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# taz.de -- Roman „Die bärtige Frau“: Körper und Natur
> Wie es ist, ein Kind zu gebären: Bettina Wilpert liefert in ihrem neuen
> Roman eine eindringliche Darstellung von Mutterschaft im 21. Jahrhundert.
Bild: Die Leipziger Autorin Bettina Wilpert
Es gibt eine Beschreibung der eigenen Arbeit, auf die man unter
Autor*innen immer wieder stößt: das Buch als Baby, das mit der
Veröffentlichung geboren wird. Der Vergleich – wenn auch überzogen –
scheint auf den ersten Blick nicht so fern zu liegen. Die Leipziger Autorin
Bettina Wilpert allerdings, selbst Mutter zweier Kinder, lehnt ihn aus
mehreren Gründen vehement ab.
In einem Instagrampost, den sie gegen Ende ihrer ersten Schwangerschaft und
der Arbeit an [1][ihrem zweiten Roman „Herumtreiberinnen“] schrieb, erklärt
sie dazu: „Noch nie habe ich so sehr wie in der Schwangerschaft gemerkt,
wie mein Körper der Natur unterworfen ist und ich über bestimmte Dinge
keine Kontrolle habe. Über das Schreiben meines Romans habe ich die volle
Kontrolle.“
Jetzt ist mit „Die bärtige Frau“ ihr dritter Roman erschienen, ein Roman
darüber, wie es ist, ein Kind gebären zu können, über Geschlechtsidentität,
über das Schwangerwerden und -sein, über das Gebären und über das
Muttersein. Liest man diesen Roman, bekommt man eine gute Ahnung davon,
warum sich Wilpert gegen den Vergleich zwischen Roman und Baby wehrt.
„Die bärtige Frau“ wird erzählt von Alex, die zum ersten Mal für drei Ta…
von ihrem etwa einjährigen Kind Paula getrennt ist, weil sie von Leipzig in
ihr bayrisches Heimatdorf fährt, um ihre Mutter nach einem Unfall zu
unterstützen. Paula und ihr Vater Oliver, mit dem Alex zusammenlebt,
bleiben in Leipzig. In den Tagen bei ihrer Mutter stößt Alex auf Spuren
ihrer eigenen Kindheit und reflektiert das erste Jahr als Mutter und die
Zeit davor. Im Zentrum steht für sie dabei die Frage, wie sie zwischen
Eigen- und Fremderwartungen als cis Frau herausfindet, wie sie selbst als
Mutter leben will und kann.
## Überhöhung und Unterdrückung
Die Erwartungen, die Alex spürt, speisen sich unter anderem aus der
christlichen Kultur, einer Kultur, welche die Figur der Mutter einerseits
überhöht und andererseits unterdrückt und in der das Kinderkriegen zur
größten Lebensaufgabe einer Frau erklärt wird. Mit dem Wunsch, selbst ein
Kind zu bekommen, sucht Alex einen Weg, sich diesen Wunsch zu erfüllen,
ohne ihr emanzipiertes Selbst in den Wirren dieser Kultur und den
Strukturen einer patriarchalen Gesellschaft zu verlieren.
Wilpert gelingt dabei eine eindringliche Darstellung von Mutterschaft im
Deutschland des 21. Jahrhunderts, in der das Glück und die Liebe dieser
Erfahrung sichtbar werden, ohne die Herausforderungen und Traumata, die sie
begleiten, zu leugnen.
Im Klappentext wird der Roman als „radikale Körperliteratur“ bezeichnet,
und auch wenn Wilperts Erzählung von Mutterschaft weit über Körperlichkeit
hinausgeht, versteht man, was damit gemeint ist. Bereits der Titel „Die
bärtige Frau“ stellt diesen Bezug her. In der zentralen Szene des Romans
flüchtet Alex vor dem Regen in eine Kapelle in ihrem Heimatort, dort sieht
sie im Kirchenfenster ein Bildnis der stillenden Maria, das sich plötzlich
zu verändern scheint.
In Alex’ Wahrnehmung erscheint im Fenster jedoch stattdessen das Gemälde
der bärtigen Magdalena Ventura des spanischen Malers Jusepe de Ribera aus
dem 17. Jahrhundert. Es zeigt die titelgebende Frau stehend beim Stillen
ihres Kindes, sie trägt einen langen schwarzen Bart. Dieser symbolisch
aufgeladene Moment, in dem sich ein traditioneller Ort aus Alex’ Kindheit
vor ihren Augen dann zu verändern scheint, als das patriarchal normierte
Idealbild einer Frau und Mutter aufgebrochen wird, steht exemplarisch für
das Aufbrechen von Narrativen über Weiblichkeit und Mutterschaft, das den
ganzen Roman prägt.
## Im alten Kinderzimmer
Die Erzählerin berichtet von ihrer Fehlgeburt und den anschließenden
Ängsten, beschreibt die Schmerzen der Entbindung und beobachtet die
Veränderungen ihres Körpers während und nach der Schwangerschaft. Aber sie
erzählt auch vom überwältigenden Gefühl, einen Menschen in sich zu tragen,
und von der unvergleichlichen Nähe beim Stillen. Die Beschreibungen des
Mutterwerdens und -seins, die dabei entstehen, sind chaotisch und schön,
erfüllend und schmerzhaft, beängstigend und hoffnungsvoll.
Eindrücklich ist vor allem die Szene, in der Alex – nur wenige Tage nach
dem Abstillen – im Badezimmer ihrer eigenen Kindheit ihre schmerzenden
Brüste massiert, um die Milch herauszudrücken, die sich wieder angesammelt
hat. Die Umgebung hat sich nicht verändert, aber der Körper. Vergangenheit
trifft auf Heute und vergangenes Selbst auf das der Gegenwart.
Wilpert hat „Die bärtige Frau“ als ihren autobiografischsten Roman
bezeichnet. Autobiografische Literatur ist oft der Versuch, sich das eigene
Leben wieder anzueignen, selbst wenn es in Form eines Romans geschieht.
Hier schließt sich der Kreis zum vermeintlich naheliegenden Vergleich von
Roman und Kind. Die Erfahrungen der Schwangerschaft, der Geburt und des
Lebens als Mutter entgleiten der Figur Alex immer wieder, überwältigen sie
und fordern sie heraus.
Wilpert kleidet diese Erfahrungen, die sie vermutlich wie die meisten
Mütter selbst kennt, in ihren Roman in eine nüchterne und konzentrierte
Sprache, reflektiert und dekonstruiert sie und gewinnt damit die Kontrolle
über sie zurück.
17 Mar 2025
## LINKS
[1] /Roman-zu-Frauen-in-der-DDR/!5856265
## AUTOREN
Simon Sahner
## TAGS
Mutterschaft
Roman
Leipzig
Körper
Französische Literatur
Mutterschaft
Schwerpunkt Rassismus
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