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# taz.de -- Wenn die Klasse entscheidet: Nach den Regeln der Kunst
> Wer als Kreative:r erfolgreich sein will, muss Kunst verstehen – und
> dafür ihre Codes beigebracht bekommen. Doch das ist eine Frage der
> Klasse.
Bild: Für die einen die schönste Kunst, für die andere unbedeutend
In unserer Wirtschaft hingen zwei Bilder. Ein Stammgast war davon
überzeugt, dass sie viel wert sind, und redete so lange auf meine Eltern
ein, bis diese schließlich nach München fuhren, um die Gemälde begutachten
zu lassen. Der Sachverständige schätzte die Herbstlandschaften damals auf
160 und 200 DM. Meine Eltern verkauften die Bilder nicht und hängten sie
zurück an ihren Platz über dem Stammtisch.
„Werke sind kodierte Botschaften“, schrieb [1][Bourdieu] in „Wie die Kult…
zum Bauern kommt“. Er meint damit, dass diejenigen, die glauben, sie lesen
zu können, weil sie so klug und feinsinnig sind, vergessen, dass ihnen das
Lesen der Codes nach und nach beigebracht wurde. In ihrer Familie, von
ihrem Umfeld, in ihrem Milieu. Ohne, dass es ihnen selbst bewusst sein
müsste.
Vor vielen Jahren, während meines Studiums in München, ging ich jeden
zweiten Tag in die Neue Pinakothek. Meine Arbeit bestand darin, hinter
einer Theke zu sitzen und Führungen anzubieten, auf tragbaren Geräten. Man
tippte eine Nummer in den Audio-Guide und dann erzählte Dr. Soundso etwas
zu dem Kunstwerk. Ich fasste damals den Entschluss, mir alles anzuhören,
die Sammlung komplett durchzuarbeiten, aber schon nach zwei Bildern brach
ich immer ein. Wenn ich heute vor einem Bild stehe, das viel wert ist,
passiert meistens nichts. Ich könnte genauso gut eine Wand anstarren. Das
wäre auf eine Art sogar angenehmer, weil Wände keine Scham erzeugen. Mir
fehlt das kulturelle Wissen, die Bildung, der Zugang zur sogenannten
Hochkultur.
Der Kunstbetrieb bedeutet für viele Künstler:innen und
Mitarbeiter:innen: prekäre Arbeit, schlechte Honorare, unsichere
Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig ist es für Künstler:innen, Autor:innen
und Theaterschaffende unabdingbar, „guten Geschmack“ zu beweisen, über
ausreichend kulturelles Kapital zu verfügen. Man muss die Regeln der Kunst
beherrschen, Netzwerke pflegen, sich auf dem Feld der Kultur bewegen
können. Wer dies nicht tut, bleibt oft „draußen“ und landet seltener auf
einer Preisliste oder in einer Galerie, egal wie gut ein Bild gemalt oder
ein Text geschrieben sein mag.
Viele Künstler:innen kommen aus akademischen, wohlhabenden
Verhältnissen. Anders könnten sie sich den prekären Status gar nicht
leisten. Oder sie arbeiten „nebenher“ etwas anderes. Erst kürzlich [2][war
hier in der taz von Autor:innen zu lesen, die sich allein mit dem
Schreiben nicht ihren Lebensunterhalt verdienen können]. Andere kommen gar
nicht so weit, sie versuchen es erst gar nicht. Sie eliminieren sich vorher
selbst, weil sie Manet und Monet nicht unterscheiden können, weil die Welt
der Kunst nicht ihre Welt ist.
## Eine andere Kultur
Immer noch sind es die Kinder aus den wohlsituierten Milieus, die früh zum
Pinsel oder zum Stift greifen und darin bestärkt werden. Meine Familie
arbeitete in der Gastronomie. 16-Stunden-Tage, keine Freizeit. Ich wurde
nicht zum Klavierunterricht geschickt, sondern zum Lottoschein abgeben.
Unsere Kultur (Auswahl): Liebesromane von Konsalik, Schlagerplatten von
Howard Carpendale, Poster von der Popband Roxette, eine Videosammlung mit
Heimatfilmen (ein Regal voll mit selbst beschrifteten Kassetten).
„Die Entzifferung der Zeichen ist um so delikater, als sie von den Codes
des Herkunftsmilieus gestört wird“, schreibt [3][die französische
Philosophin Chantal Jaquet] in ihrem Buch „Zwischen den Klassen“. Der
Klassenübergänger befinde sich zwischen zwei Polen, schwanke ständig
zwischen Anpassung und Enttarnung. Mein eigener Klassenübergang ging einher
mit immer schärferen Grenzziehungen „nach unten“, die sich vor allem gegen
mich selbst richteten. Ich wertete alles ab – Fernsehen, Kommerz,
Mainstream.
Pausenlos lief ich ins Theater, ins Museum, stand mit der Hand am Kinn in
irgendwelchen Kathedralen – in einer Art Überkompensation. Wie sehr ich die
Geschmacksurteile übernommen hatte, ist mir erst im Laufe der Jahre bewusst
geworden. Heute frage ich mich, ob es möglich ist, von diesen Dingen zu
sprechen, ohne den Glauben zu vermitteln, dass einige höherwertiger und
geschmackvoller sind als andere.
Es gibt sie doch, die Aufsteiger:innen in der Literatur, im
Kulturbetrieb, die Stimmen „von unten“, sagen manche. So als wären zwei von
zehn eine gute Quote. Und jene, die einen Platz ergattert haben, „nehmen
die Kultur zu ernst“, so Bourdieu in „Die feinen Unterschiede“, ihnen feh…
das Spielerische, das natürlich Vertraute und Lässige, das den bürgerlichen
Umgang auszeichnet. Sie hadern mit ihrer Rolle, ihrer Zerrissenheit, mit
ihrem gespaltenen Habitus, der konkurrierende Antwortvorräte des Sprechens,
Verhaltens und Auftretens für die gleiche Situation bereithält. Sie fragen
sich ständig, ob ihr Leben mit ihnen selbst übereinstimmt. Wenn sie keinen
Erfolg haben, kehren sie viel schneller zu ihrem alten Ich zurück. Etwas in
mir ist davon überzeugt, dass ich das Arbeiten in der Gastronomie, trotz
meines Studiums und des Schreibens, immer noch am besten kann.
## Die Regeln der Kunst
Kürzlich traf ich einen Bekannten, der in einer Galerie arbeitet. Wir
unterhielten uns über „class & art“. So lautete der Betreff meiner an ihn
gerichteten E-Mail. (Seine Antwort: „such an important topic!“) Der
Bekannte erzählte mir, dass er diejenigen, die selten in einer Galerie
sind, daran erkennen würde, dass sie verwundert seien, nichts für den
Besuch bezahlen zu müssen. Ich fragte ihn, ob es überall auf der Welt
üblich sei, dass Galerien nichts kosten, und bemerkte erst hinterher, mich
dadurch selbst in das Muster begeben zu haben. Ich bin froh, nicht nach
Audio-Guides gefragt zu haben.
Die Regeln der Kunst beinhalten Antworten auf die Fragen, was Kunst ist,
was ihre jeweils adäquate Form darstellt und wer sie wie vertreten darf.
Sie werden aber nicht rein ästhetisch oder qualitativ ausgehandelt, sondern
über soziale Praktiken und Institutionen. Bildung, Lebensstil und Habitus
differenzieren das Feld der Kunst, sie kennzeichnen jemanden als
Angehörigen einer bestimmten sozialen Gruppe.
Die Regeln der Kunst führen zu Anerkennung beziehungsweise
Nichtanerkennung. Sie ermöglichen die Auszeichnung, aber auch die
Abwertung, den Ausschluss. Die Mythen um Begabung und Talent, die der Kunst
anhaften, blenden diese Bedingungen aus und verstellen damit eine
Perspektive auf soziale Ungleichheit in diesem Feld.
Verschiedene Aspekte von Klasse greifen dabei ineinander: Distinktion durch
Kultur und die soziale Schließung in der Kultur. Dazu zählen auch
[4][klassistische Darstellungen] von allen „ohne Kultur“ (Film, Reality TV,
Boulevard etc.). Man setzt sich durch Wissen zur Kunst von anderen ab,
benötigt dieses, um selbst Künstler:in zu sein, und urteilt dann oft über
alle, die es nicht haben. Dabei ist auch noch die subjektivste
Geschmacksempfindung Ausdruck der eigenen sozialen Position.
Solange man immer noch „Klassizismus“ angezeigt bekommt, wenn man nach
„Klassismus in der Kunst“ sucht, steht eine Befassung mit diesem Thema noch
weitgehend aus. Diversifizierung, also die Förderung marginalisierter
Gruppen, sollte im Bereich von Kunst und Kultur auch sozial Benachteiligte
mitdenken und ihnen den Zugang erleichtern.
Das einzige Gemälde, das ich heute besitze, ist von der Straße. Das Bild
einer Sonne, die in einer Wüste untergeht. „Ein Original“, sagte der
Verkäufer, der es neben Schuhen und alten Handys am U-Bahn-Eingang
verkaufte. Es gefiel mir, aber es war keine echte Kunst, sagte ich mir
sofort, sonst läge es ja nicht hier auf der Straße. „Ein Original, ein
Original“, wiederholte der Mann immer wieder und zeigte auf die Signatur.
Zuerst wollte er 80, dann nur noch 20 Euro („Für Zigaretten und Bier“). Zu
Hause sah ich mir die Signatur an, J. Berger, und fand im Internet einen
bekannten Künstler gleichen Namens. Kurz hatte ich den Impuls, ins Museum
zu fahren und das Bild schätzen zu lassen.
31 May 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Ilija Matusko
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