# taz.de -- Das englische Biopic „Tolkien“: Giftgas speiender Dämon | |
> Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hat das Werk des „Herr der | |
> Ringe“-Autors maßgeblich geprägt. Das Biopic „Tolkien“ zeigt dies | |
> eindrucksvoll. | |
Bild: Im Krieg: John Ronald Reuel Tolkien (Nicholas Hoult) und Edith Bratt (Lil… | |
Mordor ist ein höllischer Ort. Ein Ort, an dem das Böse regiert, an dem | |
Armeen für den Krieg rekrutiert werden, an dem berittene Monster | |
entsetzliches Grauen verbreiten. Doch Mordor, das versucht Dome Karukoskis | |
Biopic „Tolkien“ über den „Herr der Ringe“- und „Hobbit“-Autor | |
aufzuzeigen, hatte seinen Ursprung in einem Schützengraben während der | |
Schlacht an der Somme, mit über einer Million Opfern eine der größten und | |
brutalsten Schlachten des Ersten Weltkriegs. | |
Der 1973 verstorbene Philologe und Schriftsteller J. R. R. Tolkien erlebte | |
das Gemetzel als 24-Jähriger mit: Monatelang war er als Soldat und | |
Fernmeldeoffizier in Frankreich im Einsatz, sah Kameraden sterben und | |
Leichen verwesen, watete durch mit Regenwasser gefüllte Gräben, wurde | |
beschossen (aber nicht verletzt), erkrankte am „Schützengrabenfieber“, | |
einer durch Läuse übertragenen Infektionskrankheit, und landete im Oktober | |
1916 schließlich in einem Lazarett. | |
Seine Fantasybücher über Mittelerde und ihre Bewohner*innen verfasste der | |
Autor erst Jahrzehnte später. Doch in einem Vorwort zu einer Ausgabe aus | |
den Sechzigern schrieb er über die Kriegserlebnisse: „1918 waren bis auf | |
einen alle meine nächsten Freunde tot.“ Karukoskis Film nach einem Drehbuch | |
von David Gleeson und Stephen Beresford sieht den Zusammenhang zwischen den | |
Kriegstraumata des später jahrelang als gediegen-graumäusig Gelehrter | |
lebenden Mannes, den tiefen Freundschaften, die er schloss, und seinen | |
größten literarischen Erfolgen. | |
Der matschige, von Toten gesäumte Schützengraben dient Karukoski dabei als | |
Zeitlinie und Ausgangspunkt: Zitternd liegt Nicholas Hoult als junger | |
Tolkien in diesem Graben, seine Fieberfantasien bewegen sich über die | |
verwüsteten Schlachtfelder um ihn herum – aber die fiebrigen Erinnerungen | |
führen ihn auch zurück an die Uni, wo er als mittelloser Waisenknabe einst | |
Freundschaften schloss. Diese „Fellowship“, deren Mitglieder teilweise in | |
jenem Krieg starben, fand später bekanntlich ebenso Einzug in Tolkiens | |
Schreiben wie die Bilder des zerstörten Kriegsschauplatzes. | |
## Beeindruckend dystopische Szenerien | |
Es sind beeindruckend dystopische Szenerien, die Karukoski aufbaut, | |
dunstige, nur flackernd erleuchtete Horizonte, durch die apokalyptische | |
Todesreiter (oder die Orks?) stürmen, in denen feindliche Soldaten mit | |
Flammenwerfern (oder monströse Fabelwesen?) Tod und Verderben in die Gräben | |
blasen. Anschaulich personifiziert Karukoski den Krieg in seinem Film – als | |
einen Giftgas speienden Dämon, der nur Verwüstung kann. | |
Und wie in der „Herr der Ringe“-Buchtrilogie und ihrer Kino-Adaption | |
wechselt die Stimmung schnell: In einer mit Leichen gefüllten Grube | |
deliriert Tolkien von der heilen Welt hinter den Mauern Oxfords, in der er | |
nicht nur seine Liebe zu Sprachen und ihren Strukturen entdeckte, die sich | |
später unter anderem im „Elbischen“, der von ihm für die „Herr der | |
Ringe“-Elben konstruierten Mundart, wiederfand. Edith Bratt (Lily Collins), | |
seine spätere Ehefrau und Mutter seiner vier Kinder, findet in Karukoskis | |
fiktionaler Teilbiografie genauso einen Platz wie Tolkiens frühe Jugend, | |
der Verlust der Mutter, die Außenseiterposition als – im Gegensatz zu | |
seinen Freunden – finanzschwacher Student. | |
Dem Kriegsgrauen setzt der finnische Regisseur immer wieder Tolkiens | |
menschliche Verbindungen entgegen – die Mitglieder des „T.C.B.S.“, des von | |
Tolkien und einigen Kommilitonen gegründeten Literatur- und Debattierclubs | |
„Tea Club – Barrovian Society“, treffen sich zum Reden, später zum | |
Schreiben. Tolkien verfasst erste Gedichte und liest sie den Freunden vor. | |
Und „Helheimer!“ grölen die jungen Männer wie einen Schlachtruf, wenn sie | |
sich Mut machen wollen, und spielen damit auf „Helheim“, die Unterwelt der | |
nordischen Mythologie an, aus der sich Tolkien zeit seines literarischen | |
Schaffens kräftig bediente. | |
Dass der Grundhaltung des britischen Autors auch ein tiefreligiöser Aspekt | |
innewohnte, lassen der Regisseur und seine Drehbuchautoren der Dramaturgie | |
zuliebe größtenteils weg – den latent nerdigen, über Büchern brütenden | |
Sprachwissenschaftler als Hauptcharakter spannend zu machen ist | |
Herausforderung genug. Einen frömmelnden, an seinem christlichen Glauben | |
nie zweifelnden Protagonisten hätte man womöglich umgehend langweilig | |
gefunden. | |
So wird der Film in der Reduzierung auf die harmonische Brüderschaft | |
einerseits zutiefst moralisch – und er überzeugt durch emotionale | |
Darstellungen von Hoult, Anthony Boyle als den besten Freund Geoffrey Smith | |
sowie Patrick Gibson und Craig Roberts als weitere enge Freunde. | |
Andererseits ist die Geschichte trotz Hoults Dramatisierung wenig | |
überraschend. Was wiederum konsequent ist – nach einer ereignisreichen | |
Studienzeit und dem Kriegseinsatz widerfuhren Tolkien einfach nicht mehr so | |
viele Überraschungen. Anders gesagt: Die Traumata, die er durchlitt, | |
reichten für ein ganzes Leben. | |
25 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
## TAGS | |
Dystopie | |
Herr der Ringe | |
J. R. R. Tolkien | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Kolonialismus | |
Strache-Video | |
Roman | |
Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Niedersachsen holt Bomben aus der Erde: Der Kampfstoff geht weiter | |
In der Lüneburger Heide liegen zahllose Sprengkörper, auch solche mit | |
Giftgas. Lange galt das als unproblematisch. Jetzt wird aufwändig saniert. | |
Roman von David Diop: Der Kriegswahnsinnige | |
David Diops Buch „Nachts ist unser Blut schwarz“ handelt von den | |
sogenannten „Senegalschützen“. Es erzählt ein unbekanntes Kapitel | |
Kolonialgeschichte. | |
Franzobel über Ibizagate: „Der Österreicher neigt zur Niedertracht“ | |
Autor Franzobel über seinen Roman „Rechtswalzer“, die fiktive und die | |
faktische Lage nach dem Ibiza-Video und dem Austritt der FPÖ aus der | |
Regierung. | |
Buch „GRM“ von Sibylle Berg: Mehr Brainfuck als Roman | |
Es wird alles immer schlimmer werden: Sibylle Berg hämmert uns in ihrem | |
schonungslosen Buch „GRM“ die Krisen der Gegenwart ein. | |
Premiere bei den Ruhrfestspielen: Plakative Ekelshow | |
Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer wagt sich bei den Ruhrfestspielen an Jean | |
Raspails Roman „Das Heerlager der Heiligen“. Das geht in die Nase. |