# taz.de -- Ausstellung „Sunset“ in Bremen: Kosmische Katastrophen | |
> Seit das geozentrische Weltmodell außer Kurs ist, ist der Sonnenuntergang | |
> ein schiefes Bild: Die Bremer Kunsthalle widmet ihm die erste | |
> Ausstellung. | |
Bild: Jörg Sasse: Bad Salzuflen (Ausschnitt): Auch im Lipperland sind Sonnenun… | |
Wilde Sachen machen sie gerade in der Kunsthalle Bremen. Schon mal gleich | |
die eine Wand, rechts, im zweiten Raum des Rundgangs: Die haben sie doch | |
glatt mit der übelsten 1970er-Jahre-Fototapete gestaltet, abendlicher | |
Pazifik-Palmenstrand in geradezu brutalen Orangetönen; na, das kapierst | |
du noch, weil: Sonnenuntergang ist ja das Ausstellungsthema, und wer da | |
Angst vor Kitsch hat, kann es gleich lassen. | |
Aber dann im nächsten Raum, das ist schon ein kleiner Schreck, als der | |
Blick auf den Druck fällt, der die Reiter der Apokalypse zeigt – und der | |
zwar ordentlich in einer Reihe hängt mit anderen grafischen Blättern von | |
Hendrick Goltzius, Jacques Callot und Le Corbusier. Aber eben schräg, und | |
zwar in einem Winkel von geschätzt 30 Grad, als wäre jemand drangestoßen. | |
„Die Idee ist“, erklärt Kuratorin Annett Reckert, „die Bilder entlang na… | |
der Horizontlinie zu hängen“, also der bildimmanenten Horizontlinie, | |
wohlgemerkt, und Weisz hat diese, um die Untergangsdynamik zu verstärken, | |
gegen die Geometrie von Blatt und Druckstock nach links wegkippen lassen. | |
Der Bremer Kunstverein begeht 2023 sein 200-jähriges Bestehen. Und „Sunset. | |
Ein Hoch auf die sinkende Sonne“ bildet einen sowohl witzigen als auch | |
würdigen Auftakt mit hochkarätigen Leihgaben – Turner! Monet!!! Warhol! – | |
und sehr, sehr viel Unbekanntem: Offenbar hat es noch nie eine Kunstschau | |
zu diesem Motiv gegeben. | |
## Unerforschtes Abgedroschenes | |
Sie erfasst also erstmals und völlig neu einen Bildgegenstand, der als | |
Inbegriff des Abgedroschenen gilt und deswegen nie erkundet wurde: Weder | |
wissenschaftliche kanonisierungs- noch nachfragegesteuerte | |
Preisbildungssysteme haben die Abendstimmung bislang so Recht in den Griff | |
bekommen. | |
Das erlaubt der Ausstellung mit Erwartungen und Normen der Kunstrezeption | |
zu spielen, sowohl der laienhaften als auch der akademischen. Dieses Spiel | |
ist, wie jede originelle Form, erst mal leichter ex negativo zu erfassen: | |
Dass man „ausdrücklich keine Kunstgeschichte des Motivs Sonnenuntergang“ | |
habe konzipieren wollen, betont Reckert. | |
Wichtig ist ihr zudem, dass es eine Ausstellung über etwas sei, „das es gar | |
nicht gibt“: Seit Überwindung des geozentrischen Weltmodells ist die Rede | |
vom Sonnenuntergang ja vor allem ein schiefes Bild. Das einzige Ereignis, | |
das diesen Namen verdienen würde – wobei: Wo befänden sich dann oben und | |
unten? – wäre der Kollaps des Zentralgestirns unseres Planetensystems, „in | |
geschätzt vier Milliarden Jahren“. | |
Kuratorin Reckert legt nahe, die Arbeit, die alle | |
Ausstellungsbesucher*innen empfängt, als Vorgriff darauf zu sehen: | |
Eine dramatische, vom Weltraumteleskop Hubble erzeugte Fotografie hat | |
[1][die chronisch unterschätzte Bremer Medienkünstlerin] Marikke Heinz-Hoek | |
auf transparente Kunststofffolien abgezogen, was einen räumlich-leuchtenden | |
Eindruck erzeugt, ähnlich dem von Hinterglasmalerei. | |
In den Vordergrund dieses C-Prints hat sie mit schwarzem Fettstift eine | |
Flachlandschaft skizziert, Bäume, Feld, keine Erhebung. Und Rahmen gliedern | |
das Bild zum Triptychon: Ob das jetzt ein Blick aus der Stube durchs | |
Fenster irgendeiner Kate ist oder ein Hochaltar des Jüngsten Gerichts, | |
egal, es funktioniert als eine zeitgemäße Untergangs-Metapher. | |
Derart unvermessenes Terrain zu erkunden, erlaubt einen selbstbewusst | |
subjektiven kuratorischen Zugriff. Der macht Spaß: Cool ist die | |
Entscheidung, die Wandfarben der Ausstellungsräume Viktoria Binschtoks | |
„#sunset“ von 2019 zu entnehmen, einem Druck, der die Grundformel des | |
Sujets analysiert und zugleich verwirklicht. | |
Fantastisch ist zudem der Katalog, der den Positivistischen Anteil aufs | |
Nötigste eindampft und stattdessen Lyriker*innen das Feld überlässt: | |
Stars durchaus wie Marcel Beyer und Könnerinnen wie Cia Rinne antworten per | |
Gedicht auf ausgewählte bildnerische Positionen. Ein herausragender | |
poetischer Essay von Ulrike Draesner führt ins Projekt ein. | |
Schwächen hat der Ansatz freilich dort, wo es um Trennschärfe ginge. Zum | |
einen behauptet Reckert, „der Sonnenuntergang ist universell“ – dabei | |
bleibt es ein sehr westlicher Blick gen Westen, den sie inszeniert. | |
Andererseits bedeutet nicht nur da, wo Hoch und Tief in der kosmischen | |
Katastrophe verschmelzen, die Unterscheidung zwischen Auf- und Untergang | |
eine konzeptionelle Herausforderung. | |
Die wird allzu leichtfüßig übergangen, obwohl diese Ambivalenz der | |
Rezeptionsgeschichte einiger ausgestellter Werke eingeschrieben ist: Caspar | |
David Friedrichs 1818 entstandenes titelloses Gemälde, das mal als Frau vor | |
der untergehenden Sonne, mal als Frau im Morgenlicht bezeichnet wird – | |
geschenkt. | |
Aber das kunstvolle Dämmerlicht von Anna Anchers Gemälde „Trauer“ durch d… | |
Kontext naturalistisch zu vereindeutigen, das ja gerade nur einer | |
psychischen Wirklichkeit entstammt – da musst du schon schlucken. Und dort, | |
wo Mythologisches aufgegriffen wird, rechnet die Schau einfach jede | |
Endzeiterzählung dem Untergang zu. | |
Dabei kommt ja in der erwähnten biblischen Offenbarung die Sonne zwar vor, | |
schwarz, [2][zerkloppt und verfinstert]. Aber sie geht nicht unter, sie | |
wird noch nicht mal von Wölfen gefressen. Sie verschwindet bloß, weil im | |
himmlischen Jerusalem überflüssig. Und auch die von einem Kupferstich | |
illustrierte Story von Phaeton, dem Sohn des Sonnengottes, der mit Papas | |
Wagen einen Weltenbrand verursacht, handelt eher von einem scheiternden | |
Sonnenaufgang. | |
Umso toller ist, wie das Thema Wertvorstellungen durcheinanderwirbelt, | |
Großmaler relativiert und Entdeckungen ermöglicht. So werden Emil Noldes | |
Sonnenuntergänge im Kontext als pastös-großsprecherische Verwirklichungen | |
eines trivialen Bildschemas erkennbar, die eigentlich nur daran erinnern, | |
dass diesem schleswig-holsteinischen Meistermaler Geistigkeit und | |
Intelligenz suspekt waren. | |
Gewinner sind andere. Der kitschverdächtige Local Hero Julius Köhnholz | |
etwa, ein Landschaftsmaler, dessen Felsformationen im Alpenglühen so exakt | |
wirken, als wären sie mit einer hochauflösenden Kameratechnik erfasst, die | |
man sich 1871 wohl noch nicht einmal hätte ausmalen können. | |
## Ein Blick in die Hölle | |
Und auch jetzt noch rückt August Kopisch über den Rand des Vorstellbaren | |
hinaus: Fürs Bild „Die Pontinischen Sümpfe bei Sonnenuntergang“ war der | |
Malerpoet 1845 tatsächlich von Rom rausgefahren, die Via Appia runter an | |
den Rand des Tyrrhenischen Meers, dorthin, wo einst die Volsker gesiedelt | |
hatten, einen Ort der Katastrophen. Einen lebensfeindlichen Ort, der | |
„[3][Zwanzig bereits der Städte verschlungen]“ habe, wie es in Kopischs | |
Gedicht zum Thema heißt. | |
Jeder Verbalisierung trotzen hingegen die Farben seines Gemäldes, dieses | |
giftige Blau, das in schwefeliges Gelb übergeht und auf gerinnendes Blut | |
trifft, glühend und krank, als täte man einen Blick in die Hölle. | |
Vor gut zehn Jahren erst hat man in der Neuen Nationalgalerie begonnen, | |
seine visionäre Kraft auszuhalten. Vorher war es Depotware gewesen, | |
vergessen und auch du würdest es am liebsten verdrängen. Es macht Angst. | |
Dabei ist es doch bloß ein Sonnenuntergang. | |
4 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.marikke.de/ | |
[2] https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/offb8.html#12 | |
[3] https://www.google.de/books/edition/Gesammelte_Werke_von_August_Kopisch/1Z0… | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
## TAGS | |
Apokalypse | |
Sonne | |
Kunsthalle Bremen | |
Bremen | |
Italien | |
Klasse | |
Schwerpunkt Kunst und Kolonialismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Geburtstag des Kunstvereins in Bremen: Ein Hoch auf die Pauli-Bubble | |
Mit der großen Ausstellung „Geburtstagsgäste: Monet bis van Gogh“ feiert | |
der Kunstverein in Bremen sein 200-jähriges Bestehen. | |
Letzte Generation in Italien: Ultima Generazione suppt Van Gogh | |
Umweltaktivisten haben ein Gemälde in Rom mit Erbsensuppe begossen. Das | |
Bild war von einer Glasscheibe geschützt. | |
Wenn die Klasse entscheidet: Nach den Regeln der Kunst | |
Wer als Kreative:r erfolgreich sein will, muss Kunst verstehen – und | |
dafür ihre Codes beigebracht bekommen. Doch das ist eine Frage der Klasse. | |
Kunst und Kolonialismus: Expressionistischer Südseetraum | |
Mit einer Doppel-Ausstellung beginnt das Brücke-Museum die Aufarbeitung | |
seines kolonialen Erbes. Das ist in den Werken der Brücke bis heute | |
sichtbar. |