| # taz.de -- Buch „GRM“ von Sibylle Berg: Mehr Brainfuck als Roman | |
| > Es wird alles immer schlimmer werden: Sibylle Berg hämmert uns in ihrem | |
| > schonungslosen Buch „GRM“ die Krisen der Gegenwart ein. | |
| Bild: Berg schildert in „GRM“ die Welt der kommenden Jahre als Verhau sämt… | |
| „Brainfuck“ heißt Sibylle Bergs neues Werk „GRM“ im Untertitel, und | |
| womöglich trifft „Brainfuck“ als Genrebezeichnung exakter zu als „Roman�… | |
| Denn nicht nur äußerlich erinnert der ziegelsteinrote, mit dezenter | |
| Techno-Ornamentik geprägte Wälzer (gestaltet vom bildenden Künstler Claus | |
| Richter) an eine Art Panzerbibel oder Kampfschrift. | |
| Auch drinnen fungiert die Geschichte – „na ja, Geschichte“, würde Berg | |
| schreiben – der vier bis sechs Protagonist*innen eher als Anlass für ein | |
| fortlaufendes Traktat, das nur ein Ziel kennt: die Gebrainwashten mittels | |
| fortlaufendem Brainfuck über die Sinnlosigkeit ihrer Existenz aufzuklären. | |
| Matrix reloaded. | |
| „GRM“ spielt in Großbritannien nach dem Brexit, erst in der | |
| Sozialwohnungsbautristesse des nordenglischen Rochdale, später in London. | |
| Die Wahl der Orte ist kein Zufall: England als ehemalige Kolonialmacht, als | |
| Keimzelle von Manchesterkapitalismus wie Marktliberalismus, als Wohnsitz | |
| von Oligarchen und anderen Superreichen, als europäischer Vorreiter in | |
| Sachen Neoliberalismus und nationalistischem Rückzug steht hier für das, | |
| was der Welt in toto blüht. | |
| Ebenso der Musikstil Grime, kurz und wütend GRM genannt, den Sibylle Berg | |
| nur streift, aber als verbindendes Gegenkulturelement der Freund*innen | |
| Don, Karen, Peter und Hannah behauptet. | |
| ## Glück währt keinen Halbsatz | |
| Diese vier sind allesamt Außenseiter, beschädigte Kinder zumeist | |
| alleinerziehender Mütter, nur Hannah ist bei liebevollen Eltern | |
| aufgewachsen. Aber das Glück währt auch hier keinen Halbsatz, Hannahs | |
| Mutter stirbt an Krebs, vom britischen Gesundheitswesen im Allgemeinen und | |
| einem Dr. Brown im Speziellen im Stich gelassen; kurz darauf nimmt sich ihr | |
| Vater das Leben. | |
| Der „psychologisch auffällige“ Peter wird von seiner polnischen Mutter | |
| sitzen gelassen, als sie einen reichen Russen trifft, der sie nur kinderlos | |
| heiraten will; das alles, nachdem ihn ein gewisser Sergej in einem | |
| Matratzenlager vergewaltigt hat. Don, später lesbisch, bekommt einen | |
| „Christen“ als Stiefvater, der sie straft und prügelt und gegen den ihre | |
| Mutter sie nicht in Schutz nimmt. | |
| Karen ist albino-weiß und hochbegabt, mit schwarzer Mutter und tumben | |
| Brüdern. Sie verliebt sich bei Anbruch der Pubertät in den kriminellen | |
| Zuhälter Patuk, der sie unter Drogen Freiern wie dem (eigentlich schwulen) | |
| IT-Unternehmer Thome zur Verfügung stellt. | |
| Nun haben Harmoniesucht, Schönfärberei oder auch nur ausgleichende | |
| Gerechtigkeit im erzählerischen Repertoire von Sibylle Berg noch nie eine | |
| Rolle gespielt. Ob als Kolumnistin [1][(seit Jahren für Spiegel.Online)], | |
| Theaterautorin oder Romanschriftstellerin: Ihre Leserschaft schätzt die | |
| Wahlzürcherin gerade für ihren sarkastischen Humor, den bohrenden | |
| Röntgenblick, der unter jeder Oberfläche Hass und Verfall bloßlegt, sowie | |
| die entschlossene Verweigerung jeglicher Happy-End-Illusion. | |
| ## Quasi-göttliche Draufsicht | |
| Da können die Titel noch so freundlich klingen – schon „Ende gut“ (2004) | |
| oder „Vielen Dank für das Leben“ (2012) lieferten freimütig apokalyptische | |
| Szenarien und schlimmstmögliche Lebensverläufe. Selbst dann, wenn die | |
| Sympathie der Autorin klar auf der Seite der Protagonist*innen lag. | |
| Auch in „GRM“ ahnt man, dass Bergs Herz eigentlich für die Nerdkinder und | |
| Problemprolls schlägt, die sie auf den ersten 150 Seiten durch Elternhöllen | |
| und Missbrauchserfahrungen führt. Doch an diesem potenziell zarten Band | |
| zerrt schon bald ein Heer gestörter und gedemütigter Zusatzfiguren, | |
| zunächst die Angehörigen der Kinder, dann ihre Peiniger, die teilweise wie | |
| Thome aus der Oberschicht stammen (sein greiser Vater wird später | |
| Ministerpräsident), aber auch unzählige Alltagsmenschen und | |
| Zufallsbegegnungen aus der untergehenden Mittelschicht, wie „Die | |
| Studentin“, „Der Ehrliche Mann“, „Der Programmierer“, „Die | |
| Kommunikationsberaterin“ oder „Die Polizistin“ etc. | |
| Die meisten erledigt Sibylle Berg mit einem sechszeiligen Steckbrief und | |
| zwei bis drei Seiten Abstiegs- oder auch nur Abstumpfungsbiografie. Gerne | |
| aus quasi-göttlicher Draufsicht: „Die Studentin überschätzt ihren Wert für | |
| die Gesellschaft“, heißt es da, oder „Seine Brust hing und die Eier dito�… | |
| Weil Berg willkürlich zwischen auktorialer und personaler Perspektive hin- | |
| und herpendelt, mitunter sogar innerhalb eines Satzes, bleibt oft unklar, | |
| ob es die Autorin ist, die die Beschriebenen bewertet, oder ob diese das | |
| selber tun. „Egal.“ | |
| Mit solchen Formulierungen – oder „Essen (Natur, Liebe…). Naja, Essen“, | |
| „Sie wissen schon“, „was (…) eben so sagen“, „fucking (…)“, „… | |
| Nummer“ – scheint Berg uns Floskeln und manche Ausformulierung des | |
| Immergleichen ersparen zu wollen, schafft dadurch aber ein Set neuer | |
| Floskeln. Um sich vom düsteren Durchblicker-Pathos des eigenen Schreibens | |
| zu distanzieren? | |
| ## Digitalisierung, Klimawandel, Artensterben | |
| In enger Verflechtung mit den Figurenskizzen schildert Sibylle Berg nämlich | |
| die Welt der kommenden Jahre als Verhau sämtlicher Bad Facts und | |
| Horrornachrichten, die einem als Mediennutzer so auf die „Endgeräte“ | |
| gespült werden. Digitalisierung, Klimawandel, Artensterben, | |
| Flüchtlingswellen, politischer Rechtsruck, (pseudo)nachhaltige | |
| Konsumanreize, soziale Verwerfungen aufgrund umfassender Deregulierung und | |
| des Austauschs menschlicher Arbeitskraft durch künstliche Intelligenz. | |
| Das alles führt in Bergs bösem Britannien zur Einführung des | |
| bedingungslosen Grundeinkommens („Anwesenheitsprämie“), das sich schon bald | |
| nur als mieser Trick entpuppt, um die Leute noch besser beherrschen zu | |
| können. Genau wie durch das umfassende Social Tracking, das nach | |
| chinesischem Modell die Bürger für Wohlverhalten belohnt und Verfehlungen | |
| bestraft. | |
| Beides ändert nichts daran, dass die Mittelschicht weiter verarmt und | |
| verblödet, Wohnraum schrumpft, aber Fleischkonsum zunimmt, überflüssige | |
| Menschen in Virtual-Reality-Räumen Ersatzexistenzen führen, Frauen, Schwule | |
| und Fremde diskriminiert werden und die Natur dahinsiecht. Gewollt und | |
| gesteuert wird all dies von zwei machtgierigen Männerbünden, dem alten | |
| Geldadel in Verbund mit einer neuen Tech-Elite. | |
| Klingt übertrieben? Vieles von dem, was Bergs Figuren widerfährt, hat sich | |
| tatsächlich bereits und oft schlimmer ereignet, etwa der [2][Brand des | |
| Londoner Grenfell Tower] vor fünf Jahren oder die Zuhälter-Gang von | |
| Rochdale, die 2012 nach dem Missbrauch von insgesamt 47 Mädchen aufflog. | |
| Viele der Zukunftstechnologien, die Berg erwähnt, werden erforscht oder | |
| bereits eingesetzt. | |
| ## Worst Case klingt abwegiger als nötig | |
| Auch die Liste von Expert*innen, bei denen sich die Autorin am Ende | |
| bedankt, spricht dafür, dass Sibylle Bergs Dystopie („das Ding der letzten | |
| Jahre“, behauptet der Roman) Recherchen zugrunde liegen, wenn auch | |
| vielleicht nicht immer die gründlichsten, wie sie augenzwinkernd einräumt: | |
| „Vielleicht habe ich hier und da DoktorInnen- und ProfessorInnentitel | |
| vergessen. Schwamm drüber!“ | |
| Dass ihr Worst-Case-Szenario abwegiger als nötig klingt, hat jedoch weniger | |
| inhaltliche als erzählerische Ursachen. In der schieren Anhäufung der | |
| Depression, des Elends, der Austauschbarkeit und Leere ihrer Figuren fehlt, | |
| was zumindest das privilegierte Europa noch als „real“ wahrnimmt: die | |
| „Normalität“, zu der auch die (okay: Illusion von) Individualität gehört. | |
| Dass es die nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat, dass die Krise | |
| Normalität sei und Individualität sowieso mit dem Tod vorbei, hämmert „GRM… | |
| seiner Leserschaft unablässig ein. Brainfuck eben. Fast könnte man da | |
| überlesen, dass Sibylle Berg auf den letzten Romanmetern zumindest ihrer | |
| jugendlichen Peergroup gegenüber einen Hauch von Gnade walten lässt: Sie | |
| dürfen, parallel zu ihrem umfassenden Rachefeldzug, einander Liebeskummer | |
| zufügen, diesen aber auch überleben und den ein oder anderen | |
| Lebenskompromiss eingehen. | |
| „Die Geschichten ähneln sich, sie sind so langweilig, die Geschichten des | |
| Lebens, und haben alle mit fehlender Zuneigung zu tun“, hatte zuvor die | |
| Autorin auf Seite 526 festgestellt, als ihr bei der „achtjährigen Nutte“ | |
| ausnahmsweise die erzählerische Puste ausging. Jedenfalls scheint „fehlende | |
| Zuneigung“ auch kein Konzept zu sein, auf dem sich ein ganzer Roman | |
| aufbauen lässt. | |
| 10 May 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.spiegel.de/thema/spon_berg/ | |
| [2] /Brand-im-Grenfell-Tower-vor-einem-Jahr/!5513604 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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