# taz.de -- Neuer Film „Pelikanblut“ mit Nina Hoss: Hexenkräuter wachsen a… | |
> Nina Hoss spielt in Katrin Gebbes Film „Pelikanblut“ eine unheimliche | |
> Pferdetrainerin. Das namensgebende Tier gilt als Symbol der Aufopferung. | |
Bild: Wiebke (Nina Hoss) greift zu Methoden, die in keinem Lehrbuch stehen | |
Pferde sind Fluchttiere. Wittern sie eine potenzielle Gefahr, wollen sie | |
eigentlich stehenden Hufes abhauen. Das zu vermeiden, haben sich | |
Reiter*innen und Pferdetrainer*innen zur Aufgabe gemacht: Sie bauen | |
Vertrauen auf, beruhigen, zügeln (im wahrsten Wortsinn) die Angst. | |
Besonders schwer ist es, Polizeipferde an ihre potenziell herausfordernde | |
Umgebung zu gewöhnen – an die Enge von Demonstrationen, die plötzlichen | |
lauten Geräusche, die Explosionen, die Gerüche. Nicht alle schaffen es, | |
ihre Panik hinter sich zu lassen – regelmäßig drehen einige Reittiere | |
durch. | |
In Katrin Gebbes Drama „Pelikanblut“ arbeitet die Pferdetrainerin Wiebke | |
([1][Nina Hoss]) mit ebendiesen „Problemtieren“: Sie ist Expertin für die | |
(tierische) Angst. An ihrem Hof, auf dem sie mit der Adoptivtochter | |
Nicolina (Adelia-Constance Ocleppo) lebt, versucht sie mit verschiedenen | |
Methoden, das Vertrauen der felligen Patienten wiederzugewinnen. Sie nähert | |
sich ihnen, beobachtet, spricht; und verringert so in Monty Roberts’ | |
Pferdepflüsterer-Manier langsam die Distanz. | |
Als Wiebke die Chance bekommt, endlich ein zweites Mädchen zu adoptieren, | |
freut sich die kleine Familie. In einem Waisenhaus in Bulgarien trifft | |
Wiebke auf die fünfjährige Raya (furios gespielt von Katerina Lipovska). | |
Das Kind wirkt mit seinen blonden Locken und seiner offenen Art zunächst | |
wie ein Engel und scheint sich gut auf dem Hof einzugewöhnen. | |
Aber schnell verändert sich sein Verhalten – aus dem Engel wird ein | |
gewalttätiges, jähzorniges, irrationales Wesen, das Nicolina und vor allem | |
Wiebke immer mehr Angst macht. Raya rastet aus, droht, schreit, beschmiert | |
in einer beklemmenden Szene das Kinderzimmer mit Fäkalien. Raya, so | |
diagnostiziert es ein Kinderpsychologe, offenbart ein Trauma, das zu groß | |
scheint, um es zu bewältigen – selbst für eine Expertin wie Wiebke. | |
## Ein jähzorniges Mädchen | |
Doch Wiebke, deren unbedingte, fast schon sperrige Autarkie von Nina Hoss | |
deutlich angelegt wird und die es gewöhnt ist, auch bei hoffnungslosen | |
Fällen „im Sattel zu bleiben“, greift zu Methoden, die nicht in Lehrbüche… | |
stehen. Und lässt in das sensible Psychogramm einer | |
Mutter-Tochter-Annäherung sukzessive Merkmale eines völlig anderen Genres | |
einsickern: schaurige Spuren von „female body horror“. | |
„Schon als das Mädchen das erste Mal nachts an Wiebkes Bett steht, geht es | |
um Todesangst. Und dieser Angst nähere ich mich mit Genreelementen an“, | |
erklärt Regisseurin Gebbe, [2][deren Erstlingsfilm „Tore tanzt“] bereits | |
eine vielschichtige, unerwartet verstörende Geschichte von Gewalt und | |
Martyrium erzählte, im Interview. | |
Ihre beiden „Pelikanblut“-Protagonistinnen, das Kind und die Frau, sind | |
sich ähnlicher, als man zunächst denkt: „Auch Wiebke ist etwas passiert, | |
aber Nina und ich haben uns dafür entschieden, das nicht weiter zu | |
beschreiben“, sagt Gebbe. „Es macht die Figur spannender und letztendlich | |
größer, wenn der Zuschauer Räume ausfüllen kann.“ | |
## Richtung Mystik und Magie | |
Die Story kreist um weibliche Themen: „Ich wollte etwas über das Ideal der | |
Mutterschaft machen und darüber, wie weit Empathiefähigkeit geht“, so | |
Gebbe. Wiebke sucht sich nach der Konsultation des Arztes und dessen | |
Diagnose zunächst im Internet Rat – und findet eine irritierende Methode, | |
mit der angeblich das frühkindliche Mutter-Kind-Bonding nachgeholt werden | |
kann. | |
Wiebkes restliches Leben, der romantisch interessierte Polizist Benedict | |
(Murathan Muslu), ihre Arbeit, sogar die ältere Tochter leiden unter ihrer | |
Besessenheit. Schließlich schaut die entschlossene Frau in Richtung Mystik | |
und Magie. | |
Gebbes Film, den man zuvor noch als eine Art Geistesbruder von [3][Nora | |
Fingscheidts „Systemsprenger“] empfinden konnte, biegt damit tiefer in | |
einen ungewöhnlichen, düsteren Erzählweg ein, an dessen Rändern | |
Hexenkräuter wachsen. Und den man durchaus feministisch lesen sollte: „Ich | |
hatte zwar immer sehr gute Freunde“, sagt Gebbe, „aber in einer Krise kamen | |
die Frauen, um mir Geschichten zu erzählen, mich aufzubauen, mit Kraft zu | |
geben. Ich fand, das hatte etwas Archaisches.“ | |
Der titelgebende Pelikan galt in der christlichen Ikonografie als Symbol | |
für die Aufopferung – nach dem antiken Mythos pickt sich die Pelikanmutter | |
ihre Brust blutig, um ihre Jungen zu füttern. Auch Wiebke wird weit gehen – | |
dahin, wo die Psychologie anscheinend nicht mehr wirkt. Gebbe berichtet mit | |
ihrer Geschichte von spirituellen oder archaischen Kräften, ohne dabei eine | |
esoterische Lanze zu brechen, und ganz ohne Bekehrungsgedanken. | |
Ihr Film könnte darum ein geteiltes Echo finden: Er weigert sich frech, nur | |
die eine oder die andere Lösung gelten zu lassen, lässt am Ende sogar | |
offen, welche Methode welche Folgen hat. | |
## Am Ende auch eine Emanzipationsgeschichte | |
Gebbe hält ihr Publikum ganz bewusst in der Schwebe – das auszuhalten, wird | |
einigen Zuschauer*innen schwerfallen. Zudem bleiben die Nebenfiguren wie | |
Benedicts Kolleg*innen, die Wiebkes Farm ebenfalls oft besuchen, hölzern | |
bis blass, ihr Schauspiel wirkt aufgesagt. So als ob die Inszenierung der | |
Hauptgeschichte ein wenig an der Energie für die Ränder genagt hätte. | |
Aber wie „Pelikanblut“ Psychologie, Spiritualität und feministischen Horror | |
gleichzeitig streift; wie der Film Elemente einer Familienaufstellung, des | |
Märchens „Die Gänsemagd“ und etwa eines frühen David Cronenberg-Films neu | |
anordnet und in eine Emanzipationsgeschichte überführt – denn am Ende | |
können die Männer in Wiebkes Dunstkreis nicht helfen, und auch den männlich | |
konnotierten Pferden widerfährt ein unangenehmes Schicksal –, das ist schon | |
couragiert und außergewöhnlich. | |
Pferde gelten in der weiblichen Heteropubertät als Übergangsobjekte, | |
angeblich füllen sie eine Lücke zwischen der Kindheit und dem ersten | |
Freund: Bis man sich den fremden männlichen Wesen wirklich nähert, ihnen | |
und ihren Körpern wirklich vertraut, lässt man sich gern eine Weile beim | |
„schönsten Glück der Erde“ vom freundlichen Pferderücken tragen. Viellei… | |
ist das nur Küchenpsychologie, aber der stetige Erfolg von | |
Teenie-Pferdefilmen nach dem immer gleichen Muster spricht dafür. | |
„Pelikanblut“ ist von diesen Filmen so weit entfernt wie ein Monster vom | |
Kaninchen. Man sollte etwaige Pferdemädchen im Bekanntenkreis somit nicht | |
unbedingt ermutigen, hineinzugehen. Und stattdessen lieber ein paar | |
gestandene, krisenerprobte Erwachsene mitnehmen: Die kommen auf ihre | |
Kosten. | |
24 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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