| # taz.de -- Autorin über Klassismus: „Für die Scham finde ich erst jetzt Wo… | |
| > Louise K. Böhm ist Arbeiter:innenkind. Als junge Autorin schreibt | |
| > sie über Klassismusprobleme des Kulturbetriebs in ihrer Kolumne | |
| > „Schamlinien“. | |
| Bild: Selten ist Kultur so barrierefrei: Das Hamburger Tunnelkonzert war 2019 e… | |
| taz: „Mit genug Ehrgeiz und Talent kann doch jede:r Autor:in werden.“ | |
| Stimmt das? | |
| Louise K. Böhm: Da rollen sich mir alle Zehennägel nach oben, wenn ich das | |
| höre. Und dann erwische ich mich dabei, wie ich selbst nicken muss. Weil, | |
| solche Sprüche kriegt man mit, wie sonst was in der Erziehung. Dann glaubst | |
| du irgendwann selbst dran, solange du dich nicht hinterfragst. Nein, | |
| grundsätzlich ist es nicht so. Es kann nicht jede Person mal eben | |
| Autor:in werden oder Kultur machen. Da gehört viel dazu. Das fängt bei | |
| frühkindlicher Bildung an. | |
| taz: Was hat frühkindliche Bildung damit zu tun, ob ich Autor:in werden | |
| kann? | |
| Böhm: Bei [1][Klassismus] geht es nicht nur darum, wer kann sich was | |
| leisten, sondern auch um [2][sozialen Habitus], kulturelles Kapital und | |
| [3][Bildungschancen]. Deren Fundament wird werden durch frühkindliche | |
| Bildung gelegt: Welche Kinder haben Zugang zu Kultur und wie wird Kultur | |
| eigentlich anerzogen? Ein Kind, das gerne Geschichten schreibt, wird nur in | |
| einem Rahmen gefördert, in dem es ernst genommen wird und dieses Hobby | |
| ausleben kann. Wenn dann noch die Eltern selbst kulturaffin sind und das | |
| Kind zu Workshops schicken, das bezahlen können, wird es immer | |
| selbstbewusster und besser, und dann fängt es an, Preise zu gewinnen und | |
| Leute sind so „Oh mein Gott, das ist ein Wunderkind!“. Wenn ein Kind | |
| dagegen nicht lernt, wie man sich auf einer Lesung verhält, hat es später | |
| mehr Ängste, dort alleine hinzugehen. Das sind Ausschlussmechanismen. | |
| taz: Sollten die Eltern ihren Kindern das beibringen? | |
| Böhm: Man sollte die Verantwortung dafür nicht nur auf die Eltern | |
| abschieben. Vielleicht haben die selbst keinen Zugang zu Kultur oder sehen | |
| den Grund nicht, ins Theater zu gehen, weil ihre Geschichten nicht | |
| abgebildet werden – oder sie sich den Ticketpreis nicht leisten können. Es | |
| liegt in der Verantwortung der Politik, diese Barrieren abzubauen. | |
| taz: Dem entgegnen häufig Leute, dass sich Menschen der Arbeiterklasse | |
| einfach weniger für Kultur interessieren. | |
| Böhm: Das Argument regt mich so auf! Ich denke immer: „Ja, aber warum denn | |
| nicht?“ Überleg doch mal, warum die sich nicht interessieren. Weil sie sich | |
| nicht abgebildet sehen. Weil sie den Zugang dazu nie erlernt haben. | |
| taz: Hat die Literatur- und Kulturbranche also ein Klassismus-Problem? | |
| Böhm: Ja! Das äußert sich in ganz vielen Dimensionen. Zum einen sind da | |
| erst mal die Zugangsbarrieren. Wer kann überhaupt schreiben? Wer hat die | |
| finanziellen, zeitlichen, emotionalen Ressourcen zum Schreiben? Dann die | |
| Zugangsbarrieren zu Schreibschulinstituten. Eine andere große Frage ist: | |
| Wer wird ernst genommen? Wessen Geschichten dürfen erzählt werden, welche | |
| Geschichten sind wichtig oder gut genug, um verlegt und publiziert zu | |
| werden? Wer sitzt in Auswahlgremien? Wer entscheidet, wer ein Stipendium | |
| bekommt? | |
| taz: Und wer wäre das, aus Ihrer Sicht? | |
| Böhm: Mehrheitlich Menschen, die akademisiert und keine | |
| Arbeiter:innenkinder sind. Das sind Menschen, die vielleicht schon in | |
| Generationen in dieser Branche sind und Kultur und Literatur machen. | |
| taz: Sie schreiben in Ihrer Kolumne „Schamlinien“ über eigene | |
| Klassismus-Erfahrungen. Mit welchen Schamlinien wurden Sie schon | |
| konfrontierst? | |
| Böhm: Bei Scham denke ich viel an meine ersten Studienerfahrungen, weil ich | |
| ein Arbeiterkind bin und meine Eltern nicht studiert haben. Der ganze | |
| Uni-Kontext war für mich eine andere Welt. Ich weiß noch, wie ich mich | |
| unwohl und ich mich da fehl am Platz gefühlt habe. Das hat Scham ausgelöst, | |
| weil auch niemand darüber spricht. Ich dachte, mit mir selbst ist | |
| irgendetwas falsch, weil ich das System nicht verstehe. Wie soll ich mich | |
| anziehen? Was frage ich den Prof? Ich hatte niemanden, den ich fragen | |
| konnte, weil es in meinem Umfeld niemand wusste. Für die Scham, die das | |
| ausgelöst hat, finde ich jetzt erst im Nachhinein Worte. | |
| taz: Zum Beispiel auf Social Media? | |
| Böhm: Ja, auf jeden Fall. Als ich angefangen habe auf Instagram über | |
| Klassismus zu schreiben, habe ich viel Zuspruch bekommen. Menschen haben | |
| mir geschrieben, dass sie beim Lesen meiner Texte geweint haben, so sehr | |
| haben sie sich darin wiedergesehen. Social Media ist für mich ein Weg, | |
| Menschen niedrigschwellig zu erreichen, die sich sonst vielleicht eher | |
| nicht damit beschäftigen würden, die vielleicht keinen Zugang dazu haben | |
| oder denen die Sprache dafür fehlt. Gleichzeitig ist es auch ein Weg, Leute | |
| zu erreichen, die in der Branche tätig sind. | |
| taz: Auf Instagram haben Sie sich mittlerweile eine Community aufgebaut. | |
| Was bedeuten Community und Solidarität für Sie im Klassismus-Kontext? | |
| Böhm: Viel. Nur wenn sich Menschen zusammenschließen und Sachen anprangern, | |
| kann sich was verändern. Je mehr wir sind und je mehr Leute diese | |
| Missstände in der Branche aufzeigen, desto eher kommt es irgendwo oben an, | |
| was auch immer oben ist. | |
| taz: Etwas konkreter? | |
| Böhm: Grundsätzlich bist du in der Kulturbranche dazu angehalten, nicht | |
| über Geld zu sprechen, zu gatekeepen, keine Kontakte zu teilen. Die | |
| Rückbesinnung auf Solidarität ist superwichtig, weil die eben diese | |
| Mechanismen durchbricht. Dann fangen wir an, über Vorschüsse zu sprechen | |
| oder über Agenten, die einen schlecht behandeln. Ich finde es schön, dass | |
| es langsam ankommt und sich Banden bilden. | |
| 1 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Amelie Müller | |
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