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# taz.de -- Mutterschaft zum Gruseln: Diese Wut in ihrer Brust
> Eine Mutter mit sechs Zitzen? Der Roman „Nightbitch“ der jungen
> US-amerikanischen Autorin Rachel Yoder stellt das Mutterbild auf den
> Kopf.
Bild: Rachel Yoder geht der Frage nach: Was, wenn die skandalöse Seite der Mut…
Gleich zu Beginn des Romans „Nightbitch“ ertastet die namenlose
Protagonistin ein winziges Büschel schwarzer Haare in ihrem Nacken. „What
the fuck?“, fragt sie sich da noch. Von da an geht ihre Verwandlung zügig
voran.
Ihre Eckzähne werden immer spitzer, ihre Augenbrauen buschiger, ihr
Geruchssinn schärfer. Eines Tages entdeckt sie einen schmerzenden Hubbel am
Ende ihrer Wirbelsäule, aus dem schon bald Haare sprießen. Unter ihren
Brüsten wachsen vier weitere Nippel. Oder besser gesagt Zitzen. Aus der
Mutter eines zweijährigen Sohnes wird „Nightbitch“: eine Art
Hund-Mensch-Wesen, eine Chimäre, ein Monster.
Selten hat sich ein Roman so stark nach Befreiungsschlag angefühlt wie
dieser Debütroman der US-amerikanischen Autorin Rachel Yoder. In den USA
wurde er bereits gefeiert, mit Amy Adams in der Hauptrolle wird er gerade
verfilmt.
Viel ist in den vergangenen Jahren über die [1][existenzielle Erfahrung der
Mutterschaft] geschrieben worden. Über die alles verschlingende
Unglaublichkeit, ein Lebewesen zu gebären. Die nie endende Verantwortung.
Den entfremdeten Körper. Die Müdigkeit. Die eigenen und gesellschaftlichen
Erwartungen. All diese Unfassbarkeiten. Die schon immer, je länger darüber
nachgedacht wird, etwas Monströses hatten und haben. Und die von den meist
pastellfarbigen und weich gezeichneten gesellschaftlichen Vorstellungen von
Mutterschaft weit entfernt sind.
## Die skandalöse Seite der Mutterschaft
Es sind genau diese Gedanken, die Yoders Roman mit seiner
Mutter-Hund-Werdung konsequent zu Ende denkt. Was passiert, wenn die wilde,
die skandalöse, die unfassbare Seite der Mutterschaft radikal durchbricht?
Und sich dann in ihrer unglaublichen Monstrosität in aller Öffentlichkeit
zur Schau stellt?
Auch Yoders Protagonistin hat versucht, eine perfekte Mutter zu sein, ja
sogar die „beste unter allen Müttern“. Ihre Karriere als Künstlerin hat s…
aufgegeben, um „rund um die Uhr für ihren Sohn da sein zu können“. „Sie
wusste, sie war eine dieser privilegierten, überqualifizierten Hausfrauen
in der amerikanischen Provinz.“ „Glück ist eine Entscheidung“, sagt auch
ihr sich ständig auf Geschäftsreise befindender Ehemann zu ihr. Er ist ein
echter Homo Faber: Ein Ingenieur, der „wenig Zeit für Gefühle“ hat und
„Intuition mit geduldiger Herablassung“ betrachtet.
Yoders Roman funktioniert ein bisschen wie eine Versuchsanordnung. Da ist
die fast schon überzeichnete Banalität des Mütteralltags in einer
US-amerikanischen Kleinstadt-Idylle. Da werden Wickelbeutel aus Kinderwägen
gezerrt, Schnodderspuren aus dem Gesicht gewischt, Achseln nass geschwitzt.
## Treffen der Mütter aus Spielplätzen
Da treffen sich Mütter auf Spielplätzen, bei Vorlese-Events in der
Bibliothek und beteiligen sich an dubiosen Geschäftsmodellen mit
esoterischen Kräutermischungen. Und da gibt es natürlich die perfekte
Anführer-Mutter mit ihren immer adrett gekleideten Zwillingen.
Was für ein Vergnügen für Yoder – und den Leser –, wenn sie diese
Stepford-Welt mit zum Teil urkomischen, surrealen Momenten, grotesken
Szenen und mythischen Figuren aufmischt, die die Verwandlung ihrer
Protagonistin mit sich bringen und vorantreiben. Denn für diese fühlt es
sich – allem Glück zum Trotz – eben auch so an, als sei seit der Geburt
ihres Sohnes „die Last der gesamten Menschheit bei ihnen eingezogen“.
Und dann ist da diese Wut. Diese Wut, „die immer stärker in ihrer Brust
brennt“ und sie eines Nachts, als ihr Sohn weint und der Ehemann einfach
weiterschläft, mit lautem Geheul und nackten Füßen durch die Scherben der
auf den Boden gefallenen Nachttischlampe laufen lässt. Seit dieser Nacht
ist sie nicht mehr „Mutter“, sondern „Nightbitch“.
Und das ist nur der harmlose Anfang. Im Laufe des Buchs wird „Nightbitch“
noch die Nachbarsgärten vollkacken, diversen Kaninchen und anderen
Kleinnagetieren lustvoll den Hals umdrehen und der Hauskatze mit einem
Messer den Bauch aufschlitzen. Sie wird ihrem Sohn eine Hundeleine kaufen,
ihn in einem Hundebett schlafen lassen und rohes Fleisch zum Essen geben.
Am Ende des Romans wird sie als Mutter-Hund-Wesen auf einer Bühne stehen
und ihrem Sohn während einer weltweit für Furore sorgenden Performance ein
lebloses Kaninchen überreichen.
Auch wenn sie sich anfangs noch dagegen wehrt: Umso mehr „Nightbitch“ ihrem
animalischen Trieb nachgibt, um so besser geht es ihr. Und tatsächlich ist
Nightbitchs Hund-Werdung geradezu kathartisch. Nicht nur für Nightbitch.
Auch für ihren Sohn, ihren Ehemann. Und für – nun ja – nicht alle. Aber f…
alle, die diese Wildheit, das Brodeln unter dem Funktionieren, dem
Kompromissemachen und dem Irgendwie-einfach-so-vor-sich-hin-Leben auch
verspüren. Das macht Yoders Roman so erfrischend. Sie gibt dem Thema
Mutterschaft ein ganz neues, ein utopisches Potenzial.
20 Oct 2023
## LINKS
[1] /Ausstellungsmacherin-ueber-Spurensuche/!5934516
## AUTOREN
Verena Harzer
## TAGS
Mutterschaft
Roman
USA
Mütter
Horror
Mutterschaft
Kulturgeschichte
Literatur
Spielfilm
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