mit Schein und Sein. | |
| ## Die Halbschwester Heinrichs II. | |
| Was lockt sie in „Matrix“ – der Begriff wird im Roman einmal synonym mit | |
| Gebärmutter benutzt – zurück ins Mittelalter? Ist es der Wunsch nach einem | |
| Hortus conclusus, dem verschlossenen Garten Mariens, einem weiblichen | |
| Paradies, nach weniger Abstand zwischen Mensch und Natur und mehr zwischen | |
| Mann und Frau? | |
| Zunächst hat Groff eine historische Figur inspiriert, die zugleich eine | |
| Leerstelle bleibt. Ihre Marie ist der Dichterin Marie de France | |
| nachempfunden, deren sogenannte bretonische „Lais“ – zwölf gereimte | |
| Dichtungen, die von unglücklich Liebenden und Magie handeln – zu den | |
| wenigen überlieferten mittelalterlichen Texten gehören, deren | |
| Autorinnenschaft namentlich identifizierbar ist. | |
| Über Marie weiß man wenig mehr, als dass sie mutmaßlich in der zweiten | |
| Hälfte des 12. Jahrhunderts in England lebte, wahrscheinlich die uneheliche | |
| Halbschwester Heinrichs II. war und damit Halbschwägerin Eleonore von | |
| Aquitaniens, einer der mächtigsten Frauen des Mittelalters. Der deutsche | |
| Wikipediaeintrag kolportiert außerdem, sie sei eventuell die spätere | |
| Äbtissin von Shaftesbury gewesen. | |
| ## Übergroß ist sie, eckig und hässlich | |
| Auf Basis dieser kargen Vermutungen erfindet Lauren Groff eine | |
| Protagonistin, die alle Grenzen sprengt. Das Befremden, das ihre Marie in | |
| ihrer Zeit auslöst, schwingt auch in Groffs Roman mit: „Matrix“ ist als | |
| Zwitter konzipiert, zwischen sorgfältig recherchiertem Wissen über die | |
| Epoche, in der es spielt, und einer radikalen weiblichen Potenzfantasie, | |
| die sich aus den Diskursen, Ängsten und Sehnsüchten der Gegenwart speist. | |
| Auch stilistisch lässt es sich nicht so leicht kategorisieren: Einerseits | |
| erzählt es chronologisch wie eine Hagiografie das Leben einer | |
| Außergewöhnlichen, andererseits steckt es voller Widerhaken und Wendungen | |
| bis in einzelne Sätze hinein, die für sich genommen elegant und knapp | |
| formuliert sind, aber nur selten einen Sog entwickeln. Das passt zu Marie, | |
| die so gar nichts Gefälliges hat. Übergroß ist sie, eckig und hässlich, | |
| weshalb Eleonore sie für nicht verheiratbar hielt. Doch der Mangel an | |
| physischer Schönheit trübt Maries Selbstbewusstsein nicht, keine Spur von | |
| Bodyshame. | |
| Ihre Verbannung aus der profanen Welt gibt Marie den Anstoß, ihre „Matrix“ | |
| neu zu definieren, sich statt der Reproduktion der Produktion zu | |
| verschreiben. Gleich zu Beginn ihrer Klosterkarriere schreibt sie die | |
| historisch verbrieften Lais, allerdings nicht für den König, der bei Groff | |
| nicht mal erwähnt wird, sondern um die verehrte Eleonore mit ihrer Minne zu | |
| beeindrucken. | |
| ## Ein feministischer Racheakt? | |
| Männer lassen Marie grundsätzlich kalt, und ohne dass ein einziger im Roman | |
| jemals Kontur gewänne, spielen sie im Verlauf des Romans höchstens als | |
| mögliche Störer der klösterlichen Ordnung eine Rolle. Ein feministischer | |
| Racheakt der Autorin, oder doch eher logische Konsequenz der | |
| geschlechtergetrennten Sphären von Hof und Kloster? Tatsächlich haben ja | |
| auch Wissenschaftlerinnen, etwa die viel gelesene marxistische Feministin | |
| Silvia Federici, zuletzt öfter gezeigt, dass das feudale Hochmittelalter | |
| kein so ungebrochenes Patriarchat war, wie die | |
| Fortschrittsgeschichtsschreibung glauben macht. | |
| Das Dichten bleibt nur eine kurze Episode, die immerhin einen beständigen | |
| Austausch zwischen Königin und Kloster etabliert. Doch der Rückruf an den | |
| Hof bleibt aus. Der Nonne wider Willen bleibt nichts anderes übrig, als | |
| Größeres zu gestalten: Sie entlässt unfähige Schwestern und stellt | |
| kompetente und loyale ein, entwickelt sich überhaupt zu einer Meisterin der | |
| Personalführung und des Managements. | |
| Unerbittlich treibt sie, zur Not mit Gewalt, die Schulden reicher | |
| Pächterfamilien ein, die dem Kloster die Steuer vorenthalten. Sie netzwerkt | |
| nach innen und außen, sorgt neben schnurrender Produktion für gutes Essen, | |
| Bildung und medizinische Versorgung und toleriert lesbischen Sex als eine | |
| Art Wellnessmaßnahme, die Wohlbefinden und Arbeitskraft optimiert – auch | |
| ihre eigene. | |
| ## Nah an Kitsch und Klischee | |
| Nonnen, Garten, Sex – please, ist das nicht ziemlich nah an Kitsch und | |
| Klischee gebaut? Unbedingt. Wie zum Ausgleich lässt Lauren Groff beständig | |
| Krankheit und Tod den Aufstieg des Klosters begleiten. Ein kaputter Zahn, | |
| eine Rattenbiss, eine Geburt – all das kann zu höllischen Qualen führen | |
| oder gar ein abruptes Ende bedeuten. | |
| Als Äbtissin entwickelt Marie immer spektakulärere Visionen. Sie realisiert | |
| kostspielige Bauprojekte, lässt ein aufwändiges Labyrinth errichten, das | |
| Männer vom Kloster fernhalten und Geburten kontrollieren soll, schließlich | |
| einen Staudamm, um die Bewässerung sicherzustellen. | |
| Groff unterschlägt nicht, dass Maries geradezu faustischer | |
| Unternehmungsgeist seine Opfer fordert; „so vieles hat es schon | |
| verschluckt, das Gras, die Nester seltener Sumpfvögel, die Schlangenhöhlen | |
| und die Biberdämme. Das letzte Exemplar eines wundersamen roten | |
| Salamanders, der nur hier an diesem feuchten Ort zu finden war“. Schlimmer | |
| noch: Während Marie sich „königlich, päpstlich“ fühlt, stirbt ihre | |
| Bauleiterin Wulfhild, eine ihrer fünf großen, nicht immer gelebten Lieben, | |
| an Erschöpfung. | |
| ## #MeToo anno 1200 | |
| So viel moderne Individualität und sexuellen Freigeist Lauren Groff Marie | |
| auch einräumt, eins tastet sie nicht an: Mit wachsender Strahlkraft und | |
| absoluter Autorität setzt die Äbtissin sich selbst gegen die offen | |
| geäußerten Bedenken mutigerer Schwestern durch. Ihre Macht zu teilen kommt | |
| ihr nicht in den Sinn; so ernst sie die Nonnen einzeln auch nimmt, in der | |
| Gesamtheit betrachtet sie sie als Herde, die es klug zu führen und zu | |
| beschützen gilt. | |
| Und wie geht all das mit dem Glauben zusammen, der erst nach und nach in | |
| ihr wächst? Verstößt nicht ihre größte Überschreitung – die Übernahme … | |
| Priesteramtes, um die Kommunion zu feiern und die Beichte abzunehmen – | |
| gegen dessen Grundsätze? Auch einige Schwestern protestieren dagegen, | |
| schütten der Äbtissin aber doch ihr Herz aus, wobei die Frauen wo allem von | |
| sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen berichten, die ihnen vor ihrer | |
| Zeit im Kloster widerfuhren: #MeToo anno 1200. | |
| Insgeheim wartet man darauf, dass irgendwer oder irgendetwas sich der | |
| starken Marie einmal grundsätzlich entgegenstellt. Und dieses Etwas kommt | |
| unvermeidlich im fortgeschrittenen Alter, allerdings unspektakulär leise | |
| und geradezu kontemplativ. Den eigentlichen Stachel, den Lauren Groff noch | |
| in das erfüllte Leben ihrer Heldin hineintreibt, nimmt diese schon nicht | |
| mehr wahr. | |
| 11 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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