| # taz.de -- Memoiren von Jennette McCurdy: Mommys beste Freundin | |
| > In den USA wurde „I’m Glad My Mom Died“ von Jennette McCurdy ein | |
| > Bestseller. Das Buch erzählt von toxischen Familienverhältnissen im | |
| > Showbusiness. | |
| Bild: Ex-Kinderstar Jennette McCurdy | |
| Was entscheidet darüber, ob man ein Buch lesen möchte? Das Cover? Der | |
| Titel? Oder doch der erste Satz? Alle drei möchte man sagen, wenn man | |
| Jennette McCurdys Buch sieht. In hellem Gelb und Rosatönen gehalten, ziert | |
| den Umschlag ein Foto. Auf ihm ist die 1992 in Los Angeles geborene Autorin | |
| in einem altrosa Hosenanzug zu sehen, in den Händen eine pinke Urne, aus | |
| deren Öffnung rosafarbenes Verpackungsmaterial quillt. „I’m Glad My Mom | |
| Died“ steht in Pink darüber. Allein das zieht schon Aufmerksamkeit. | |
| Dabei handelt es sich bei McCurdys Buch nicht um Fiktion, auch ironisch | |
| gemeint ist der Titel nicht. Sie habe etwas gewollt, das vorneweg mutig und | |
| authentisch sei, nicht bloß nach Aufmerksamkeit heischend, sagte McCurdy | |
| der Cosmopolitan. Mit ihren Memoiren ist ihr das gelungen. | |
| „Seltsam, dass wir unseren Lieben große Neuigkeiten immer ausgerechnet dann | |
| mitteilen, wenn sie im Koma liegen“, lautet der erste Satz. Wer da im Koma | |
| liegt, lässt sich leicht erraten: Mutter McCurdy. Mit deren späterem | |
| Ableben endet ein Martyrium für die Autorin und beginnt gleichzeitig ein | |
| harter Kampf gegen Alkoholsucht, Essstörungen und die bis dahin währenden | |
| [1][Manipulationen der ihr wichtigsten Bezugsperson.] | |
| Jennette McCurdy ist wohl eher denjenigen ein Begriff, die nach 1990 | |
| geboren wurden, denn die US-Amerikanerin erlangte ihren Durchbruch 2007 mit | |
| der Nickelodeon-Kinderserie „iCarly“. Später war sie an der Seite der heute | |
| sehr erfolgreichen [2][Popsängerin Ariana Grande] im Spin-off „Sam & Cat“ | |
| zu sehen. Doch die Schauspielkarriere der heute 31-Jährigen begann schon | |
| früher: Mit acht Jahren steht McCurdy erstmals vor der Kamera, hat | |
| Gastauftritte in Sitcoms wie „Malcom mittendrin“, „Will & Grace“ und �… | |
| Vegas“. | |
| Ihr spezielles Talent wird bald entdeckt; sie kann auf Kommando weinen, ein | |
| Sechser im Lotto beim Film, wie auch Mutter McCurdy weiß: „Ich will dir das | |
| Leben ermöglichen, das ich nie hatte, Net. […] Willst du Mommys kleine | |
| Schauspielerin sein?“ Dass es auf diese Frage nur eine richtige Antwort | |
| gibt, weiß die kleine McCurdy und so wird ihre Karriere ab Seite 21 | |
| unerlässlich gepusht. | |
| Einfach und schwer zugleich | |
| Was auf den weiteren 360 Seiten folgt, liest sich einerseits einfach runter | |
| und andererseits furchtbar schwer. Denn was McCurdy, ihre drei älteren | |
| Brüdern, aber auch der Vater und die bei der Familie lebenden Großeltern | |
| ertragen, teils müssen, lässt einen beinah ungläubig zurück. | |
| Die Familie lebt zusammengepfercht in einem Messiehaushalt. Mutter McCurdy | |
| hortet, was niemand braucht, aber bald ganze Zimmer einnimmt, sodass die | |
| Kinder auf ausklappbaren Matratzen im Wohnzimmer schlafen müssen. Zudem | |
| erholt sich die Matriarchin von einer Krebsbehandlung, nutzt ihr Leiden, um | |
| Mitleid zu erregen, im Showbusiness Sympathien rauszuschlagen und ihre | |
| Familie kleinzuhalten. Wie klein, wird deutlich, als sich McCurdys Körper | |
| in der Pubertät zu verändern beginnt. „Sie weint oft und hält mich ganz | |
| fest“, schreibt sie über ihre Mutter, „und sie sagt, sie wünscht sich | |
| einfach, dass ich klein und jung bleibe.“ | |
| Was dann folgt, ist körperlicher Missbrauch: „Kalorienrestriktion“ heißt | |
| die Diät, auf die McCurdys sich noch im Wachstum befindlicher Körper von | |
| ihrer Mutter gesetzt wird. „Mom und ich sind ein Team; wir zählen jeden | |
| Abend unsere Kalorien und planen die Mahlzeiten für den nächsten Tag.“ Die | |
| Art, wie sie in diesem Teil des Buches schreibt, zieht einen hinein ins | |
| Bewusstsein eines unschuldigen Kindes, das nicht begreift, was ihm | |
| Grauenvolles angetan wird. Denn dieses Kind ist ja „Mommys beste Freundin“. | |
| Um deren Traum einer Karriere im Rampenlicht zu erfüllen, macht McCurdy | |
| alles mit, was das zutiefst ausbeuterische Showgeschäft von ihr verlangt. | |
| „Ich versuche zu tun, was der Creator mir sagt. Ich versuche es echt, aber | |
| ich kann nicht. Mein Körper ist wie versteinert.“ Hier soll McCurdy einen | |
| Jungen vor der Kamera küssen, zum ersten Mal in ihrem Leben. Dass sie nicht | |
| will, aber muss, ist auch eine Form des Missbrauchs, der dazu führt, dass | |
| man die eigenen Grenzen zu verschieben oder gar zu ignorieren beginnt. | |
| Grenzen zu setzen ist aber elementar, um die eigene mentale, aber auch | |
| physische Gesundheit zu schützen. | |
| Wie über jene Grenzen hinweggegangen wird, zeigt sich auch immer wieder im | |
| Privaten: McCurdy muss regelmäßig mit ihrem 16-jährigen Bruder duschen, | |
| während die Mutter beide bis an die intimsten Stellen untersucht. Den Vater | |
| schmeißt sie derweil regelmäßig raus, weil er sich nicht genug um die | |
| Familie kümmere, nicht genug Geld verdiene und überhaupt fremdgehe. All das | |
| nehmen die Kinder scheinbar kommentarlos hin, was die Mutter sagt, wird | |
| keinesfalls hinterfragt, denn sie will ja nur das Beste für die Familie, | |
| was sie unaufhörlich betont. | |
| Anorexie, Bulimie, Alkoholsucht | |
| All das beschreibt McCurdy überaus subjektiv. Ihr Leiden, erst an | |
| Anorexie, dann Bulimie und Alkoholsucht benennt sie und reiht sich damit | |
| ein in eine lange Liste [3][ehemaliger Kinderstars], denen Ähnliches | |
| widerfahren ist. Drew Barrymore, Macaulay Culkin oder Lindsay Lohan – auch | |
| sie stammen aus dysfunktionalen Familien, in denen missbräuchliches | |
| Verhalten durch mindestens einen Elternteil stattfand. | |
| Mit wachsendem Ruhm verstärkt sich auch die Erwartungshaltung an das Kind, | |
| der Druck wächst, was nicht selten zu emotionalem, physischem und/oder | |
| finanziellem Missbrauch führt. [4][Den Sänger Aaron Carter] kosteten die | |
| Nachwirkungen seiner Kinderstarkarriere vergangenes Jahr das Leben. | |
| Die Co-Abhängigkeit zur narzisstischen Mutter, die sie zu all dem treibt, | |
| kommt bei McCurdy erzählerisch durch. Auf Schuldzuweisungen wird | |
| verzichtet, viel wichtiger ist die harte Erkenntnis, dass einzig der Tod | |
| der Mutter diese zerstörerische Dynamik beendet. | |
| ## Der Blick bleibt einseitig | |
| Leider eröffnet das 2022 im Original erschienene Buch keine Möglichkeit, | |
| die Sichtweise zu verändern. Auf die der Mutter nicht, da diese 2013 an | |
| ihrer wiederkehrenden Krebserkrankung stirbt. Erst nach deren Tod wird sich | |
| McCurdy des jahrelangen Missbrauchs bewusst. Der Blick auf die | |
| narzisstische Persönlichkeitsstörung der Mutter bleibt somit einseitig, nur | |
| hier und da wird deutlich, dass auch die Großmutter derlei Tendenzen zeigt, | |
| – die Männer in der Familie sich dem ohne Widerstand fügen. | |
| Schade ist, dass McCurdy nicht auch die Wahrnehmung der Brüder und des | |
| Vaters miteinfließen lässt. Einzig beim Großvater lässt sich der Hauch | |
| einer Einsicht erkennen – diese bleibt aber ohne Konsequenzen: „Ein kleines | |
| Mädchen sollte sich nicht um die ganze Familie sorgen müssen“, sagt er | |
| bezogen auf die Karriere der Enkelin, die zu diesem Zeitpunkt für den | |
| finanziellen Erhalt aller McCurdys verantwortlich ist. | |
| Vermutlich lassen sich persönlich durchlebte Traumata besser erzählen – und | |
| auch verkaufen. Die Geschichte eines gefallenen Kinderstars, der | |
| Essstörungen, eine Suchterkrankung und jahrelangen Missbrauch durchsteht, | |
| um dann als Regisseurin und Autorin wieder aufzu(er)stehen, wird gern | |
| gelesen, wie der Hinweis „Nr.-1-New-York-Times-Bestseller“ auf dem Cover | |
| unterstreicht. Gerne hätte man ein psychologisch fundierteres Bild dieser | |
| Familiendynamik erhalten, für die das Wort „toxisch“ schon zu ausgelutscht | |
| wirkt. | |
| Und dennoch ist „I’m Glad My Mom Died“ lesenswert. Denn es ermöglicht, an | |
| einem individuellen Emanzipationsprozess teilzuhaben, an dessen Ende die | |
| Frage steht: Wer ist man, wenn die Mutter stirbt? | |
| 24 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophia Zessnik | |
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