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# taz.de -- Isländischer Spielfilm mit Noomi Rapace: Der Berg blickt stumm
> In dem Spielfilm „Lamb“ wird die isländische Landschaft selbst zum
> Protagonisten. Ein einsames Paar lebt zusammen mit einem Lamm.
Bild: Maria (Noomi Rapace) in „Lamb“, die Elemente sind immer gegenwärtig
An klaren Tagen sieht man die Gipfel. Sie ragen steil empor, haben aber
wenig Bilderbuchhaftes an sich. Erst recht nicht, wenn es so stark bedeckt
ist, dass der Nebel die Grenzen von Himmel, Erde und den Bergen dazwischen
mit seinen milchigen Schwaden aufzulösen scheint. In diesem Film geschieht
das oft.
Etwas Abweisendes strahlt von den kargen Felsen aus. Viel mehr gibt es in
dieser Gegend ohnehin nicht, außer einer Herde Schafe und dem Hof von Maria
und Ingvar, die dort leben, im Norden Islands. Weitere Menschen scheint es
in diese Ödnis nicht zu ziehen.
Mit „Lamb“ legt Valdimar Jóhannsson sein Spielfilmdebüt als Regisseur vor.
Die Natur ist darin neben den beiden Hauptfiguren einer der wichtigsten
Protagonisten. Und einer der rätselhaftesten. Schon in der ersten Szene
blickt die Kamera mitten in einen Schneesturm, bewegt sich auf einen
dunklen Fleck zu, der langsam Gestalt annimmt und schließlich als eine
Gruppe Ponys zu erkennen ist, die vor dem, was da auf sie zukommt,
ausweichen.
Irritierend wird die Szene dadurch, dass man aus nächster Nähe, von der
Position der Kamera aus, ein schweres, fast grollendes Atmen hört. Gutes
verheißt es nicht. Von wem es stammt, gibt Jóhansson erst am Ende des Films
preis.
## Ein Familiendrama mit einem Minimum an Handlung
Wenig scheint in diesem Film zu passieren, dabei erzählt Jóhannsson, der
das Drehbuch mit dem [1][isländischen Schriftsteller Sjón] schrieb, ein
komplettes Familiendrama, beschränkt auf ein Minimum an Handlung. Die
Bauern Maria und Ingvar leben ein stilles Leben, gehen stoisch ihrer Arbeit
nach, ein Schlag hat ihre Beziehung einfrieren lassen. Bis sie bei der
Geburt eines Lamms beschließen, dieses in ihrem Haus aufzuziehen und
beginnen, es Ada zu nennen. Fortan erwacht ihre Leidenschaft füreinander
wieder und sie scheinen glücklich.
Die Handlung allein ist es nicht, die „Lamb“ so besonders macht. Vielmehr
ist es die Art der Inszenierung, durch die Jóhannsson die Lakonik von
Personal und Szenerie mit einer Spannung auflädt, die sich vor allem aus
dem Fantastischen speist. Einem Fantastischen, für das Jóhannson weniger
Gestalten und Bilder erfindet – mit einer Ausnahme wohlgemerkt –, als dass
er vielmehr die Realität selbst in seinen Bildern fantastisch wirken lässt.
Jóhannssons bisherige Erfahrungen als Kameramann, Spezialeffekt-Koordinator
und Belichtungstechniker nutzt er dazu auf so effektive wie reduzierte
Weise.
Wieder und wieder ruht die Kamera auf den Bergen um das Gehöft. Je nach
Stärke des Sonnenlichts scheinen sie in ihrer Mattheit verschlossen oder
bekommen ein magisches Leuchten, dessen Farben fast aus dem Computer
gezaubert scheinen. Jóhannsson hat in einem Statement zu seinem Film jedoch
hervorgehoben, dass er mit seinem Kameramann Eli Arenson die wechselnden
natürlichen Lichtverhältnisse genau abgepasst habe. Diese Nuancen verleihen
der Natur etwas lediglich angedeutet Unberechenbares, machen sie zu etwas
Animiertem mit einem Eigenleben, das sich nicht eigentlich erblicken,
sondern bloß erahnen lässt.
Jóhannsson verlässt sich über weite Strecken auf Suggestion und das Zeigen,
das die Rolle des Erzählens viel prominenter übernimmt als Dialoge, die
ähnlich karg sind wie die Landschaft. Noomi Rapace als Maria und Hilmir
Snær Guðnason als Ingvar belassen es oft bei minimaler Mimik, um ihre
Regungen, ihr Unbehagen, ihren Schmerz oder ihre gelegentliche Freude zum
Ausdruck zu bringen.
Zusammenhänge ergeben sich hauptsächlich durch den Schnitt, wenn etwa
Ingvar im Fahrerhäuschen seines Traktors zu sehen ist, plötzlich anhält und
sein Gesicht in den Händen verbirgt, schluchzend, und im nächsten Bild der
Traktor von außen gezeigt wird, verschwindend klein vor den steil
aufragenden schroffen Felsen. Man meint in diesem Moment nicht allein die
Verlorenheit Ingvars vorgeführt zu bekommen, sondern es entsteht zugleich
der Eindruck, als würden die Berge das Geschehen, in welcher Form auch
immer, kommentieren.
## Die unsichtbaren Bewohner
Wie sich im weiteren Verlauf herausstellt, sind Maria und Ingvar denn auch
ganz und gar nicht allein mit der ihnen bekannten Natur. Zu viel sei an
dieser Stelle nicht verraten. Doch gilt für das Land der Elfen und Trolle,
dass seine Bewohner zwar nicht unbedingt an sie glauben, im Zweifel aber an
bestimmten Stellen keine Häuser errichten würden, um die „unsichtbaren“
Bewohner nicht zu stören. Einen ähnlichen Ansatz wählte zuvor [2][Ali
Abbasi in seinem schwedischen Spielfilm „Border“ von 2018], der wie „Lamb…
bei den Filmfestspielen von Cannes in der Sektion „Un certain regard“ lief
und sich großzügig der Gestalten der nordischen Fabelwelt bedient.
„Lamb“ erzählt mithin eine Geschichte, die man wahlweise als moderne
Version eines Märchens oder Mythos oder aber als Quatsch begreifen kann.
Seine Wirkung verfehlt sie so oder so nicht. Das liegt zu einem gut Teil
daran, dass Jóhannsson seine Figuren ziemlich bodenständig wirken lässt.
Und besonders Noomi Rapace ist in ihrem zurückgenommenen Spiel großartig.
Um sich mitzuteilen, genügen ihr kleinste Änderungen des Blicks oder der
Mundstellung.
Wie Jóhannsson überhaupt nur in sehr kleinen Andeutungen sogar mit
wichtigen Informationen herausrückt, was es etwa mit der Hingabe auf sich
hat, mit der Maria und Ingvar sich um „ihr“ Lamm kümmern. Auch mit der
Musik geht Jóhannsson sparsam um. Da, wo er sie einsetzt, sind es
vereinzelte Streicher im Hintergrund, ambivalent changierend von klagend
über nachdenklich zu unheilschwanger. Oder er integriert die Musik gleich
komplett in die Handlung.
## Ein Rest an Unverfügbarkeit
Mit Pétur (Björn Hlynur Haraldsson) taucht in der zweiten Hälfte des Films
nämlich eine neue Figur auf. Der Bruder von Ingvar ist ein verkrachter
Musiker, der unangekündigt eines Morgens im Hof steht und auf unbestimmte
Zeit bleiben will. Pétur vertritt in der Erzählung das Realitätsprinzip,
reagiert verständnislos darauf, dass das Paar ein Tier behandelt, als wäre
es ihr Kind. Was Ingvar unbeirrt abblockt.
Gleichwohl sind einige der gelöstesten Szenen des Films die mit Pétur. So
schauen alle zusammen einmal ein Handballspiel, bei dem sie für die
isländische Mannschaft mitfiebern. Als diese am Ende verliert, kramt Maria
zur Aufmunterung eine VHS-Kassette hervor, um das Musikvideo eines alten
Popsongs von Péturs früherer Band vorzuspielen. Nach anfänglichem Protest
tanzt dieser wenig später zu seiner eigenen Musik.
Dramaturgisch ist dieser Moment von Comic Relief fast klassisch eingesetzt,
folgt unmittelbar darauf doch das dramatische Finale. Darin halten sich
Schrecken und Komik ein bisschen die Waage. Eine klare Botschaft oder Moral
gibt es nicht, allenfalls einen gestischen Hinweis darauf, dass bei der
Natur, so sehr man sie für die eigenen Zwecke auch nutzen mag, immer ein
Rest an Unverfügbarkeit bleibt. „Lamb“ verknüpft dies mit der Geschichte
eines Verlusts und des verzweifelten Versuchs, die gerissene Lücke wieder
zu füllen. Merke: Meckernde Schafmütter sind nicht zu unterschätzen.
6 Jan 2022
## LINKS
[1] /Nordische-Literaturtage/!5054283
[2] /Kinofilm-Border/!5583975
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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