# taz.de -- Premiere bei den Ruhrfestspielen: Plakative Ekelshow | |
> Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer wagt sich bei den Ruhrfestspielen an | |
> Jean Raspails Roman „Das Heerlager der Heiligen“. Das geht in die Nase. | |
Bild: Die Schlussszene des Romans wird zum Bühnenstück „Das Heerlager der H… | |
Donald Trumps Ex-Einflüsterer Stephen Bannon entdeckte in dem Roman seine | |
eigene Vision einer Migrationsinvasion. Marie Le Pen legte eine Lektüre von | |
Jean Raspails „Das Heerlager der Heiligen“ ihren Wählern ans Herz. Und | |
Michel Houellebecq ließ sich für seinen eigenen Bestseller „Unterwerfung“ | |
davon inspirieren. Ja, Jean Raspails Roman „Das Heerlager der Heiligen“ von | |
1973 geisterte in den letzten Jahren durch die Reihen der Neuen Rechten als | |
ein Kultbuch, das prophetisch die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 | |
vorwegnahm. | |
Die Ausgangshandlung: Eine Million von verzweifelten Menschen flieht aus | |
Indien nach Europa, während die Europäer*innen einen Ansturm befürchten. | |
Der Haken an dieser Dystopie: Raspail spart nicht an rassistischen | |
Beschreibungen und eröffnet ein Entweder-Oder zwischen gutmenschlichem | |
Mitleid oder wutbürgerliche Härte, teilen oder schießen? Wie lässt sich | |
also diese Bibel der Rechten auf die Bühne bringen, ohne die Raspailsche | |
Sicht der Dinge zu reproduzieren? | |
Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer entschied sich in dieser Koproduktion für | |
die Ruhrfestspiele in Recklinghausen und dem Schauspiel Frankfurt, die | |
Adaption (für welche die Aufführungsrechte des französischen Originals | |
statt der deutschen Übersetzung des rechtsnationalen Antaios-Verlags | |
erworben wurden) auf das Schlussbild der über 400 Seiten dicken | |
Romanvorlage zu setzen: Raspails Hauptprotagonist, ein greiser Professor | |
der Literaturwissenschaft, lädt eine gutbürgerliche Gesellschaft zum | |
letzten Abendmahl in seine südfranzösische Residenz ein. | |
## Hinter verriegelten Türen | |
Während der Ansturm der Verzweifelten erwartet wird, hat sich das Abendland | |
hinter einer Tür aus Eichenholz verriegelt. Im gotischen Interieur vor | |
einem opulenten, flackernden Kamin (Bühne: Thilo Reuther) lässt der | |
Hausherr üppig auftischen. Eine Ausgangsszenerie, die an Marco Ferreris | |
Dekadenz-Groteske „Das große Fressen“ erinnert. | |
Zigarren- und Brathuhn-Geruch dringen bis in die erste Publikumsreihen. | |
Während die zu Karikaturen überschminkten Darsteller*innen großzügig | |
kredenzen und zynisch räsonieren: über die Geflüchteten oder über den | |
zartbesaiteten, liberalen Westen („Leichtfertige Nächstenliebe ist vor | |
allem eine Sünde gegen sich selbst.“) | |
Hermann Schmidt-Rahmer ließ bereits in „Volksverräter“ die Gegensätze | |
aufeinanderprallen: Waren es in dieser Ibsen-Inszenierung die Welten von | |
aufgebrachten Wutbürger*innen und arroganten Linksliberalen, so wird diese | |
selbstgerechte Abendgesellschaft mit den tagespolitischen Aktualisierungen | |
der Welt da draußen konfrontiert. Während die Akteure mit ausdruckslosen | |
Mienen auf ihren Mahlzeiten kauen, flimmert etwa ein Bild von Alan Kurdi, | |
dem Jungen, der einst tot an den Mittelmeerstrand gespült wurde, auf einem | |
alten Fernsehapparat. | |
## Clinch zwischen Konservativen und Linksliberalen | |
Ein Zitat aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“ resümiert schließlich das | |
Dilemma: „Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich leben kann in meiner | |
Scheiße.“ Um das Ganze auf die derb-deftige Spitze zu treiben, darf sich | |
einer der Wutbürger einscheißen und den Kot vom Gesäß waschen. | |
Schmidt-Rahmer präsentiert die letzten Stunden des Abendlandes als | |
plakative Ekel-Show, durchdekliniert als Clinch zwischen Konservativen und | |
Linksliberalen, die ihre Ansprachen sogar in Smartphones posaunen dürfen. | |
Wirklich ausgegoren ist diese Adaption nicht, oft setzt sie schlichtweg | |
eine Lektüre der komplexen Romanvorlage voraus. Rezitationen aus Raspails | |
Romanwelt verhandeln verachtend die „Kotkneter“, die die überladenden | |
Schiffe der Geflüchteten nach Europa segeln oder sie legen den | |
männlich-weißen Blick auf diese fliehenden Massen bloß. Um das szenisch zu | |
übersetzen, behilft sich Schmidt-Rahmer jedoch mit einer albernen Symbolik, | |
zum Beispiel von etlichen Pastikbabys. Bis Michael Schütz' vollgefressener | |
Gastherr schließlich in einer Art Angstgeburt die Rampe mit hunderten | |
dieser Figuren überspült. | |
Der Griff zu den Flinten für das finale Shotdown bleibt trotzdem nicht aus. | |
Laute Salven lassen noch mal alle im Publikum aufschrecken, untermalt von | |
Édith Piafs Chanson „Non, je ne regrette rien“. Eine antithetische | |
Schlussszene, der, wie viele bewährte Register aus dem Regie-Repertoire an | |
diesem Abend auch gezogen werden, keine Befreiung von Raspails | |
Entweder-Oder gelingt: gutmenschliches Teilen oder realpolitisches | |
Schießen. | |
6 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Benjamin Trilling | |
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